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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Ans der Jugendzeit

Eine ganz andre Persönlichkeit war der Kleine, der Mathematiker Professor
Schumann, Er war viel jünger als der Alte, ohne alles Pathos, lebendig und
lebensfroh. Ursprünglich Theologe, hatte er an seinem Glauben Schiffbruch ge¬
litten und sich auf Mathematik und Naturwissenschaften geworfen. Er war Ratio¬
nalist vom reinsten Wasser. Er lehrte in Sekunda Mathematik und Physik und
brachte uns wenigstens soweit, daß wir im Maturitütsexamen die mathematischen
Aufgaben notdürftig zu lösen vermochten. Weit her war es damit freilich nicht.
Es war ein starkes Stück, daß der Direktor ihm in Prima den Religionsunterricht
und die philosophische Propädeutik übertragen hatte. Seine Leistungen in diesen
beiden Fächern waren, wie wir uns damals ausdrückten, unter der Kanone. Die
Wunder der Bibel erklärte er frischweg nach Art des Heidelberger Theologen
Paulus als natürliche Vorgänge, die Auferstehung Jesu als Scheintod, das Wandeln
auf dem Meere als ein Wandeln am Meere, unbekümmert darum, daß der Zu¬
sammenhang der biblischen Erzählungen dadurch zum hellen Unsinn wurde. Das,
was er uns in der philosophischen Propädeutik als Psychologie vortrug, war ein
seltsames Gemisch von Ernst und anekdotenhaften Belegen für einzelne Erscheinungen
des Seelenlebens. Wir lieferten ihm dazu angeblich vorgekommne Beispiele von
Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen und als natürliche Vorgänge aufgeklärten
Spukgeschichten der abenteuerlichsten Art. Bei seiner natürlichen Gutmütigkeit
nahm er unsre Erzählungen derartiger Phantasiegebilde mit rührender Unbefangen¬
heit auf. So wurde die philosophische Propädeutik für uns eine höchst vergnüg¬
liche Stunde. Zur Dankbarkeit aber sind wir ihm für deu Unterricht im Deutschen
verpflichtet, den er in Prima erteilte. Freilich war der Kleine eine durch und
durch prosaische Natur, und die Ausschließlichkeit, mit der er uns fast nur auf
Lessing hinwies, ging zu weit. Aber er war ein unerbittlicher Feind jeder Phrase,
jeder Überschwenglichkeit, jedes leeren Wortgeklingels. Dabei hielt er auf kurze Sätze
und auf präzise Durchsichtigkeit des Stils. Damit hat der kleine freundliche Mann
seinen Schülern doch eine wertvolle Mitgabe für das Leben gegeben. Nicht ohne ein
Lächeln dachten seine frühern Schüler um den Kleinen zurück, aber bei alleu Seltsam¬
keiten seiner Schultätigkeit hat er sich doch viel Liebe und Dankbarkeit erworben.

Ganz verschieden freilich von beiden, dem Alten und dem Kleinen, war die
Persönlichkeit des Professors Gvßrcm. Er hatte eine zarte, etwas gebeugte Gestalt
und trug den Kopf ein wenig schief. Aber mit eiserner Disziplin wußte er die
Klasse in Zaum und Zügel zu halten. Wenn er mit uns Taeitus, Livius oder
Cicero las, wenn er mit uns lateinische Verse machte, wenn er Herodot oder
Lucian, Plutarch oder Thukydides erklärte, und namentlich wenn er griechische oder
römische Geschichte vortrug, dann leuchteten seine hellen, braunen Augen in hoher
Begeisterung, und in formvollendeter Beredsamkeit floß bei meisterhafter Beherr¬
schung des Stoffs die Rede von seinen Lippen und fesselte auch die langweiligsten
Jungen. Wohl präpariert kamen wir in seine Stunden, und für die lateinische
Privatlcktüre wußte er uns so zu begeistern, daß wir ganze Nächte saßen, um
"Adversarien," d. h. kommentierende Bemerkungen zu Ciceros Reden oder zu
Taeitus zu schreiben. Sah ich dann wohl am andern Morgen in der ersten
Stunde des Professors Jhlefeldt ein wenig übermüdet aus, so rief dieser mir mit
warnender Stentorstimme zu: "Bosse! Sie haben lukubriert! Das dürfen Sie nicht
tun!" Er hatte ja Recht, aber Goßrau zuliebe lukubrierten wir gelegentlich immer
wieder einmal. Nötig hätten wir es nicht gehabt. Wären wir weniger in die
Kneipen oder auch in den Harz gelaufen, so hätte unsre Zeit vollkommen ausgereicht,
deu Anforderungen der Schule auch an unsern Privatfleiß zu genügen. Von wirklicher
Überbürdung war gar keine Rede. Wir hielten uns auch nicht für überbürdet.

