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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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müssen und also eine Treppe höher an die Strickmaschine gestellt wurde. Als ich
meine Sachen zum Umzug zusammen packte, hörte ich ihn toben und lärmen. Nach¬
her als ich mit deu andern auf dem Hofe spazieren ging, flüsterte mir mein Zellen-
Nachbar zu, daß Roter, mein Vorgänger am Schneidertisch, sich nicht hätte zu¬
frieden geben wollen, vielmehr immerfort verlangt habe, den Vorsteher zu sprechen.
Statt dessen sei er wegen seines Tobens einstweilen in den Keller gebracht worden,
wo sich seine Hitze wohl abkühlen werde. Da es im Grunde einerlei sei, wo und
womit man die Zeit tot schlage, vielmehr jede Abwechslung in diesen: Hundeleben
als ein freudiges Ereignis begrüßt werden müsse, so sei seine heftige Erregung
schwer zu versteh", aber er wäre schon immer ein absonderlicher Heiliger gewesen,
ein eigensinniger, rechthaberischer Mensch und ein unfreundlicher und unzugänglicher
Nachbar, dein man keine Träne nachweine.

So sah ich also, daß der Platz, auf dem ich zu einem bleichen Schattenbild
wurde, einem andern immer noch so begehrenswert erschien, daß er über seinem Verlust
alle Fassung einbüßte. Und da ich um bedachte, daß ich es war, der ihn, freilich
ohne eigne Verschuldung, aus seinem armen Glück herausgedrängt hatte, wurde ich
von Mitleid bewegt. Zum erstenmal mischte sich in meine Gedanken, die immer
nur auf mich selber gerichtet gewesen waren, der Gedanke an fremde Schicksale.
Ich stand also noch nicht auf der untersten Stufe, es gab noch ärmere, die mich
beneideten! Ich fühlte eine brennende Sehnsucht, diesen, der noch unglücklicher als
ich sein mußte, kennen zu lernen und ihm nahe zu treten. Dn das unmöglich war,
so beschäftigte ich mich mit ihm wenigstens in Gedanken und horchte auf seine
Schritte, die in den stillen Stunden des Tages zwischen der Arbeit und vor allem
Sonntags, wo das ganze Gebände mit seinem vielfältige" Unglück in einem sanften
Schlafe zu liegen schien, unaufhörlich über mir erklangen.

Sonntags in der Kirche konnte ich ihn, der einige Bänke vor mir saß, be¬
obachten, und ich tat es fast die ganze Zeit des Gottesdienstes. Er war ein
langaufgeschossener Mensch mit einem sehr blassen Gesicht und mochte wohl dreißig
Jahre alt sein. Seine Züge hatten etwas starres, als wäre ihm jedes Gefühl ab¬
handen gekommen, und doch brannte es in ihm lichterloh. Er öffnete weder sei"
Gesangbuch, noch beteiligte er sich am Gesang, sondern saß scheinbar teilnahmlos
auf seinem Platz. Daß aber dennoch Leben in ihm war, verrieten seine Lippen,
die oft etwas vor sich her murmelten. Wie ich hörte, hatte er noch eine lange
Strafe vor sich. Es war durchaus nichts besondres an ihm, er hatte vielmehr ein
gewöhnliches Gesicht und ansorucklose Augen, und dennoch beschäftigte er mich fort¬
gesetzt, und es entging mir auch die Träne nicht, die sich einmal aus seinen Wimpern
hervorflahl. Er merkte nicht, daß er beobachtet wurde, und ging an zwei Sonn¬
tagen achtlos an mir vorüber; am dritten Sonntage jedoch begegnete er meinem
Auge, worin sich wohl die Teilnahme, die ich für ihn hatte, und mein Mitgefühl
deutlich abspiegelten, deun er stutzte, zögerte einen Augenblick, ehe er weiter ging,
und beantwortete mein stilles Grüßen mit einem Blick, worin sowohl Verwunderung
wie Mißtrauen zu lesen war. Am folgenden Sonntag suchte mich sein Auge, und
er sah mich schcirf an, worauf er den Kopf leicht neigte. Einige Stunden darauf
uopfte es leise über mir. Ich wußte sofort, daß er mich rufen wollte, und stand
auf. Nun klopfte es zum zweitenmal, jetzt an der Heizröhre, die von Zelle zu
iMe durch die Stockwerke lief. Ich antwortete in derselben Weise, zum Zeiche",
paß ich verstanden habe, und legte zugleich meine Hand unterhalb meines Ohrs an
va^ Eisenrvhr, um den Schall uach uutenhin abzudämpfen. Er rief mir zu, ich
mochte uns Fenster kommen, er würde mir einen Brief herunter lassen.

