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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

hat er sogar eigenhändig dazu gedichtet. Buddelmeyer, du sollst leben und der
ganz verrückte Musenbund daneben." Das gab dann begreiflicherweise eine unge¬
heure Heiterkeit. Es gab aber auch dem Museubnude den Todesstoß. Er schlief
allmählich ein. Wir erkannten die Torheit des Versuchs, Dichter zu züchten, zu
deutlich, als daß wir ihn ernstlich hätten fortsetzen sollen. Nur wir drei Freunde
trieben unsre poetischen Privatvergnügungen weiter und übersetzten namentlich auch
einzelne Stellen aus Virgil und Homer in Alexandrinern oder auch Ottaverimen.

Für die Schule wurde fleißig gearbeitet. Namentlich war es der Direktor,
dessen Sinn für klassische Schönheit und Poesie uns fesselte. Nur in der griechischen
Prosa traf er nicht immer den rechten Ton, uns für die gelesenen Schriftsteller zu
interessieren. Jsokrates war für uns der Gipfel der Langweiligkeit. Wir präpa¬
rierten uns mit Hilfe einer Übersetzung, aber der Inhalt dieser formvollendeten
Reden blieb uus gleichgiltig, ja im Grnnde ebenso verschlossen, wie die verständ¬
nisvolle Empfindung für die Schönheit der Sprachfvrm Zu unsrer Schande muß
ich bekennen, daß es uus mit Demosthenes nicht viel besser ging. Für die Person
des berühmten Redners hatten wir vielleicht etwas mehr übrig als für Jsokrates;
aber der Inhalt der Demosthenischen Reden ließ uns genau ebenso kalt. Ich kann
mir das nur daraus erklären, daß unser Direktor es unterließ, uns für den ge¬
schichtlichen Hintergrund dieser Reden, die Zeit Philipps und die nationalen Ge¬
fahren des Griechentums, lebendig zu interessieren. Eine Unterlassung, die ich mir
bei demi mit einem ziemlich sichern pädagogischen Instinkt ausgerüsteten geistvollen
Manne nicht zu erklären vermag. Vielleicht waren Jsokrates und Demosthenes
ihm selbst zu trocken.

Völlig anders war unser Verhältnis zu Plato. Ihn lasen wir mit dem leb¬
haftesten Interesse und und Lust. Ich kaun nicht behaupten, daß wir zu unsrer
Vorbereitung für die Klasse nicht auch bei der Lektüre des Plato eine deutsche
Übersetzung benutzt hätten. Aber die philosophischen Ideen Platos, das Daimonion
des Sokrates und dessen ganze Persönlichkeit interessierten uns und vielleicht auch
den Direktor bis ins Innerste. Die Stunden wurden zu lebhaften Disputatorien.
Ich behaupte nicht, daß diese Platostudien die Lücken ausgefüllt hätten, deren wir
uns in bezug ans eine einheitliche, ich will nur sagen plausible Weltanschauung wohl
bewußt waren. Dazu reichte der subjektivistische, ästhetisierende Theismus und
Idealismus unsers Direktors nicht aus. Aber es war doch ein heißes Verlangen
in uns, auf dem Wege philosophischer Spekulation der Erkenntnis der Wahrheit
nachzujagen. Diesem Verlangen trug der Direktor in den Platostunden Rechnung.
Daß uns diese Dinge wirklich interessierten, war, pädagogisch angesehen, schon ein
großer Gewinn. Freilich standen wir zum Direktor auch uicht so, daß wir ihm
mit unsern Zweifeln und innerlichen Nöten direkt auf den Leib gerückt wären.
Dazu taxierten wir seine religiöse Stellung -- damals vielleicht nicht ganz mit
Unrecht -- nicht als sicher und tief genug. Wir achteten ihn als Lehrer, wir
respektierten seinen Idealismus, uns gefielen seine weltförmigen, guten Manieren
und die Gewandtheit seines Auftretens, wir liebten seinen Humor und seine witzigen
Bemerkungen, wir waren ihm dankbar zugetan für die reichen Gaben, die wir von
ihm empfingen; aber unser eigentlicher Vertrauensmann für unsre Zweifel und
Gewissensnöte war er nicht. Professor Gvßrau hätte vielleicht dieser Vertrauens¬
mann für uus werden können; aber er unterrichtete in Prima überhaupt nicht, und
wenn wir ihm anch nicht gerade völlig entfremdet waren, so war er uns doch nicht
mehr nahe genug, daß wir uns mit unsern persönlichsten Gewissensgeheimnissen an
ihn herangewagt hätten. So hatten wir keinen einzigen vollen Vertrauensmann
unter den Lehrern. Das war nicht gut. Wir waren gesunde, fröhliche und recht
leichtsinnige Jungen. Aus Weltschmerz und Pessimismus hätte sich damals keiner
von uns eine Kugel durch deu Kopf gejagt. Aber schade war es doch, daß wir
niemand hatten, dem wir selbst unsre Führung durch das Labyrinth der eigentlich
großen, entscheidenden Lebensfragen anzuvertrauen uns getrauten.


