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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Nordafrika während der Völkerwanderung gegangen ist: für sich selbst hatten
sie gesorgt, aber dem Heimatlande waren sie verloren. Wir haben in der
asiatischen Türkei vor allem dnrch Eisenbahn- und Hafenbauten große wirt¬
schaftliche Interessen geschaffen, aber politische Macht geben diese uns nicht,
und wenn sich England an der Mündung des Euphrat und des Tigris fest¬
setzt, was wird dann aus der Vagdadbahn? Unsre Handelsflotte ist die zweite
der Welt, unser Handel umspannt die Erde; aber bei einem Konflikt und einer
großen Seemacht würde, wie die Dinge jetzt stehn, diese Flotte bald vom
Meere weggefegt sein, und unser Handel wäre gelähmt. Kurz, wenn wir ehrlich
sein wollen und uns nicht durch hochtönende patriotische Phrasen, in denen
wir immer viel stärker gewesen sind als in patriotischen Taten, täuschen lassen,
so müssen wir uns sagen: das heutige Deutsche Reich steht in der Weltpolitik
höchstens da, wo Preußen in Europa vor 1866 stand.

Die Frage ist: soll es so bleiben, darf es so bleiben? Soll Deutschland
ruhig zusehen, wie auch Ostasien den drei Weltgroßmächten politisch und wirt¬
schaftlich anheimfällt, wie auch noch über die Türkei und über den Rest von
Afrika ohne uns verfügt wird? Sollen wir uns für alle Zeiten mit einem
kaufmännischen Unternehmergewinn begnügen, wir. ein Volk von 58 Millionen
allein im Reiche^

Die Frage stellen, heißt, sie verneinen. Schon zweimal hat Deutschland,
dank dem Weitblick des Kaisers, in die ostasiatische Frage eingegriffen, das
erstemal diplomatisch, das zweitemal militärisch; aber es vermochte das nur,
weil alle Mächte hier einig waren. Wird es stark genug sein, seine Interessen
hier zur Geltung zu bringen auch im Kampfe der Mächte? Leider kann man
nicht sagen, daß das Verständnis für die Schwierigkeiten unsrer Lage irgendwie
in breitern Schichten unsers Volks, ja mich nur der Gebildeten, vorhanden
Wäre. Parteiinteressen, soziale Spaltungen, kirchliche Zänkereien nehmen uns
ganz ungebührlich in Anspruch, und während wir uns über Reichsfinanz¬
reform, Wahlrechtsreformen, Bekämpfung der Sozialdemokratie, konfessionelle
Parität und dergleichen innere Fragen raufen, vergessen wir, ganz wie schon
einmal im sechzehnten Jahrhundert, daß da draußen die Welt verteilt wird,
und zwar, wenn das bei uns so fortgeht, wahrscheinlich wieder ohne uns.
Die Sache steht nicht soviel anders, als vor hundert Jahren, wo wir uns
über unsre politische Nichtigkeit damit trösteten, daß wir in Dichtung und
Wissenschaft an der Spitze der Zivilisation marschierten und das halb be¬
spöttelte, halb bewunderte Volk der Dichter und Denker waren. Die deutsche
Kulturarbeit in allen Ehren, aber eine selbständige Rolle wird eine nationale
Kultur erst dann spielen, wenn sie sich auf eine politische Macht stutzen kann.
Ohne die Machtstellung Frankreichs unter Ludwig dem Vierzehnten hatte tue
französische Bildung, die auch in die germanischen Völker etwas von der Grazie
und der Schönheit der romanischen Kulturen brachte, nicht anderthalb Jahr¬
hundert laug ihre Vorherrschaft in Europa behauptet, und die französische
Sprache niemals ihren Vorrang im diplomatischen Verkehr errungen. Auch
die griechische Kultur ist erst dnrch die makedonische Eroberung ins innere
Asiens bis nach Indien und China hin vorgedrungen, wie spater die römische


