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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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(Line Inselreihe durch das griechische Aleer
Friedrich Seiler von
^. Areta und Melos

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hMjährend Thera in landschaftlicher Beziehung die interessanteste
Insel des griechischen Meeres ist, ist es geschichtlich betrachtet
Kreta, Kreta hat, schon weil es die bedeutendste und wichtigste
der hellenischen Inseln ist, die längste, verwickeltste, an blutigen
Umwälzungen, heroischen Taten und erschütternden Katastrophen
! reichste Geschichte. Sie hat, ähnlich wie Sizilien, einen schweren
Leidensweg durch die Jahrtausende gehn müssen, hat es nur in den ältesten
Zeiten zu Selbständigkeit und Macht gebracht, ist dann immer der Zankapfel
Fremder gewesen und in allen ihren Teilen überreichlich mit Blut getränkt
worden.

Die ältesten Bewohner, die sogenannten Eteokreter oder "echten Kreter,"
waren unbekannter Herkunft. Unser Reisegenosse, der Professor der antiken Geo¬
graphie Sieglin, der sich zu ethnographischen Zwecken ganz besonders das
Studium der Haare und des Teints angelegen sein ließ, nicht nur bei deu
lebenden Menschen sondern auch bei bemalten Statuen -- er erklärte die echten
alten Griechen für ein blondes Volk --, war entzückt, in dem Teile der
Insel, den wir besuchten, fast ausschließlich schwarz- und straffhaarige Menschen
zu sehen, und glaubte an diesen und ähnlichen Kennzeichen die alte eteo-
kretische Rasse zu erkennen. Die griechischen Kolonisten, die spater die Insel be¬
siedelten, waren zuerst achäischen, dann dorischen Stammes. Die Dorier bildeten
eine eigentümliche Staats- und Lebensverfassung aus, die später der bekannten
spartanischen, die den Namen Lykurgs trügt, zum Muster diente.

Unter den zahlreichen einzelnen Königreichen war im heroischen Zeitalter
das mächtigste das des Minos in Knossos, der die Seeherrschaft der Phöniker
brach und eine eigne an deren Stelle setzte. Er war "der Gerechteste der
Sterblichen" und wurde zum Lohne dafür in der Unterwelt zum Toteurichter
ernannt. Bekanntlich ist er auch der Erbauer des Labyrinths, worin der
schreckliche "Minosstier," der Minotauros -- halb Stier, halb Mensch
hauste, dem die Athener jährlich sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen
opfern mußten, bis der wackre Theseus seiner Menschenfresserei mit Hilfe der
nachher so treulos verlassenen Ariadne und ihres sprichwörtlich gewordnen
Fadens ein Ende bereitete. Der Baukünstler, dessen sich Minos bediente, war
der berühmte Dädalos, den Minos später, weil er der Ariadne den rettenden
Faden gegeben hatte, selbst in das vielverschlungne Gebäude einschloß. Der
König ahnte ja nichts von seinem wahrhaft künstlerischen Flug und konnte
also nicht vermuten, daß ihm sein Gefangner mit wachsgefügten Flügeln durch
die Luft davongehn würde, wobei freilich sein Sohn Ikaros, weil er der
Sonne zu nahe kam, mit aufgelösten Flügeln ins Meer stürzte -- ein das
echte und das unechte Künstlertum in unübertrefflicher Weise symbolisierender
Mythus.

Diese Andeutungen mögen genügen, zu zeigen, welcher reiche Sagenslor
auf dem Boden der "hundertstädtigen" Insel erblühte. Denn so viele Städte




(Line Inselreihe durch das griechische Aleer
Friedrich Seiler von
^. Areta und Melos

M
hMjährend Thera in landschaftlicher Beziehung die interessanteste
Insel des griechischen Meeres ist, ist es geschichtlich betrachtet
Kreta, Kreta hat, schon weil es die bedeutendste und wichtigste
der hellenischen Inseln ist, die längste, verwickeltste, an blutigen
Umwälzungen, heroischen Taten und erschütternden Katastrophen
! reichste Geschichte. Sie hat, ähnlich wie Sizilien, einen schweren
Leidensweg durch die Jahrtausende gehn müssen, hat es nur in den ältesten
Zeiten zu Selbständigkeit und Macht gebracht, ist dann immer der Zankapfel
Fremder gewesen und in allen ihren Teilen überreichlich mit Blut getränkt
worden.

Die ältesten Bewohner, die sogenannten Eteokreter oder „echten Kreter,"
waren unbekannter Herkunft. Unser Reisegenosse, der Professor der antiken Geo¬
graphie Sieglin, der sich zu ethnographischen Zwecken ganz besonders das
Studium der Haare und des Teints angelegen sein ließ, nicht nur bei deu
lebenden Menschen sondern auch bei bemalten Statuen — er erklärte die echten
alten Griechen für ein blondes Volk —, war entzückt, in dem Teile der
Insel, den wir besuchten, fast ausschließlich schwarz- und straffhaarige Menschen
zu sehen, und glaubte an diesen und ähnlichen Kennzeichen die alte eteo-
kretische Rasse zu erkennen. Die griechischen Kolonisten, die spater die Insel be¬
siedelten, waren zuerst achäischen, dann dorischen Stammes. Die Dorier bildeten
eine eigentümliche Staats- und Lebensverfassung aus, die später der bekannten
spartanischen, die den Namen Lykurgs trügt, zum Muster diente.

