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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Die Kunst der Frühgestorbneu

sie die Geschichtswissenschaft antiken und mittelalterlichen Quellenschriftstellern
gegenüber von altersher anwendet/ Dasselbe gilt für die ganze Memoiren¬
literatur der Zeit Bismarcks. Mit solcher Fülle strömt das neu veröffentlichte
Material aus uns nieder, daß zunächst alle Hände beschäftigt sind, auch nur
den Rahm davon abzuschöpfen. Nur mit Bismarcks Gedanken und Erinnerungen
ist von Marcks, Lenz und Kaemmcl der glänzende Anfang kritischer Unter,
snchungen gemacht worden. Von Bernhardts Nachrichten sind alle neuern
Darstellungen der großen Zeit gleichsam durchtränkt. Die Dankbarkeit aber für
den Reichtum des Gebotneu und die Scheu vor der nchtuuggebietenden Persön¬
lichkeit des Verfassers dürfen uns nicht abhalten, auch diese Autorität erst
""zuerkennen, wenn sie die Feuerprobe bestunden hat.




Die Kunst der Frühgestorbnen

eben den unerschöpflichen Meistern stehn rasch ausgeschöpfte:
ueben Tizian, Rembrandt und Goethe stehn Watteau, Hans
von Marees, Kleist und I. P. Jakobsen; der Stil des Alters
ueben der Kunstsprache der Frühgestorbnen.

Es gibt Frühgestorbne, die durch den Tod plötzlich und
unerwartet aus der Bahn ihrer Entwicklung geworfen worden sind; ihr Stil
hat nichts Gemeinsames, nnßer etwa das Merkmal des Unfertigen.

Dagegen läßt sich wohl von einem gemeinsamen Stile solcher Jung-
verstorbnen reden, deren künstlerisches Schaffe,? im Schatten des Todes stand,
des leiblichen oder des seelischen.

In der kurzen, ihnen vergönnten Spanne Arbeitszeit durchmessen sie mit
unerhörter Raschheit alle Entwicklungsstadien der Langelebenden. Die Knospe
verdrängt, kaum erschienen, den Keim, das Fruchttragen folgt dem Blühen,
und der Reife das Welken. Die Ahnung oder die Gewißheit eines schnellen
Endes zwingt ihnen diese" Lebensstil auf, und die gemeinsame Form der Ent¬
wicklung prägt so eine gemeinsame Kunstsprache der Frühgestorbneu.

Es gilt, diese verführerische Hypothese durch Beispiele zu stützen. Zwei
Maler und zwei Dichter -- die schon anfangs genannten -- mögen aus der
>^ahi junggestorbner Künstler im angedeuteten Sinne herausgegriffen werden.




Zu nichts haben die Frühgestorbneu Zeit, kaum zum Jungsein. Jugend
heißt ja Unreife, bedeutet Ansätze und Versprechen, die erst die Zukunft er¬
füllen soll und kann, ist die Zeit des Tastens und des Abwartens -- bei
alledem dürfen sich Menschen nicht aufhalten, für die es keine Zukunft gibt,
die alles, was ihnen zu leisten überhaupt möglich ist, bald, sofort tun müssen,
ehe es zu spät ist.


Die Kunst der Frühgestorbneu

sie die Geschichtswissenschaft antiken und mittelalterlichen Quellenschriftstellern
gegenüber von altersher anwendet/ Dasselbe gilt für die ganze Memoiren¬
literatur der Zeit Bismarcks. Mit solcher Fülle strömt das neu veröffentlichte
Material aus uns nieder, daß zunächst alle Hände beschäftigt sind, auch nur
den Rahm davon abzuschöpfen. Nur mit Bismarcks Gedanken und Erinnerungen
ist von Marcks, Lenz und Kaemmcl der glänzende Anfang kritischer Unter,
snchungen gemacht worden. Von Bernhardts Nachrichten sind alle neuern
Darstellungen der großen Zeit gleichsam durchtränkt. Die Dankbarkeit aber für
den Reichtum des Gebotneu und die Scheu vor der nchtuuggebietenden Persön¬
lichkeit des Verfassers dürfen uns nicht abhalten, auch diese Autorität erst
""zuerkennen, wenn sie die Feuerprobe bestunden hat.




Die Kunst der Frühgestorbnen

eben den unerschöpflichen Meistern stehn rasch ausgeschöpfte:
ueben Tizian, Rembrandt und Goethe stehn Watteau, Hans
von Marees, Kleist und I. P. Jakobsen; der Stil des Alters
ueben der Kunstsprache der Frühgestorbnen.

Es gibt Frühgestorbne, die durch den Tod plötzlich und
unerwartet aus der Bahn ihrer Entwicklung geworfen worden sind; ihr Stil
hat nichts Gemeinsames, nnßer etwa das Merkmal des Unfertigen.

Dagegen läßt sich wohl von einem gemeinsamen Stile solcher Jung-
verstorbnen reden, deren künstlerisches Schaffe,? im Schatten des Todes stand,
des leiblichen oder des seelischen.

In der kurzen, ihnen vergönnten Spanne Arbeitszeit durchmessen sie mit
unerhörter Raschheit alle Entwicklungsstadien der Langelebenden. Die Knospe
verdrängt, kaum erschienen, den Keim, das Fruchttragen folgt dem Blühen,
und der Reife das Welken. Die Ahnung oder die Gewißheit eines schnellen
Endes zwingt ihnen diese» Lebensstil auf, und die gemeinsame Form der Ent¬
wicklung prägt so eine gemeinsame Kunstsprache der Frühgestorbneu.

Es gilt, diese verführerische Hypothese durch Beispiele zu stützen. Zwei
Maler und zwei Dichter — die schon anfangs genannten — mögen aus der
>^ahi junggestorbner Künstler im angedeuteten Sinne herausgegriffen werden.




Zu nichts haben die Frühgestorbneu Zeit, kaum zum Jungsein. Jugend
heißt ja Unreife, bedeutet Ansätze und Versprechen, die erst die Zukunft er¬
füllen soll und kann, ist die Zeit des Tastens und des Abwartens — bei
alledem dürfen sich Menschen nicht aufhalten, für die es keine Zukunft gibt,
die alles, was ihnen zu leisten überhaupt möglich ist, bald, sofort tun müssen,
ehe es zu spät ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/227>, abgerufen am 22.07.2024.