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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

Während die Frau ihr Klagelied sang, hatte ich mich im Zimmer umgesehen,
Tisch und Dielen waren blitzblank, und das ganze Zimmer war aufgeräumt und
feiertagsmäßig hergerichtet. Und daun hatte ich meine Blicke auf das verfallne
Antlitz des Meisters geworfen, der in seinem Bett lag und mich mit unruhigen
Augen beobachtete. Die Frau sprach jetzt eigentlich anders, als sie geschrieben hatte,
und ich war schon im Begriff gewesen, meine Unzufriedenheit zu äußern und thuen
zu sagen, daß man einen Gesellen doch nicht erst weit herhole und ihm dann schon
bei seinem Eintritt wieder die Ausgangspforte zeige. Nachdem ich aber in das
sorgenvolle Gesicht der Frau, auf das Trüpplein der Kinder, das mit großen Augen
nach dem fremden Menschen herüberschaute, und endlich auf das stille und stumme
Sterben auf dem Krankenbett gesehen hatte, schluckte ich den Verdruß hinunter und
mußte in mich hineinlächelu, als ich die Ursache dieses unfreundlichen Empfangs
erkannte. Ich war in meiner städtischen Kleidung und im Sonntagsrock zu ihnen
gekommen, auch mochte Wohl noch ein Schimmer von dem Glücksgefühl, worin ich
vorhin gewandert war, auf meinem Gesicht zu sehen gewesen sein. Obgleich also
an mir nichts mehr von der Pracht war, die dem Meister Liebezeit vormals fröh¬
liche Stunden bereitet hatte, keine Blume mehr in meinem Knopfloch blühte, auch
keine silberne Kette mehr an mir funkelte, so war mein Aufzug für dieses arme
Haus dennoch zu prächtig ausgefallen, und die Leute waren im Rechte, wenn sie
bei sich überlegten, wie der Bruder wohl dazu komme, ihnen eine solche Herrlichkeit
von Gesellen auf den Hals zu schicken. So beruhigte ich sie also, und da ich
für niemand als mich zu sorgen hatte und mich auf Zukunftspläne nicht mehr ein¬
lassen konnte, so setzte ich den mit meinem vorigen Meister verabredeten Lohn aus
eigner Macht sogleich um ein beträchtliches herunter. Zur Erklärung meiner niedrigen
Forderung aber murmelte ich mit dem Hinweis auf meine Papiere, die mich als
einen brnstkranken Menschen schilderten, etwas davon, daß ich die Stelle nur an¬
genommen hätte, um ebenso wie die reichen Leute einmal etwas für meine Gesund¬
heit zu tun, mußte diese Erklärung freilich sofort wieder abschwächen, da sich die
Eheleute, denen offenbar mit der Aussicht auf ein zweites Krankenbett nicht sonderlich
gedient war, von neuem verlegen ansahen. So sagte ich ihnen denn, sie hätten
nicht zu befürchten, daß ich ihnen mit meinem Leiden zur Last falle" würde, und
wir könnten es getrost auf eine Weile miteinander versuchen. Es gefalle mir in
dem Dorf und bei ihnen gut, und ich würde keine Ansprüche machen, sondern mit
dem guten Willen zufrieden sein. Als die Meisterin gewahr wurde, daß sie es
mit einem ganz bescheidnen Menschlein zu tun hatte, das es noch dazu für ein
Glück und eine Gnade ansah, hier oben in den Bergen die Nadel führen zu dürfen,
wurde sie über dem angenehmen Gefühl, eine Wohltat auszuüben, die gute
Zinsen tragen werde, froh und munter, zeigte mir freundlich mein Stübchen
im obern Stockwerk und brachte den Tag zu einem so guten Ende, als ich es
nur wünschen konnte.

Dennoch konnte ich, so müde ich war, lange keinen Schlaf finden. Das Herz
klopfte mir unruhig in der Brust, die Augen wollten nicht zufallen und gingen,
wenn ich sie mit Gewalt schloß, immer wieder ans. Und endlich zog meine Seele
wie wachend in die Traumwelt hinein, eine wunderbare, große wirre Welt, in der
mir nichts vertraut war, sondern mich alles fremd und seltsam anmutete. Ich er¬
wachte bald wieder. Draußen rauschte der Wildbach dicht unter dem Hause durch
die mondbeglcinzten Wiesen, und langsam löste sich vor meinen Augen aus Nebel-
schleiern der Silberglanz eines Schneeberges heraus, der nur in weiter Ferne und
still wie ein Traumbild zwischen den goldnen Sternen schwebte. Mit großen Auge"
schaute ich in diesen Glanz und bedachte dabei, wer ich selber war, bis mir die
Augen übergingen, und ich rin wehem Herzen einschlief.

