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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Galizische wirtschcift

geistereien halten, die das verflossene Jahrhundert in langer Reihe gezeigt hat,
die niemals mit realen Verhältnissen rechneten, sondern sich in den eignen
Träumen verfingen; aber der Gedanke ist da und ist politisch vielleicht noch
das Vernünftigste von allem, was sich hinter den polnischen Agitationen und
Geheimbündeleien verbirgt.

Inzwischen haben die Polen gelernt, daß man den zweiten Schritt nicht
vor dem ersten tun darf, und daß die unzeitige Herbeiführung einer gewalt¬
samen Lösung ihre Zukunft ganz und gar gefährdet. Nach dem Scheitern des
Aufstandes von 1863 ist man darum in den leitenden Kreisen von den das
Leben und das Vermögen heillos dezimierenden Aufstünden abgekommen. Vielleicht
hängt das auch mit dem Verhärten der revolutionären Strömungen in ganz
Europa zusammen, die ein halbes Jahrhundert lang von polnischen Führern,
die daraus geradezu ein Gewerbe machten, in allen Ländern geleitet wurden.
Jedenfalls versuchen die Polen seit dieser Zeit die Kräftigung ihres Volks-
tums auf dem Boden der bestehenden Vertrüge, der Staatseinrichtungen und
der Verfassungen, und zwar auf jedem der dabei beteiligten Staatsgebiete in
der den Umständen angepaßten, möglichst vorteilhaften Weise. Für Preußen
haben sie sich die Aufgabe gestellt, die deutsche Bevölkerung der Gebiete, die
sie für ihr "Polen von Meer zu Meer" brauchen, schrittweise zurückzudrängen,
zu überwuchern und zur Annahme ihrer Sprache und Art zu bewegen, dabei
in diesem Kampfe zugleich das eigne Volksbewußtsein zu stärken. Wie weit
ihnen dies unter dem Schutze der liberalen Gesetzgebung, der zeitweiligen
Duldung der Regierung und der Unterstützung durch liberale und durch
klerikale Partei- und Oppositionssucht gelungen ist, zeigen die Erscheinungen
unsrer Tage.

In Nußland stützen sich die Polen mehr als früher ans die Stamm-
verwandtschaft des slawischen Blutes und suchen Einfluß im Staatsdienst und
in der Presse zu erlangen. Daß die deutschfeindlichen Ergüsse und die Ver¬
dächtigungen der Politik des Deutschen Reichs in den russischen Blattern fast
ausschließlich aus polnischen Federn stammen, ist hinreichend bekannt, ebenso
waren politische Intriguen des hohen polnischen Adels im Spiele, so oft in
den siebziger Jahren Rußland eine kriegerische Haltung gegen Deutschland
oder Österreich annahm. Bei einem Kriege zwischen diesen Mächten hätte leicht
der Gedanke der Wiederaufrichtung Polens eine Stelle finden können. In
Österreich haben sie sich in die Negierung des Gesamtstaats gedrängt, helfen
in dem bunten Gemisch der Nationalitäten die geschichtlich bevorrechtigte
Stellung des Deutschtums untergraben und suchen sogar die Führerrolle und
einen Stützpunkt für ihre nationalen Pläne zu gewinnen. Aber gerade dort,
wo die Polen am meisten unter sich sind, wo man ihnen seinerzeit ein ganzes
Land zur Selbstverwaltung ausgeliefert hat, wo sie am einflußreichsten sind,
haben sie politisch und wirtschaftlich nichts geleistet. Sie haben bewiesen, daß
sie aus sich selbst heraus weder ein politisches Gebilde noch einen wirtschaft¬
lichen Fortschritt schaffen können. Ihr Plan, wenigstens in Galizien den
Kern für ein Polenreich der Zukunft zu schaffen, ist gescheitert. Das Land
ist so arm und elend geblieben, wie es war; wer dort etwas erworben hat,


Galizische wirtschcift

geistereien halten, die das verflossene Jahrhundert in langer Reihe gezeigt hat,
die niemals mit realen Verhältnissen rechneten, sondern sich in den eignen
Träumen verfingen; aber der Gedanke ist da und ist politisch vielleicht noch
das Vernünftigste von allem, was sich hinter den polnischen Agitationen und
Geheimbündeleien verbirgt.

Inzwischen haben die Polen gelernt, daß man den zweiten Schritt nicht
vor dem ersten tun darf, und daß die unzeitige Herbeiführung einer gewalt¬
samen Lösung ihre Zukunft ganz und gar gefährdet. Nach dem Scheitern des
Aufstandes von 1863 ist man darum in den leitenden Kreisen von den das
Leben und das Vermögen heillos dezimierenden Aufstünden abgekommen. Vielleicht
hängt das auch mit dem Verhärten der revolutionären Strömungen in ganz
Europa zusammen, die ein halbes Jahrhundert lang von polnischen Führern,
die daraus geradezu ein Gewerbe machten, in allen Ländern geleitet wurden.
Jedenfalls versuchen die Polen seit dieser Zeit die Kräftigung ihres Volks-
tums auf dem Boden der bestehenden Vertrüge, der Staatseinrichtungen und
der Verfassungen, und zwar auf jedem der dabei beteiligten Staatsgebiete in
der den Umständen angepaßten, möglichst vorteilhaften Weise. Für Preußen
haben sie sich die Aufgabe gestellt, die deutsche Bevölkerung der Gebiete, die
sie für ihr „Polen von Meer zu Meer" brauchen, schrittweise zurückzudrängen,
zu überwuchern und zur Annahme ihrer Sprache und Art zu bewegen, dabei
in diesem Kampfe zugleich das eigne Volksbewußtsein zu stärken. Wie weit
ihnen dies unter dem Schutze der liberalen Gesetzgebung, der zeitweiligen
Duldung der Regierung und der Unterstützung durch liberale und durch
klerikale Partei- und Oppositionssucht gelungen ist, zeigen die Erscheinungen
unsrer Tage.