Grenzboten I 1904

Nordafrika während der Völkerwanderung gegangen ist: für sich selbst hatten
sie gesorgt, aber dem Heimatlande waren sie verloren. Wir haben in der
asiatischen Türkei vor allem dnrch Eisenbahn- und Hafenbauten große wirt¬
schaftliche Interessen geschaffen, aber politische Macht geben diese uns nicht,
und wenn sich England an der Mündung des Euphrat und des Tigris fest¬
setzt, was wird dann aus der Vagdadbahn? Unsre Handelsflotte ist die zweite
der Welt, unser Handel umspannt die Erde; aber bei einem Konflikt und einer
großen Seemacht würde, wie die Dinge jetzt stehn, diese Flotte bald vom
Meere weggefegt sein, und unser Handel wäre gelähmt. Kurz, wenn wir ehrlich
sein wollen und uns nicht durch hochtönende patriotische Phrasen, in denen
wir immer viel stärker gewesen sind als in patriotischen Taten, täuschen lassen,
so müssen wir uns sagen: das heutige Deutsche Reich steht in der Weltpolitik
höchstens da, wo Preußen in Europa vor 1866 stand.

Die Frage ist: soll es so bleiben, darf es so bleiben? Soll Deutschland
ruhig zusehen, wie auch Ostasien den drei Weltgroßmächten politisch und wirt¬
schaftlich anheimfällt, wie auch noch über die Türkei und über den Rest von
Afrika ohne uns verfügt wird? Sollen wir uns für alle Zeiten mit einem
kaufmännischen Unternehmergewinn begnügen, wir. ein Volk von 58 Millionen
allein im Reiche^

Die Frage stellen, heißt, sie verneinen. Schon zweimal hat Deutschland,
dank dem Weitblick des Kaisers, in die ostasiatische Frage eingegriffen, das
erstemal diplomatisch, das zweitemal militärisch; aber es vermochte das nur,
weil alle Mächte hier einig waren. Wird es stark genug sein, seine Interessen
hier zur Geltung zu bringen auch im Kampfe der Mächte? Leider kann man
nicht sagen, daß das Verständnis für die Schwierigkeiten unsrer Lage irgendwie
in breitern Schichten unsers Volks, ja mich nur der Gebildeten, vorhanden
Wäre. Parteiinteressen, soziale Spaltungen, kirchliche Zänkereien nehmen uns
ganz ungebührlich in Anspruch, und während wir uns über Reichsfinanz¬
reform, Wahlrechtsreformen, Bekämpfung der Sozialdemokratie, konfessionelle
Parität und dergleichen innere Fragen raufen, vergessen wir, ganz wie schon
einmal im sechzehnten Jahrhundert, daß da draußen die Welt verteilt wird,
und zwar, wenn das bei uns so fortgeht, wahrscheinlich wieder ohne uns.
Die Sache steht nicht soviel anders, als vor hundert Jahren, wo wir uns
über unsre politische Nichtigkeit damit trösteten, daß wir in Dichtung und
Wissenschaft an der Spitze der Zivilisation marschierten und das halb be¬
spöttelte, halb bewunderte Volk der Dichter und Denker waren. Die deutsche
Kulturarbeit in allen Ehren, aber eine selbständige Rolle wird eine nationale
Kultur erst dann spielen, wenn sie sich auf eine politische Macht stutzen kann.
Ohne die Machtstellung Frankreichs unter Ludwig dem Vierzehnten hatte tue
französische Bildung, die auch in die germanischen Völker etwas von der Grazie
und der Schönheit der romanischen Kulturen brachte, nicht anderthalb Jahr¬
hundert laug ihre Vorherrschaft in Europa behauptet, und die französische
Sprache niemals ihren Vorrang im diplomatischen Verkehr errungen. Auch
die griechische Kultur ist erst dnrch die makedonische Eroberung ins innere
Asiens bis nach Indien und China hin vorgedrungen, wie spater die römische


