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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Die Alabunkerstraße

Dinge, die eigentlich von der Äbtissin behandelt werden sollten, die aber Gräfin
Eberstein ihr abgenommen hatte. Denn die Äbtissin war alt, älter als die meisten
Damen dachten. Schriftliche Arbeiten und alles, was eine gewisse Lebhaftigkeit
des Geistes verlangte, wurden ihr schwer. Und Gräfin Eberstein verstand es aus¬
gezeichnet, ihr alles Schwere abzunehmen und gut auszuführen. Deshalb hätte die
Äbtissin nicht ohne die Hilfe der Gräfin auskommen können, und wenn sie auch
manchmal etwas unter ihrer Tyrannei seufzte und gelegentlich etwas tat, was die
Gräfin nicht billigte, so ließ sie sich in den meisten Stücken von ihr beherrschen.

Wie gehts Ihrer Melitta? fragte Frau von Borkenhagen, nachdem sie einige¬
mal ihren Namen unterschrieben hatte, und die geschäftliche Konferenz erledigt war.

Es geht ihr gut, entgegnete die Gräfin, sie sucht sich eine Stellung und hat
bis jetzt nichts finden können. So näht sie sich einige Kleider, läuft spazieren und
trinkt Kaffee bei den Damen, die sie einladen.

Ich würde gern etwas für sie tun, sagte die Äbtissin zögernd. Ihr vielleicht
ein Kleid schenken oder so etwas. Was raten Sie, liebe Gräfin?

Ich würde sie nicht verwöhnen, Frau Äbtissin. Sie hat Anlage zum Übermut
und muß zur Bescheidenheit erzogen werden. Sie und Klaus Fuchsins gehören
eigentlich nicht hierher.

Die Äbtissin lächelte vor sich hin. Es war ihr immer ganz ergötzlich, zu
beobachten, daß Gräfin Eberstein sich über die Anwesenheit des jungen Mannes
ärgerte und diesen Verdruß täglich aussprach. Gerade dadurch bestärkte sie Frau
von Vorkenhagen in dem zufriedner Gefühl, einmal selbst ihren Willen durch¬
zusetzen.

Wir wollen von andern Dingen sprechen, liebe Gräfin, sagte sie abwehrend.
Wenn Sie erst um meinem Platze sind, werden Sie auch finden, daß man seinen
persönlichen Empfindungen nicht immer folgen darf.

Gewiß nicht! antwortete die Gräfin kühl.

Fran von Borkenhagen kramte in ihren Papieren.

Ja, liebe Betty, manchmal kommen mir doch sehr ernste Abschiedsgedanken,
und ich freue mich, eine so gute Nachfolgerin in Ihnen zu haben. Ein Jahr noch
gedenke ich den Krummstab zu halten, dann ziehe ich ans diesem großen Hause
aus und hoffentlich in Ihre Klosterwohnung, auf mein Altenteil. Das heißt, wenn
Gott mir dann noch das Leben schenkt!

Die alte Dame sprach wehmütig, die Gräfin antwortete einige freundliche
Worte, aber sie war diese Unterhaltungen gewohnt, und sie machten ihr keinen
großen Eindruck. Noch ein ganzes Jahr warten zu müssen, ehe sie selbst zur Ne¬
gierung käme, war ermüdend genng. Die Äbtissin nahm einen Brief in die Hand.

Sieglinde Treuenfels hat mir lang und ausführlich geschrieben. Wahrscheinlich
wird sie nächstens ihre leerstehende Wohnung im Kloster beziehen und Fühlung
mit den andern Damen suchen. Mit einigen hat sie es schon getan. Ich glaube,
sie trägt den brennenden Wunsch im Herzen, Äbtissin zu werden.

Betty Eberstein preßte die Lippen zusammen, um nicht zu antworten. Die
alte Äbtissin liebte es manchmal, zu necken, und wenn sie glaubte, Gräfin Eberstein
ein wenig erziehen zu müssen, dann suchte sie ihr klar zu machen, daß sie nicht
allzu sicher auf ihre Nachfolge rechnen dürfe. Aber sobald sie merkte, daß die
Gräfin gleichgiltig blieb, lenkte sie gleich wieder ein.

Nein nein, sagte sie jetzt eifrig, Fräulein von Treuenfels muß ihren Wunsch
zu Grabe tragen. Sie ist zwar klug und sehr gebildet; aber Sie, liebe Gräfin,
eignen sich doch besser zum Oberhaupt des Klosters. Schon weil Sie allen Be¬
dingungen entsprechen, die an eine Äbtissin gestellt werden. Neulich noch sprach
ich init unsern ältesten Stiftsdamen darüber, und sie waren ganz meiner Ansicht-
Die heutige Zeit rüttelt an allem Bestehenden und an mancher alten Tradition;
darin aber sind wir Ältesten des Klosters uns ganz einig, daß eine Äbtissin, die
im nächsten Jahre gewählt werden soll, ebensowenig verlobt oder verliebt gewesen
sein darf wie ich oder meine Vorgängerinnen.


