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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Verwaltung, Behörden und Stände in Rußland

ordnung manche Abänderung gefallen lassen müssen. Die Zahl der Tschin
ist auf elf herabgesetzt; akademische Bildung verleiht schon drei, jeder akademische
Grad einen weitern Tschin, und erst die Erwerbung des Dienstgrades eines
Obersten (oder Staatsrath im Zivildienst) gibt das Recht auf erblichen, des
Oberstleutnants auf persönlichen Adel. Aber während Peter der Große verlangt
hatte, daß jeder Adliche einen Rang in seiner Ordnung einnahm, schenkte Peter
der Dritte, der über Rechte und Privilegien des höchsten Standes anders dachte,
dem Adel die Verpflichtung zum Dienst, und Katharina die Zweite ließ es
unter dem Einfluß Montesquieus dabei sein Bewenden haben. Den Gedanken
dieses Philosophen über die vermittelnde Stellung des Adels zwischen Thron
und Volk folgend gab sie dem Adel eine korporative Verfassung und einige
politische Rechte und zog ihn zur Teilnahme an der örtlichen Verwaltung in
richterlichen und administrativen Funktionen heran. Nachdem die Reformen
Alexanders des Zweiten, insbesondre die Bauernemanzipation die materielle Lage
und die ganze Stellung des Adels schwer erschüttert hatten, wurde unter Alexander
dem Dritten wieder einiges zur Hebung des Standes getan: den Adels mar-
schällen und den aus dem Adel ernannten Landschaftshauptleuten wurde die
Aufsicht über die bäuerliche Selbstverwaltung übertragen; in der "Landschaft"
wurde dem Adel ein entscheidender Einfluß eingeräumt, und zur Hebung seiner
materiellen Lage die Neichsadelsbank gegründet, die billigen Kredit gewährt.

Die gegenwärtige Verfassung des Adels ist folgende: Er bildet in jedem
Gouvernement eine besondre Adelsgenossenschaft, die sich in die Kreisgenossen-
schaften teilt. Aller drei Jahre tritt die Gouvernementsgenossenschaft zum Adels¬
tag zusammen, wählt ihre Vertreter und Funktionäre, prüft die Adelsliste (die
sechs Geschlcchterbücher) und hilft der Adelskasse durch freiwillige Beiträge auf,
mit einem Wort, der Adelstag berät zu eignem Nutz und Frommen, wobei er
das Recht hat, dem Zaren Bittgesuche in eignen Angelegenheiten zu unter¬
breiten. Jede Überschreitung seiner Befugnisse wird hart geahndet, wie es der
Adel von Twer für sein Unterfangen, die Einführung der Volksvertretung zu
erbitten, zu Beginn der Regierung Nikolai^ des Zweiten hat fühlen müssen.
Die Vertreter des Adels sind die auf drei Jahre gewählten Gouvernements¬
und Kreisadclsmarschälle, deren Stellung nicht nur eine repräsentative ist, son¬
dern eine vielseitige Tätigkeit verlangt und ihrem Inhaber weitreichenden Einfluß
verschafft. Als Beispiel sei angeführt, daß der Kreisadelsmarschall, abgesehen
von seinen sonstigen Aufgaben, die des Zivilvorsitzenden der Ersatzkommission
bei der Rekrutenaushebung wahrzunehmen hat. -- Ständige Adelsbehörden
sind die Adelsabgeordnetenversammlung, die aus je einem Vertreter jedes Kreises
unter Vorsitz des Gouvernementsadelsmarschalls besteht, und das Adelsvor¬
mundschaftsgericht, das aus Angehörigen des Kreisadels unter Vorsitz ihres
Adelsmarschalls besteht. Die Adelsabgeordnetenversammlung bearbeitet die lau¬
fenden Angelegenheiten (z. B. Aufnahme in den Adel des Gouvernements), das
Adelsvormundschaftsgericht Vormundschaftsangelegenheiten.