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[0207] Nordafrika während der Völkerwanderung gegangen ist: für sich selbst hatten sie gesorgt, aber dem Heimatlande waren sie verloren. Wir haben in der asiatischen Türkei vor allem dnrch Eisenbahn- und Hafenbauten große wirt¬ schaftliche Interessen geschaffen, aber politische Macht geben diese uns nicht, und wenn sich England an der Mündung des Euphrat und des Tigris fest¬ setzt, was wird dann aus der Vagdadbahn? Unsre Handelsflotte ist die zweite der Welt, unser Handel umspannt die Erde; aber bei einem Konflikt und einer großen Seemacht würde, wie die Dinge jetzt stehn, diese Flotte bald vom Meere weggefegt sein, und unser Handel wäre gelähmt. Kurz, wenn wir ehrlich sein wollen und uns nicht durch hochtönende patriotische Phrasen, in denen wir immer viel stärker gewesen sind als in patriotischen Taten, täuschen lassen, so müssen wir uns sagen: das heutige Deutsche Reich steht in der Weltpolitik höchstens da, wo Preußen in Europa vor 1866 stand. Die Frage ist: soll es so bleiben, darf es so bleiben? Soll Deutschland ruhig zusehen, wie auch Ostasien den drei Weltgroßmächten politisch und wirt¬ schaftlich anheimfällt, wie auch noch über die Türkei und über den Rest von Afrika ohne uns verfügt wird? Sollen wir uns für alle Zeiten mit einem kaufmännischen Unternehmergewinn begnügen, wir. ein Volk von 58 Millionen allein im Reiche^ Die Frage stellen, heißt, sie verneinen. Schon zweimal hat Deutschland, dank dem Weitblick des Kaisers, in die ostasiatische Frage eingegriffen, das erstemal diplomatisch, das zweitemal militärisch; aber es vermochte das nur, weil alle Mächte hier einig waren. Wird es stark genug sein, seine Interessen hier zur Geltung zu bringen auch im Kampfe der Mächte? Leider kann man nicht sagen, daß das Verständnis für die Schwierigkeiten unsrer Lage irgendwie in breitern Schichten unsers Volks, ja mich nur der Gebildeten, vorhanden Wäre. Parteiinteressen, soziale Spaltungen, kirchliche Zänkereien nehmen uns ganz ungebührlich in Anspruch, und während wir uns über Reichsfinanz¬ reform, Wahlrechtsreformen, Bekämpfung der Sozialdemokratie, konfessionelle Parität und dergleichen innere Fragen raufen, vergessen wir, ganz wie schon einmal im sechzehnten Jahrhundert, daß da draußen die Welt verteilt wird, und zwar, wenn das bei uns so fortgeht, wahrscheinlich wieder ohne uns. Die Sache steht nicht soviel anders, als vor hundert Jahren, wo wir uns über unsre politische Nichtigkeit damit trösteten, daß wir in Dichtung und Wissenschaft an der Spitze der Zivilisation marschierten und das halb be¬ spöttelte, halb bewunderte Volk der Dichter und Denker waren. Die deutsche Kulturarbeit in allen Ehren, aber eine selbständige Rolle wird eine nationale Kultur erst dann spielen, wenn sie sich auf eine politische Macht stutzen kann. Ohne die Machtstellung Frankreichs unter Ludwig dem Vierzehnten hatte tue französische Bildung, die auch in die germanischen Völker etwas von der Grazie und der Schönheit der romanischen Kulturen brachte, nicht anderthalb Jahr¬ hundert laug ihre Vorherrschaft in Europa behauptet, und die französische Sprache niemals ihren Vorrang im diplomatischen Verkehr errungen. Auch die griechische Kultur ist erst dnrch die makedonische Eroberung ins innere Asiens bis nach Indien und China hin vorgedrungen, wie spater die römische Grenzboten I 1904

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/207>, abgerufen am 01.07.2024.