Die Alabunkerstraße

Dinge, die eigentlich von der Äbtissin behandelt werden sollten, die aber Gräfin
Eberstein ihr abgenommen hatte. Denn die Äbtissin war alt, älter als die meisten
Damen dachten. Schriftliche Arbeiten und alles, was eine gewisse Lebhaftigkeit
des Geistes verlangte, wurden ihr schwer. Und Gräfin Eberstein verstand es aus¬
gezeichnet, ihr alles Schwere abzunehmen und gut auszuführen. Deshalb hätte die
Äbtissin nicht ohne die Hilfe der Gräfin auskommen können, und wenn sie auch
manchmal etwas unter ihrer Tyrannei seufzte und gelegentlich etwas tat, was die
Gräfin nicht billigte, so ließ sie sich in den meisten Stücken von ihr beherrschen.

Wie gehts Ihrer Melitta? fragte Frau von Borkenhagen, nachdem sie einige¬
mal ihren Namen unterschrieben hatte, und die geschäftliche Konferenz erledigt war.

Es geht ihr gut, entgegnete die Gräfin, sie sucht sich eine Stellung und hat
bis jetzt nichts finden können. So näht sie sich einige Kleider, läuft spazieren und
trinkt Kaffee bei den Damen, die sie einladen.

Ich würde gern etwas für sie tun, sagte die Äbtissin zögernd. Ihr vielleicht
ein Kleid schenken oder so etwas. Was raten Sie, liebe Gräfin?

Ich würde sie nicht verwöhnen, Frau Äbtissin. Sie hat Anlage zum Übermut
und muß zur Bescheidenheit erzogen werden. Sie und Klaus Fuchsins gehören
eigentlich nicht hierher.

Die Äbtissin lächelte vor sich hin. Es war ihr immer ganz ergötzlich, zu
beobachten, daß Gräfin Eberstein sich über die Anwesenheit des jungen Mannes
ärgerte und diesen Verdruß täglich aussprach. Gerade dadurch bestärkte sie Frau
von Vorkenhagen in dem zufriedner Gefühl, einmal selbst ihren Willen durch¬
zusetzen.

Wir wollen von andern Dingen sprechen, liebe Gräfin, sagte sie abwehrend.
Wenn Sie erst um meinem Platze sind, werden Sie auch finden, daß man seinen
persönlichen Empfindungen nicht immer folgen darf.

Gewiß nicht! antwortete die Gräfin kühl.

Fran von Borkenhagen kramte in ihren Papieren.

Ja, liebe Betty, manchmal kommen mir doch sehr ernste Abschiedsgedanken,
und ich freue mich, eine so gute Nachfolgerin in Ihnen zu haben. Ein Jahr noch
gedenke ich den Krummstab zu halten, dann ziehe ich ans diesem großen Hause
aus und hoffentlich in Ihre Klosterwohnung, auf mein Altenteil. Das heißt, wenn
Gott mir dann noch das Leben schenkt!

Die alte Dame sprach wehmütig, die Gräfin antwortete einige freundliche
Worte, aber sie war diese Unterhaltungen gewohnt, und sie machten ihr keinen
großen Eindruck. Noch ein ganzes Jahr warten zu müssen, ehe sie selbst zur Ne¬
gierung käme, war ermüdend genng. Die Äbtissin nahm einen Brief in die Hand.

Sieglinde Treuenfels hat mir lang und ausführlich geschrieben. Wahrscheinlich
wird sie nächstens ihre leerstehende Wohnung im Kloster beziehen und Fühlung
mit den andern Damen suchen. Mit einigen hat sie es schon getan. Ich glaube,
sie trägt den brennenden Wunsch im Herzen, Äbtissin zu werden.

Betty Eberstein preßte die Lippen zusammen, um nicht zu antworten. Die
alte Äbtissin liebte es manchmal, zu necken, und wenn sie glaubte, Gräfin Eberstein
ein wenig erziehen zu müssen, dann suchte sie ihr klar zu machen, daß sie nicht
allzu sicher auf ihre Nachfolge rechnen dürfe. Aber sobald sie merkte, daß die
Gräfin gleichgiltig blieb, lenkte sie gleich wieder ein.

Nein nein, sagte sie jetzt eifrig, Fräulein von Treuenfels muß ihren Wunsch
zu Grabe tragen. Sie ist zwar klug und sehr gebildet; aber Sie, liebe Gräfin,
eignen sich doch besser zum Oberhaupt des Klosters. Schon weil Sie allen Be¬
dingungen entsprechen, die an eine Äbtissin gestellt werden. Neulich noch sprach
ich init unsern ältesten Stiftsdamen darüber, und sie waren ganz meiner Ansicht-
Die heutige Zeit rüttelt an allem Bestehenden und an mancher alten Tradition;
darin aber sind wir Ältesten des Klosters uns ganz einig, daß eine Äbtissin, die
im nächsten Jahre gewählt werden soll, ebensowenig verlobt oder verliebt gewesen
sein darf wie ich oder meine Vorgängerinnen.