Aus der Jugendzeit

hat er sogar eigenhändig dazu gedichtet. Buddelmeyer, du sollst leben und der
ganz verrückte Musenbund daneben." Das gab dann begreiflicherweise eine unge¬
heure Heiterkeit. Es gab aber auch dem Museubnude den Todesstoß. Er schlief
allmählich ein. Wir erkannten die Torheit des Versuchs, Dichter zu züchten, zu
deutlich, als daß wir ihn ernstlich hätten fortsetzen sollen. Nur wir drei Freunde
trieben unsre poetischen Privatvergnügungen weiter und übersetzten namentlich auch
einzelne Stellen aus Virgil und Homer in Alexandrinern oder auch Ottaverimen.

Für die Schule wurde fleißig gearbeitet. Namentlich war es der Direktor,
dessen Sinn für klassische Schönheit und Poesie uns fesselte. Nur in der griechischen
Prosa traf er nicht immer den rechten Ton, uns für die gelesenen Schriftsteller zu
interessieren. Jsokrates war für uns der Gipfel der Langweiligkeit. Wir präpa¬
rierten uns mit Hilfe einer Übersetzung, aber der Inhalt dieser formvollendeten
Reden blieb uus gleichgiltig, ja im Grnnde ebenso verschlossen, wie die verständ¬
nisvolle Empfindung für die Schönheit der Sprachfvrm Zu unsrer Schande muß
ich bekennen, daß es uus mit Demosthenes nicht viel besser ging. Für die Person
des berühmten Redners hatten wir vielleicht etwas mehr übrig als für Jsokrates;
aber der Inhalt der Demosthenischen Reden ließ uns genau ebenso kalt. Ich kann
mir das nur daraus erklären, daß unser Direktor es unterließ, uns für den ge¬
schichtlichen Hintergrund dieser Reden, die Zeit Philipps und die nationalen Ge¬
fahren des Griechentums, lebendig zu interessieren. Eine Unterlassung, die ich mir
bei demi mit einem ziemlich sichern pädagogischen Instinkt ausgerüsteten geistvollen
Manne nicht zu erklären vermag. Vielleicht waren Jsokrates und Demosthenes
ihm selbst zu trocken.

Völlig anders war unser Verhältnis zu Plato. Ihn lasen wir mit dem leb¬
haftesten Interesse und und Lust. Ich kaun nicht behaupten, daß wir zu unsrer
Vorbereitung für die Klasse nicht auch bei der Lektüre des Plato eine deutsche
Übersetzung benutzt hätten. Aber die philosophischen Ideen Platos, das Daimonion
des Sokrates und dessen ganze Persönlichkeit interessierten uns und vielleicht auch
den Direktor bis ins Innerste. Die Stunden wurden zu lebhaften Disputatorien.
Ich behaupte nicht, daß diese Platostudien die Lücken ausgefüllt hätten, deren wir
uns in bezug ans eine einheitliche, ich will nur sagen plausible Weltanschauung wohl
bewußt waren. Dazu reichte der subjektivistische, ästhetisierende Theismus und
Idealismus unsers Direktors nicht aus. Aber es war doch ein heißes Verlangen
in uns, auf dem Wege philosophischer Spekulation der Erkenntnis der Wahrheit
nachzujagen. Diesem Verlangen trug der Direktor in den Platostunden Rechnung.
Daß uns diese Dinge wirklich interessierten, war, pädagogisch angesehen, schon ein
großer Gewinn. Freilich standen wir zum Direktor auch uicht so, daß wir ihm
mit unsern Zweifeln und innerlichen Nöten direkt auf den Leib gerückt wären.
Dazu taxierten wir seine religiöse Stellung — damals vielleicht nicht ganz mit
Unrecht — nicht als sicher und tief genug. Wir achteten ihn als Lehrer, wir
respektierten seinen Idealismus, uns gefielen seine weltförmigen, guten Manieren
und die Gewandtheit seines Auftretens, wir liebten seinen Humor und seine witzigen
Bemerkungen, wir waren ihm dankbar zugetan für die reichen Gaben, die wir von
ihm empfingen; aber unser eigentlicher Vertrauensmann für unsre Zweifel und
Gewissensnöte war er nicht. Professor Gvßrau hätte vielleicht dieser Vertrauens¬
mann für uus werden können; aber er unterrichtete in Prima überhaupt nicht, und
wenn wir ihm anch nicht gerade völlig entfremdet waren, so war er uns doch nicht
mehr nahe genug, daß wir uns mit unsern persönlichsten Gewissensgeheimnissen an
ihn herangewagt hätten. So hatten wir keinen einzigen vollen Vertrauensmann
unter den Lehrern. Das war nicht gut. Wir waren gesunde, fröhliche und recht
leichtsinnige Jungen. Aus Weltschmerz und Pessimismus hätte sich damals keiner
von uns eine Kugel durch deu Kopf gejagt. Aber schade war es doch, daß wir
niemand hatten, dem wir selbst unsre Führung durch das Labyrinth der eigentlich
großen, entscheidenden Lebensfragen anzuvertrauen uns getrauten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/796>, abgerufen am 24.08.2024.