Mit meinen Schneidersleuten kam ich schnell in ein gutes Verhältnis. Der
Meister war Wohl einmal ein hübscher und fröhlicher Mann gewesen, wie es sein
Bruder, der freilich auch auf eine nahrhaftere Stelle geraten war, noch immer


Zwei Seelen

Während die Frau ihr Klagelied sang, hatte ich mich im Zimmer umgesehen,
Tisch und Dielen waren blitzblank, und das ganze Zimmer war aufgeräumt und
feiertagsmäßig hergerichtet. Und daun hatte ich meine Blicke auf das verfallne
Antlitz des Meisters geworfen, der in seinem Bett lag und mich mit unruhigen
Augen beobachtete. Die Frau sprach jetzt eigentlich anders, als sie geschrieben hatte,
und ich war schon im Begriff gewesen, meine Unzufriedenheit zu äußern und thuen
zu sagen, daß man einen Gesellen doch nicht erst weit herhole und ihm dann schon
bei seinem Eintritt wieder die Ausgangspforte zeige. Nachdem ich aber in das
sorgenvolle Gesicht der Frau, auf das Trüpplein der Kinder, das mit großen Augen
nach dem fremden Menschen herüberschaute, und endlich auf das stille und stumme
Sterben auf dem Krankenbett gesehen hatte, schluckte ich den Verdruß hinunter und
mußte in mich hineinlächelu, als ich die Ursache dieses unfreundlichen Empfangs
erkannte. Ich war in meiner städtischen Kleidung und im Sonntagsrock zu ihnen
gekommen, auch mochte Wohl noch ein Schimmer von dem Glücksgefühl, worin ich
vorhin gewandert war, auf meinem Gesicht zu sehen gewesen sein. Obgleich also
an mir nichts mehr von der Pracht war, die dem Meister Liebezeit vormals fröh¬
liche Stunden bereitet hatte, keine Blume mehr in meinem Knopfloch blühte, auch
keine silberne Kette mehr an mir funkelte, so war mein Aufzug für dieses arme
Haus dennoch zu prächtig ausgefallen, und die Leute waren im Rechte, wenn sie
bei sich überlegten, wie der Bruder wohl dazu komme, ihnen eine solche Herrlichkeit
von Gesellen auf den Hals zu schicken. So beruhigte ich sie also, und da ich
für niemand als mich zu sorgen hatte und mich auf Zukunftspläne nicht mehr ein¬
lassen konnte, so setzte ich den mit meinem vorigen Meister verabredeten Lohn aus
eigner Macht sogleich um ein beträchtliches herunter. Zur Erklärung meiner niedrigen
Forderung aber murmelte ich mit dem Hinweis auf meine Papiere, die mich als
einen brnstkranken Menschen schilderten, etwas davon, daß ich die Stelle nur an¬
genommen hätte, um ebenso wie die reichen Leute einmal etwas für meine Gesund¬
heit zu tun, mußte diese Erklärung freilich sofort wieder abschwächen, da sich die
Eheleute, denen offenbar mit der Aussicht auf ein zweites Krankenbett nicht sonderlich
gedient war, von neuem verlegen ansahen. So sagte ich ihnen denn, sie hätten
nicht zu befürchten, daß ich ihnen mit meinem Leiden zur Last falle» würde, und
wir könnten es getrost auf eine Weile miteinander versuchen. Es gefalle mir in
dem Dorf und bei ihnen gut, und ich würde keine Ansprüche machen, sondern mit
dem guten Willen zufrieden sein. Als die Meisterin gewahr wurde, daß sie es
mit einem ganz bescheidnen Menschlein zu tun hatte, das es noch dazu für ein
Glück und eine Gnade ansah, hier oben in den Bergen die Nadel führen zu dürfen,
wurde sie über dem angenehmen Gefühl, eine Wohltat auszuüben, die gute
Zinsen tragen werde, froh und munter, zeigte mir freundlich mein Stübchen
im obern Stockwerk und brachte den Tag zu einem so guten Ende, als ich es
nur wünschen konnte.

Dennoch konnte ich, so müde ich war, lange keinen Schlaf finden. Das Herz
klopfte mir unruhig in der Brust, die Augen wollten nicht zufallen und gingen,
wenn ich sie mit Gewalt schloß, immer wieder ans. Und endlich zog meine Seele
wie wachend in die Traumwelt hinein, eine wunderbare, große wirre Welt, in der
mir nichts vertraut war, sondern mich alles fremd und seltsam anmutete. Ich er¬
wachte bald wieder. Draußen rauschte der Wildbach dicht unter dem Hause durch
die mondbeglcinzten Wiesen, und langsam löste sich vor meinen Augen aus Nebel-
schleiern der Silberglanz eines Schneeberges heraus, der nur in weiter Ferne und
still wie ein Traumbild zwischen den goldnen Sternen schwebte. Mit großen Auge"
schaute ich in diesen Glanz und bedachte dabei, wer ich selber war, bis mir die
Augen übergingen, und ich rin wehem Herzen einschlief.