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[0246] Die Alabunkerstraße Dinge, die eigentlich von der Äbtissin behandelt werden sollten, die aber Gräfin Eberstein ihr abgenommen hatte. Denn die Äbtissin war alt, älter als die meisten Damen dachten. Schriftliche Arbeiten und alles, was eine gewisse Lebhaftigkeit des Geistes verlangte, wurden ihr schwer. Und Gräfin Eberstein verstand es aus¬ gezeichnet, ihr alles Schwere abzunehmen und gut auszuführen. Deshalb hätte die Äbtissin nicht ohne die Hilfe der Gräfin auskommen können, und wenn sie auch manchmal etwas unter ihrer Tyrannei seufzte und gelegentlich etwas tat, was die Gräfin nicht billigte, so ließ sie sich in den meisten Stücken von ihr beherrschen. Wie gehts Ihrer Melitta? fragte Frau von Borkenhagen, nachdem sie einige¬ mal ihren Namen unterschrieben hatte, und die geschäftliche Konferenz erledigt war. Es geht ihr gut, entgegnete die Gräfin, sie sucht sich eine Stellung und hat bis jetzt nichts finden können. So näht sie sich einige Kleider, läuft spazieren und trinkt Kaffee bei den Damen, die sie einladen. Ich würde gern etwas für sie tun, sagte die Äbtissin zögernd. Ihr vielleicht ein Kleid schenken oder so etwas. Was raten Sie, liebe Gräfin? Ich würde sie nicht verwöhnen, Frau Äbtissin. Sie hat Anlage zum Übermut und muß zur Bescheidenheit erzogen werden. Sie und Klaus Fuchsins gehören eigentlich nicht hierher. Die Äbtissin lächelte vor sich hin. Es war ihr immer ganz ergötzlich, zu beobachten, daß Gräfin Eberstein sich über die Anwesenheit des jungen Mannes ärgerte und diesen Verdruß täglich aussprach. Gerade dadurch bestärkte sie Frau von Vorkenhagen in dem zufriedner Gefühl, einmal selbst ihren Willen durch¬ zusetzen. Wir wollen von andern Dingen sprechen, liebe Gräfin, sagte sie abwehrend. Wenn Sie erst um meinem Platze sind, werden Sie auch finden, daß man seinen persönlichen Empfindungen nicht immer folgen darf. Gewiß nicht! antwortete die Gräfin kühl. Fran von Borkenhagen kramte in ihren Papieren. Ja, liebe Betty, manchmal kommen mir doch sehr ernste Abschiedsgedanken, und ich freue mich, eine so gute Nachfolgerin in Ihnen zu haben. Ein Jahr noch gedenke ich den Krummstab zu halten, dann ziehe ich ans diesem großen Hause aus und hoffentlich in Ihre Klosterwohnung, auf mein Altenteil. Das heißt, wenn Gott mir dann noch das Leben schenkt! Die alte Dame sprach wehmütig, die Gräfin antwortete einige freundliche Worte, aber sie war diese Unterhaltungen gewohnt, und sie machten ihr keinen großen Eindruck. Noch ein ganzes Jahr warten zu müssen, ehe sie selbst zur Ne¬ gierung käme, war ermüdend genng. Die Äbtissin nahm einen Brief in die Hand. Sieglinde Treuenfels hat mir lang und ausführlich geschrieben. Wahrscheinlich wird sie nächstens ihre leerstehende Wohnung im Kloster beziehen und Fühlung mit den andern Damen suchen. Mit einigen hat sie es schon getan. Ich glaube, sie trägt den brennenden Wunsch im Herzen, Äbtissin zu werden. Betty Eberstein preßte die Lippen zusammen, um nicht zu antworten. Die alte Äbtissin liebte es manchmal, zu necken, und wenn sie glaubte, Gräfin Eberstein ein wenig erziehen zu müssen, dann suchte sie ihr klar zu machen, daß sie nicht allzu sicher auf ihre Nachfolge rechnen dürfe. Aber sobald sie merkte, daß die Gräfin gleichgiltig blieb, lenkte sie gleich wieder ein. Nein nein, sagte sie jetzt eifrig, Fräulein von Treuenfels muß ihren Wunsch zu Grabe tragen. Sie ist zwar klug und sehr gebildet; aber Sie, liebe Gräfin, eignen sich doch besser zum Oberhaupt des Klosters. Schon weil Sie allen Be¬ dingungen entsprechen, die an eine Äbtissin gestellt werden. Neulich noch sprach ich init unsern ältesten Stiftsdamen darüber, und sie waren ganz meiner Ansicht- Die heutige Zeit rüttelt an allem Bestehenden und an mancher alten Tradition; darin aber sind wir Ältesten des Klosters uns ganz einig, daß eine Äbtissin, die im nächsten Jahre gewählt werden soll, ebensowenig verlobt oder verliebt gewesen sein darf wie ich oder meine Vorgängerinnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/246>, abgerufen am 01.07.2024.