Ich war, als ich nach Sekunda kam, vierzehn Jahre alt geworden. Zu Ostern
darauf sollte ich konfirmiert werden. Ich besuchte deshalb den Winter über den
Konfirmandenunterricht des Superintendenten. Im Winter vorher hatte ich schon
als "Zuhörer" am Konfirmationsunterricht des zweiten Geistlichen unsrer Parochie,
des Pastors Hetnisch, teilgenommen. Beide Geistliche nahmen den Konfirmanden-


Ans der Jugendzeit

Eine ganz andre Persönlichkeit war der Kleine, der Mathematiker Professor
Schumann, Er war viel jünger als der Alte, ohne alles Pathos, lebendig und
lebensfroh. Ursprünglich Theologe, hatte er an seinem Glauben Schiffbruch ge¬
litten und sich auf Mathematik und Naturwissenschaften geworfen. Er war Ratio¬
nalist vom reinsten Wasser. Er lehrte in Sekunda Mathematik und Physik und
brachte uns wenigstens soweit, daß wir im Maturitütsexamen die mathematischen
Aufgaben notdürftig zu lösen vermochten. Weit her war es damit freilich nicht.
Es war ein starkes Stück, daß der Direktor ihm in Prima den Religionsunterricht
und die philosophische Propädeutik übertragen hatte. Seine Leistungen in diesen
beiden Fächern waren, wie wir uns damals ausdrückten, unter der Kanone. Die
Wunder der Bibel erklärte er frischweg nach Art des Heidelberger Theologen
Paulus als natürliche Vorgänge, die Auferstehung Jesu als Scheintod, das Wandeln
auf dem Meere als ein Wandeln am Meere, unbekümmert darum, daß der Zu¬
sammenhang der biblischen Erzählungen dadurch zum hellen Unsinn wurde. Das,
was er uns in der philosophischen Propädeutik als Psychologie vortrug, war ein
seltsames Gemisch von Ernst und anekdotenhaften Belegen für einzelne Erscheinungen
des Seelenlebens. Wir lieferten ihm dazu angeblich vorgekommne Beispiele von
Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen und als natürliche Vorgänge aufgeklärten
Spukgeschichten der abenteuerlichsten Art. Bei seiner natürlichen Gutmütigkeit
nahm er unsre Erzählungen derartiger Phantasiegebilde mit rührender Unbefangen¬
heit auf. So wurde die philosophische Propädeutik für uns eine höchst vergnüg¬
liche Stunde. Zur Dankbarkeit aber sind wir ihm für deu Unterricht im Deutschen
verpflichtet, den er in Prima erteilte. Freilich war der Kleine eine durch und
durch prosaische Natur, und die Ausschließlichkeit, mit der er uns fast nur auf
Lessing hinwies, ging zu weit. Aber er war ein unerbittlicher Feind jeder Phrase,
jeder Überschwenglichkeit, jedes leeren Wortgeklingels. Dabei hielt er auf kurze Sätze
und auf präzise Durchsichtigkeit des Stils. Damit hat der kleine freundliche Mann
seinen Schülern doch eine wertvolle Mitgabe für das Leben gegeben. Nicht ohne ein
Lächeln dachten seine frühern Schüler um den Kleinen zurück, aber bei alleu Seltsam¬
keiten seiner Schultätigkeit hat er sich doch viel Liebe und Dankbarkeit erworben.