Mit meinen Schneidersleuten kam ich schnell in ein gutes Verhältnis. Der
Meister war Wohl einmal ein hübscher und fröhlicher Mann gewesen, wie es sein
Bruder, der freilich auch auf eine nahrhaftere Stelle geraten war, noch immer


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[0736] Zwei Seelen Während die Frau ihr Klagelied sang, hatte ich mich im Zimmer umgesehen, Tisch und Dielen waren blitzblank, und das ganze Zimmer war aufgeräumt und feiertagsmäßig hergerichtet. Und daun hatte ich meine Blicke auf das verfallne Antlitz des Meisters geworfen, der in seinem Bett lag und mich mit unruhigen Augen beobachtete. Die Frau sprach jetzt eigentlich anders, als sie geschrieben hatte, und ich war schon im Begriff gewesen, meine Unzufriedenheit zu äußern und thuen zu sagen, daß man einen Gesellen doch nicht erst weit herhole und ihm dann schon bei seinem Eintritt wieder die Ausgangspforte zeige. Nachdem ich aber in das sorgenvolle Gesicht der Frau, auf das Trüpplein der Kinder, das mit großen Augen nach dem fremden Menschen herüberschaute, und endlich auf das stille und stumme Sterben auf dem Krankenbett gesehen hatte, schluckte ich den Verdruß hinunter und mußte in mich hineinlächelu, als ich die Ursache dieses unfreundlichen Empfangs erkannte. Ich war in meiner städtischen Kleidung und im Sonntagsrock zu ihnen gekommen, auch mochte Wohl noch ein Schimmer von dem Glücksgefühl, worin ich vorhin gewandert war, auf meinem Gesicht zu sehen gewesen sein. Obgleich also an mir nichts mehr von der Pracht war, die dem Meister Liebezeit vormals fröh¬ liche Stunden bereitet hatte, keine Blume mehr in meinem Knopfloch blühte, auch keine silberne Kette mehr an mir funkelte, so war mein Aufzug für dieses arme Haus dennoch zu prächtig ausgefallen, und die Leute waren im Rechte, wenn sie bei sich überlegten, wie der Bruder wohl dazu komme, ihnen eine solche Herrlichkeit von Gesellen auf den Hals zu schicken. So beruhigte ich sie also, und da ich für niemand als mich zu sorgen hatte und mich auf Zukunftspläne nicht mehr ein¬ lassen konnte, so setzte ich den mit meinem vorigen Meister verabredeten Lohn aus eigner Macht sogleich um ein beträchtliches herunter. Zur Erklärung meiner niedrigen Forderung aber murmelte ich mit dem Hinweis auf meine Papiere, die mich als einen brnstkranken Menschen schilderten, etwas davon, daß ich die Stelle nur an¬ genommen hätte, um ebenso wie die reichen Leute einmal etwas für meine Gesund¬ heit zu tun, mußte diese Erklärung freilich sofort wieder abschwächen, da sich die Eheleute, denen offenbar mit der Aussicht auf ein zweites Krankenbett nicht sonderlich gedient war, von neuem verlegen ansahen. So sagte ich ihnen denn, sie hätten nicht zu befürchten, daß ich ihnen mit meinem Leiden zur Last falle» würde, und wir könnten es getrost auf eine Weile miteinander versuchen. Es gefalle mir in dem Dorf und bei ihnen gut, und ich würde keine Ansprüche machen, sondern mit dem guten Willen zufrieden sein. Als die Meisterin gewahr wurde, daß sie es mit einem ganz bescheidnen Menschlein zu tun hatte, das es noch dazu für ein Glück und eine Gnade ansah, hier oben in den Bergen die Nadel führen zu dürfen, wurde sie über dem angenehmen Gefühl, eine Wohltat auszuüben, die gute Zinsen tragen werde, froh und munter, zeigte mir freundlich mein Stübchen im obern Stockwerk und brachte den Tag zu einem so guten Ende, als ich es nur wünschen konnte. Dennoch konnte ich, so müde ich war, lange keinen Schlaf finden. Das Herz klopfte mir unruhig in der Brust, die Augen wollten nicht zufallen und gingen, wenn ich sie mit Gewalt schloß, immer wieder ans. Und endlich zog meine Seele wie wachend in die Traumwelt hinein, eine wunderbare, große wirre Welt, in der mir nichts vertraut war, sondern mich alles fremd und seltsam anmutete. Ich er¬ wachte bald wieder. Draußen rauschte der Wildbach dicht unter dem Hause durch die mondbeglcinzten Wiesen, und langsam löste sich vor meinen Augen aus Nebel- schleiern der Silberglanz eines Schneeberges heraus, der nur in weiter Ferne und still wie ein Traumbild zwischen den goldnen Sternen schwebte. Mit großen Auge" schaute ich in diesen Glanz und bedachte dabei, wer ich selber war, bis mir die Augen übergingen, und ich rin wehem Herzen einschlief. Mit meinen Schneidersleuten kam ich schnell in ein gutes Verhältnis. Der Meister war Wohl einmal ein hübscher und fröhlicher Mann gewesen, wie es sein Bruder, der freilich auch auf eine nahrhaftere Stelle geraten war, noch immer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/736>, abgerufen am 01.07.2024.