(Schluß folgt)




Verwaltung, Behörden und Stände in Rußland

ordnung manche Abänderung gefallen lassen müssen. Die Zahl der Tschin
ist auf elf herabgesetzt; akademische Bildung verleiht schon drei, jeder akademische
Grad einen weitern Tschin, und erst die Erwerbung des Dienstgrades eines
Obersten (oder Staatsrath im Zivildienst) gibt das Recht auf erblichen, des
Oberstleutnants auf persönlichen Adel. Aber während Peter der Große verlangt
hatte, daß jeder Adliche einen Rang in seiner Ordnung einnahm, schenkte Peter
der Dritte, der über Rechte und Privilegien des höchsten Standes anders dachte,
dem Adel die Verpflichtung zum Dienst, und Katharina die Zweite ließ es
unter dem Einfluß Montesquieus dabei sein Bewenden haben. Den Gedanken
dieses Philosophen über die vermittelnde Stellung des Adels zwischen Thron
und Volk folgend gab sie dem Adel eine korporative Verfassung und einige
politische Rechte und zog ihn zur Teilnahme an der örtlichen Verwaltung in
richterlichen und administrativen Funktionen heran. Nachdem die Reformen
Alexanders des Zweiten, insbesondre die Bauernemanzipation die materielle Lage
und die ganze Stellung des Adels schwer erschüttert hatten, wurde unter Alexander
dem Dritten wieder einiges zur Hebung des Standes getan: den Adels mar-
schällen und den aus dem Adel ernannten Landschaftshauptleuten wurde die
Aufsicht über die bäuerliche Selbstverwaltung übertragen; in der „Landschaft"
wurde dem Adel ein entscheidender Einfluß eingeräumt, und zur Hebung seiner
materiellen Lage die Neichsadelsbank gegründet, die billigen Kredit gewährt.

Die gegenwärtige Verfassung des Adels ist folgende: Er bildet in jedem
Gouvernement eine besondre Adelsgenossenschaft, die sich in die Kreisgenossen-
schaften teilt. Aller drei Jahre tritt die Gouvernementsgenossenschaft zum Adels¬
tag zusammen, wählt ihre Vertreter und Funktionäre, prüft die Adelsliste (die
sechs Geschlcchterbücher) und hilft der Adelskasse durch freiwillige Beiträge auf,
mit einem Wort, der Adelstag berät zu eignem Nutz und Frommen, wobei er
das Recht hat, dem Zaren Bittgesuche in eignen Angelegenheiten zu unter¬
breiten. Jede Überschreitung seiner Befugnisse wird hart geahndet, wie es der
Adel von Twer für sein Unterfangen, die Einführung der Volksvertretung zu
erbitten, zu Beginn der Regierung Nikolai^ des Zweiten hat fühlen müssen.
Die Vertreter des Adels sind die auf drei Jahre gewählten Gouvernements¬
und Kreisadclsmarschälle, deren Stellung nicht nur eine repräsentative ist, son¬
dern eine vielseitige Tätigkeit verlangt und ihrem Inhaber weitreichenden Einfluß
verschafft. Als Beispiel sei angeführt, daß der Kreisadelsmarschall, abgesehen
von seinen sonstigen Aufgaben, die des Zivilvorsitzenden der Ersatzkommission
bei der Rekrutenaushebung wahrzunehmen hat. — Ständige Adelsbehörden
sind die Adelsabgeordnetenversammlung, die aus je einem Vertreter jedes Kreises
unter Vorsitz des Gouvernementsadelsmarschalls besteht, und das Adelsvor¬
mundschaftsgericht, das aus Angehörigen des Kreisadels unter Vorsitz ihres
Adelsmarschalls besteht. Die Adelsabgeordnetenversammlung bearbeitet die lau¬
fenden Angelegenheiten (z. B. Aufnahme in den Adel des Gouvernements), das
Adelsvormundschaftsgericht Vormundschaftsangelegenheiten.

(Schluß folgt)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/500>, abgerufen am 22.07.2024.