, Nach einigen Sekunden flatterte auch etwas an meinem Fenster hin und her,
an> bräunliches Packpapier an einen schwarzen Faden gebunden. Die Schrift war
me einer Nadel oder einem Nagel eingeritzt und schwer zu lesen. Er schrieb mir,
°W er von mir gehört habe und wisse, daß ich gleichfalls ein unglücklicher Mensch
M- Er halte mich für keinen Halunken, sondern traue mir eine anständige Ge-


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müssen und also eine Treppe höher an die Strickmaschine gestellt wurde. Als ich
meine Sachen zum Umzug zusammen packte, hörte ich ihn toben und lärmen. Nach¬
her als ich mit deu andern auf dem Hofe spazieren ging, flüsterte mir mein Zellen-
Nachbar zu, daß Roter, mein Vorgänger am Schneidertisch, sich nicht hätte zu¬
frieden geben wollen, vielmehr immerfort verlangt habe, den Vorsteher zu sprechen.
Statt dessen sei er wegen seines Tobens einstweilen in den Keller gebracht worden,
wo sich seine Hitze wohl abkühlen werde. Da es im Grunde einerlei sei, wo und
womit man die Zeit tot schlage, vielmehr jede Abwechslung in diesen: Hundeleben
als ein freudiges Ereignis begrüßt werden müsse, so sei seine heftige Erregung
schwer zu versteh», aber er wäre schon immer ein absonderlicher Heiliger gewesen,
ein eigensinniger, rechthaberischer Mensch und ein unfreundlicher und unzugänglicher
Nachbar, dein man keine Träne nachweine.

So sah ich also, daß der Platz, auf dem ich zu einem bleichen Schattenbild
wurde, einem andern immer noch so begehrenswert erschien, daß er über seinem Verlust
alle Fassung einbüßte. Und da ich um bedachte, daß ich es war, der ihn, freilich
ohne eigne Verschuldung, aus seinem armen Glück herausgedrängt hatte, wurde ich
von Mitleid bewegt. Zum erstenmal mischte sich in meine Gedanken, die immer
nur auf mich selber gerichtet gewesen waren, der Gedanke an fremde Schicksale.
Ich stand also noch nicht auf der untersten Stufe, es gab noch ärmere, die mich
beneideten! Ich fühlte eine brennende Sehnsucht, diesen, der noch unglücklicher als
ich sein mußte, kennen zu lernen und ihm nahe zu treten. Dn das unmöglich war,
so beschäftigte ich mich mit ihm wenigstens in Gedanken und horchte auf seine
Schritte, die in den stillen Stunden des Tages zwischen der Arbeit und vor allem
Sonntags, wo das ganze Gebände mit seinem vielfältige» Unglück in einem sanften
Schlafe zu liegen schien, unaufhörlich über mir erklangen.

Sonntags in der Kirche konnte ich ihn, der einige Bänke vor mir saß, be¬
obachten, und ich tat es fast die ganze Zeit des Gottesdienstes. Er war ein
langaufgeschossener Mensch mit einem sehr blassen Gesicht und mochte wohl dreißig
Jahre alt sein. Seine Züge hatten etwas starres, als wäre ihm jedes Gefühl ab¬
handen gekommen, und doch brannte es in ihm lichterloh. Er öffnete weder sei»
Gesangbuch, noch beteiligte er sich am Gesang, sondern saß scheinbar teilnahmlos
auf seinem Platz. Daß aber dennoch Leben in ihm war, verrieten seine Lippen,
die oft etwas vor sich her murmelten. Wie ich hörte, hatte er noch eine lange
Strafe vor sich. Es war durchaus nichts besondres an ihm, er hatte vielmehr ein
gewöhnliches Gesicht und ansorucklose Augen, und dennoch beschäftigte er mich fort¬
gesetzt, und es entging mir auch die Träne nicht, die sich einmal aus seinen Wimpern
hervorflahl. Er merkte nicht, daß er beobachtet wurde, und ging an zwei Sonn¬
tagen achtlos an mir vorüber; am dritten Sonntage jedoch begegnete er meinem
Auge, worin sich wohl die Teilnahme, die ich für ihn hatte, und mein Mitgefühl
deutlich abspiegelten, deun er stutzte, zögerte einen Augenblick, ehe er weiter ging,
und beantwortete mein stilles Grüßen mit einem Blick, worin sowohl Verwunderung
wie Mißtrauen zu lesen war. Am folgenden Sonntag suchte mich sein Auge, und
er sah mich schcirf an, worauf er den Kopf leicht neigte. Einige Stunden darauf
uopfte es leise über mir. Ich wußte sofort, daß er mich rufen wollte, und stand
auf. Nun klopfte es zum zweitenmal, jetzt an der Heizröhre, die von Zelle zu
iMe durch die Stockwerke lief. Ich antwortete in derselben Weise, zum Zeiche»,
paß ich verstanden habe, und legte zugleich meine Hand unterhalb meines Ohrs an
va^ Eisenrvhr, um den Schall uach uutenhin abzudämpfen. Er rief mir zu, ich
mochte uns Fenster kommen, er würde mir einen Brief herunter lassen.