In Nußland stützen sich die Polen mehr als früher ans die Stamm-
verwandtschaft des slawischen Blutes und suchen Einfluß im Staatsdienst und
in der Presse zu erlangen. Daß die deutschfeindlichen Ergüsse und die Ver¬
dächtigungen der Politik des Deutschen Reichs in den russischen Blattern fast
ausschließlich aus polnischen Federn stammen, ist hinreichend bekannt, ebenso
waren politische Intriguen des hohen polnischen Adels im Spiele, so oft in
den siebziger Jahren Rußland eine kriegerische Haltung gegen Deutschland
oder Österreich annahm. Bei einem Kriege zwischen diesen Mächten hätte leicht
der Gedanke der Wiederaufrichtung Polens eine Stelle finden können. In
Österreich haben sie sich in die Negierung des Gesamtstaats gedrängt, helfen
in dem bunten Gemisch der Nationalitäten die geschichtlich bevorrechtigte
Stellung des Deutschtums untergraben und suchen sogar die Führerrolle und
einen Stützpunkt für ihre nationalen Pläne zu gewinnen. Aber gerade dort,
wo die Polen am meisten unter sich sind, wo man ihnen seinerzeit ein ganzes
Land zur Selbstverwaltung ausgeliefert hat, wo sie am einflußreichsten sind,
haben sie politisch und wirtschaftlich nichts geleistet. Sie haben bewiesen, daß
sie aus sich selbst heraus weder ein politisches Gebilde noch einen wirtschaft¬
lichen Fortschritt schaffen können. Ihr Plan, wenigstens in Galizien den
Kern für ein Polenreich der Zukunft zu schaffen, ist gescheitert. Das Land
ist so arm und elend geblieben, wie es war; wer dort etwas erworben hat,


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[0418] Galizische wirtschcift geistereien halten, die das verflossene Jahrhundert in langer Reihe gezeigt hat, die niemals mit realen Verhältnissen rechneten, sondern sich in den eignen Träumen verfingen; aber der Gedanke ist da und ist politisch vielleicht noch das Vernünftigste von allem, was sich hinter den polnischen Agitationen und Geheimbündeleien verbirgt. Inzwischen haben die Polen gelernt, daß man den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun darf, und daß die unzeitige Herbeiführung einer gewalt¬ samen Lösung ihre Zukunft ganz und gar gefährdet. Nach dem Scheitern des Aufstandes von 1863 ist man darum in den leitenden Kreisen von den das Leben und das Vermögen heillos dezimierenden Aufstünden abgekommen. Vielleicht hängt das auch mit dem Verhärten der revolutionären Strömungen in ganz Europa zusammen, die ein halbes Jahrhundert lang von polnischen Führern, die daraus geradezu ein Gewerbe machten, in allen Ländern geleitet wurden. Jedenfalls versuchen die Polen seit dieser Zeit die Kräftigung ihres Volks- tums auf dem Boden der bestehenden Vertrüge, der Staatseinrichtungen und der Verfassungen, und zwar auf jedem der dabei beteiligten Staatsgebiete in der den Umständen angepaßten, möglichst vorteilhaften Weise. Für Preußen haben sie sich die Aufgabe gestellt, die deutsche Bevölkerung der Gebiete, die sie für ihr „Polen von Meer zu Meer" brauchen, schrittweise zurückzudrängen, zu überwuchern und zur Annahme ihrer Sprache und Art zu bewegen, dabei in diesem Kampfe zugleich das eigne Volksbewußtsein zu stärken. Wie weit ihnen dies unter dem Schutze der liberalen Gesetzgebung, der zeitweiligen Duldung der Regierung und der Unterstützung durch liberale und durch klerikale Partei- und Oppositionssucht gelungen ist, zeigen die Erscheinungen unsrer Tage. In Nußland stützen sich die Polen mehr als früher ans die Stamm- verwandtschaft des slawischen Blutes und suchen Einfluß im Staatsdienst und in der Presse zu erlangen. Daß die deutschfeindlichen Ergüsse und die Ver¬ dächtigungen der Politik des Deutschen Reichs in den russischen Blattern fast ausschließlich aus polnischen Federn stammen, ist hinreichend bekannt, ebenso waren politische Intriguen des hohen polnischen Adels im Spiele, so oft in den siebziger Jahren Rußland eine kriegerische Haltung gegen Deutschland oder Österreich annahm. Bei einem Kriege zwischen diesen Mächten hätte leicht der Gedanke der Wiederaufrichtung Polens eine Stelle finden können. In Österreich haben sie sich in die Negierung des Gesamtstaats gedrängt, helfen in dem bunten Gemisch der Nationalitäten die geschichtlich bevorrechtigte Stellung des Deutschtums untergraben und suchen sogar die Führerrolle und einen Stützpunkt für ihre nationalen Pläne zu gewinnen. Aber gerade dort, wo die Polen am meisten unter sich sind, wo man ihnen seinerzeit ein ganzes Land zur Selbstverwaltung ausgeliefert hat, wo sie am einflußreichsten sind, haben sie politisch und wirtschaftlich nichts geleistet. Sie haben bewiesen, daß sie aus sich selbst heraus weder ein politisches Gebilde noch einen wirtschaft¬ lichen Fortschritt schaffen können. Ihr Plan, wenigstens in Galizien den Kern für ein Polenreich der Zukunft zu schaffen, ist gescheitert. Das Land ist so arm und elend geblieben, wie es war; wer dort etwas erworben hat,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/418>, abgerufen am 22.07.2024.