Unter den zahlreichen einzelnen Königreichen war im heroischen Zeitalter
das mächtigste das des Minos in Knossos, der die Seeherrschaft der Phöniker
brach und eine eigne an deren Stelle setzte. Er war „der Gerechteste der
Sterblichen" und wurde zum Lohne dafür in der Unterwelt zum Toteurichter
ernannt. Bekanntlich ist er auch der Erbauer des Labyrinths, worin der
schreckliche „Minosstier," der Minotauros — halb Stier, halb Mensch
hauste, dem die Athener jährlich sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen
opfern mußten, bis der wackre Theseus seiner Menschenfresserei mit Hilfe der
nachher so treulos verlassenen Ariadne und ihres sprichwörtlich gewordnen
Fadens ein Ende bereitete. Der Baukünstler, dessen sich Minos bediente, war
der berühmte Dädalos, den Minos später, weil er der Ariadne den rettenden
Faden gegeben hatte, selbst in das vielverschlungne Gebäude einschloß. Der
König ahnte ja nichts von seinem wahrhaft künstlerischen Flug und konnte
also nicht vermuten, daß ihm sein Gefangner mit wachsgefügten Flügeln durch
die Luft davongehn würde, wobei freilich sein Sohn Ikaros, weil er der
Sonne zu nahe kam, mit aufgelösten Flügeln ins Meer stürzte — ein das
echte und das unechte Künstlertum in unübertrefflicher Weise symbolisierender
Mythus.

Diese Andeutungen mögen genügen, zu zeigen, welcher reiche Sagenslor
auf dem Boden der „hundertstädtigen" Insel erblühte. Denn so viele Städte


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[0780] [Abbildung] (Line Inselreihe durch das griechische Aleer Friedrich Seiler von ^. Areta und Melos M hMjährend Thera in landschaftlicher Beziehung die interessanteste Insel des griechischen Meeres ist, ist es geschichtlich betrachtet Kreta, Kreta hat, schon weil es die bedeutendste und wichtigste der hellenischen Inseln ist, die längste, verwickeltste, an blutigen Umwälzungen, heroischen Taten und erschütternden Katastrophen ! reichste Geschichte. Sie hat, ähnlich wie Sizilien, einen schweren Leidensweg durch die Jahrtausende gehn müssen, hat es nur in den ältesten Zeiten zu Selbständigkeit und Macht gebracht, ist dann immer der Zankapfel Fremder gewesen und in allen ihren Teilen überreichlich mit Blut getränkt worden. Die ältesten Bewohner, die sogenannten Eteokreter oder „echten Kreter," waren unbekannter Herkunft. Unser Reisegenosse, der Professor der antiken Geo¬ graphie Sieglin, der sich zu ethnographischen Zwecken ganz besonders das Studium der Haare und des Teints angelegen sein ließ, nicht nur bei deu lebenden Menschen sondern auch bei bemalten Statuen — er erklärte die echten alten Griechen für ein blondes Volk —, war entzückt, in dem Teile der Insel, den wir besuchten, fast ausschließlich schwarz- und straffhaarige Menschen zu sehen, und glaubte an diesen und ähnlichen Kennzeichen die alte eteo- kretische Rasse zu erkennen. Die griechischen Kolonisten, die spater die Insel be¬ siedelten, waren zuerst achäischen, dann dorischen Stammes. Die Dorier bildeten eine eigentümliche Staats- und Lebensverfassung aus, die später der bekannten spartanischen, die den Namen Lykurgs trügt, zum Muster diente. Unter den zahlreichen einzelnen Königreichen war im heroischen Zeitalter das mächtigste das des Minos in Knossos, der die Seeherrschaft der Phöniker brach und eine eigne an deren Stelle setzte. Er war „der Gerechteste der Sterblichen" und wurde zum Lohne dafür in der Unterwelt zum Toteurichter ernannt. Bekanntlich ist er auch der Erbauer des Labyrinths, worin der schreckliche „Minosstier," der Minotauros — halb Stier, halb Mensch hauste, dem die Athener jährlich sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen opfern mußten, bis der wackre Theseus seiner Menschenfresserei mit Hilfe der nachher so treulos verlassenen Ariadne und ihres sprichwörtlich gewordnen Fadens ein Ende bereitete. Der Baukünstler, dessen sich Minos bediente, war der berühmte Dädalos, den Minos später, weil er der Ariadne den rettenden Faden gegeben hatte, selbst in das vielverschlungne Gebäude einschloß. Der König ahnte ja nichts von seinem wahrhaft künstlerischen Flug und konnte also nicht vermuten, daß ihm sein Gefangner mit wachsgefügten Flügeln durch die Luft davongehn würde, wobei freilich sein Sohn Ikaros, weil er der Sonne zu nahe kam, mit aufgelösten Flügeln ins Meer stürzte — ein das echte und das unechte Künstlertum in unübertrefflicher Weise symbolisierender Mythus. Diese Andeutungen mögen genügen, zu zeigen, welcher reiche Sagenslor auf dem Boden der „hundertstädtigen" Insel erblühte. Denn so viele Städte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/780>, abgerufen am 22.07.2024.