, Nach einigen Sekunden flatterte auch etwas an meinem Fenster hin und her,
an> bräunliches Packpapier an einen schwarzen Faden gebunden. Die Schrift war
me einer Nadel oder einem Nagel eingeritzt und schwer zu lesen. Er schrieb mir,
°W er von mir gehört habe und wisse, daß ich gleichfalls ein unglücklicher Mensch
M- Er halte mich für keinen Halunken, sondern traue mir eine anständige Ge-


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[0601] müssen und also eine Treppe höher an die Strickmaschine gestellt wurde. Als ich meine Sachen zum Umzug zusammen packte, hörte ich ihn toben und lärmen. Nach¬ her als ich mit deu andern auf dem Hofe spazieren ging, flüsterte mir mein Zellen- Nachbar zu, daß Roter, mein Vorgänger am Schneidertisch, sich nicht hätte zu¬ frieden geben wollen, vielmehr immerfort verlangt habe, den Vorsteher zu sprechen. Statt dessen sei er wegen seines Tobens einstweilen in den Keller gebracht worden, wo sich seine Hitze wohl abkühlen werde. Da es im Grunde einerlei sei, wo und womit man die Zeit tot schlage, vielmehr jede Abwechslung in diesen: Hundeleben als ein freudiges Ereignis begrüßt werden müsse, so sei seine heftige Erregung schwer zu versteh», aber er wäre schon immer ein absonderlicher Heiliger gewesen, ein eigensinniger, rechthaberischer Mensch und ein unfreundlicher und unzugänglicher Nachbar, dein man keine Träne nachweine. So sah ich also, daß der Platz, auf dem ich zu einem bleichen Schattenbild wurde, einem andern immer noch so begehrenswert erschien, daß er über seinem Verlust alle Fassung einbüßte. Und da ich um bedachte, daß ich es war, der ihn, freilich ohne eigne Verschuldung, aus seinem armen Glück herausgedrängt hatte, wurde ich von Mitleid bewegt. Zum erstenmal mischte sich in meine Gedanken, die immer nur auf mich selber gerichtet gewesen waren, der Gedanke an fremde Schicksale. Ich stand also noch nicht auf der untersten Stufe, es gab noch ärmere, die mich beneideten! Ich fühlte eine brennende Sehnsucht, diesen, der noch unglücklicher als ich sein mußte, kennen zu lernen und ihm nahe zu treten. Dn das unmöglich war, so beschäftigte ich mich mit ihm wenigstens in Gedanken und horchte auf seine Schritte, die in den stillen Stunden des Tages zwischen der Arbeit und vor allem Sonntags, wo das ganze Gebände mit seinem vielfältige» Unglück in einem sanften Schlafe zu liegen schien, unaufhörlich über mir erklangen. Sonntags in der Kirche konnte ich ihn, der einige Bänke vor mir saß, be¬ obachten, und ich tat es fast die ganze Zeit des Gottesdienstes. Er war ein langaufgeschossener Mensch mit einem sehr blassen Gesicht und mochte wohl dreißig Jahre alt sein. Seine Züge hatten etwas starres, als wäre ihm jedes Gefühl ab¬ handen gekommen, und doch brannte es in ihm lichterloh. Er öffnete weder sei» Gesangbuch, noch beteiligte er sich am Gesang, sondern saß scheinbar teilnahmlos auf seinem Platz. Daß aber dennoch Leben in ihm war, verrieten seine Lippen, die oft etwas vor sich her murmelten. Wie ich hörte, hatte er noch eine lange Strafe vor sich. Es war durchaus nichts besondres an ihm, er hatte vielmehr ein gewöhnliches Gesicht und ansorucklose Augen, und dennoch beschäftigte er mich fort¬ gesetzt, und es entging mir auch die Träne nicht, die sich einmal aus seinen Wimpern hervorflahl. Er merkte nicht, daß er beobachtet wurde, und ging an zwei Sonn¬ tagen achtlos an mir vorüber; am dritten Sonntage jedoch begegnete er meinem Auge, worin sich wohl die Teilnahme, die ich für ihn hatte, und mein Mitgefühl deutlich abspiegelten, deun er stutzte, zögerte einen Augenblick, ehe er weiter ging, und beantwortete mein stilles Grüßen mit einem Blick, worin sowohl Verwunderung wie Mißtrauen zu lesen war. Am folgenden Sonntag suchte mich sein Auge, und er sah mich schcirf an, worauf er den Kopf leicht neigte. Einige Stunden darauf uopfte es leise über mir. Ich wußte sofort, daß er mich rufen wollte, und stand auf. Nun klopfte es zum zweitenmal, jetzt an der Heizröhre, die von Zelle zu iMe durch die Stockwerke lief. Ich antwortete in derselben Weise, zum Zeiche», paß ich verstanden habe, und legte zugleich meine Hand unterhalb meines Ohrs an va^ Eisenrvhr, um den Schall uach uutenhin abzudämpfen. Er rief mir zu, ich mochte uns Fenster kommen, er würde mir einen Brief herunter lassen. , Nach einigen Sekunden flatterte auch etwas an meinem Fenster hin und her, an> bräunliches Packpapier an einen schwarzen Faden gebunden. Die Schrift war me einer Nadel oder einem Nagel eingeritzt und schwer zu lesen. Er schrieb mir, °W er von mir gehört habe und wisse, daß ich gleichfalls ein unglücklicher Mensch M- Er halte mich für keinen Halunken, sondern traue mir eine anständige Ge- Grenzboten IV Z90K 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/601>, abgerufen am 26.06.2024.