Ganz verschieden freilich von beiden, dem Alten und dem Kleinen, war die
Persönlichkeit des Professors Gvßrcm. Er hatte eine zarte, etwas gebeugte Gestalt
und trug den Kopf ein wenig schief. Aber mit eiserner Disziplin wußte er die
Klasse in Zaum und Zügel zu halten. Wenn er mit uns Taeitus, Livius oder
Cicero las, wenn er mit uns lateinische Verse machte, wenn er Herodot oder
Lucian, Plutarch oder Thukydides erklärte, und namentlich wenn er griechische oder
römische Geschichte vortrug, dann leuchteten seine hellen, braunen Augen in hoher
Begeisterung, und in formvollendeter Beredsamkeit floß bei meisterhafter Beherr¬
schung des Stoffs die Rede von seinen Lippen und fesselte auch die langweiligsten
Jungen. Wohl präpariert kamen wir in seine Stunden, und für die lateinische
Privatlcktüre wußte er uns so zu begeistern, daß wir ganze Nächte saßen, um
„Adversarien," d. h. kommentierende Bemerkungen zu Ciceros Reden oder zu
Taeitus zu schreiben. Sah ich dann wohl am andern Morgen in der ersten
Stunde des Professors Jhlefeldt ein wenig übermüdet aus, so rief dieser mir mit
warnender Stentorstimme zu: „Bosse! Sie haben lukubriert! Das dürfen Sie nicht
tun!" Er hatte ja Recht, aber Goßrau zuliebe lukubrierten wir gelegentlich immer
wieder einmal. Nötig hätten wir es nicht gehabt. Wären wir weniger in die
Kneipen oder auch in den Harz gelaufen, so hätte unsre Zeit vollkommen ausgereicht,
deu Anforderungen der Schule auch an unsern Privatfleiß zu genügen. Von wirklicher
Überbürdung war gar keine Rede. Wir hielten uns auch nicht für überbürdet.

Ich war, als ich nach Sekunda kam, vierzehn Jahre alt geworden. Zu Ostern
darauf sollte ich konfirmiert werden. Ich besuchte deshalb den Winter über den
Konfirmandenunterricht des Superintendenten. Im Winter vorher hatte ich schon
als „Zuhörer" am Konfirmationsunterricht des zweiten Geistlichen unsrer Parochie,
des Pastors Hetnisch, teilgenommen. Beide Geistliche nahmen den Konfirmanden-


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[0392] Ans der Jugendzeit Eine ganz andre Persönlichkeit war der Kleine, der Mathematiker Professor Schumann, Er war viel jünger als der Alte, ohne alles Pathos, lebendig und lebensfroh. Ursprünglich Theologe, hatte er an seinem Glauben Schiffbruch ge¬ litten und sich auf Mathematik und Naturwissenschaften geworfen. Er war Ratio¬ nalist vom reinsten Wasser. Er lehrte in Sekunda Mathematik und Physik und brachte uns wenigstens soweit, daß wir im Maturitütsexamen die mathematischen Aufgaben notdürftig zu lösen vermochten. Weit her war es damit freilich nicht. Es war ein starkes Stück, daß der Direktor ihm in Prima den Religionsunterricht und die philosophische Propädeutik übertragen hatte. Seine Leistungen in diesen beiden Fächern waren, wie wir uns damals ausdrückten, unter der Kanone. Die Wunder der Bibel erklärte er frischweg nach Art des Heidelberger Theologen Paulus als natürliche Vorgänge, die Auferstehung Jesu als Scheintod, das Wandeln auf dem Meere als ein Wandeln am Meere, unbekümmert darum, daß der Zu¬ sammenhang der biblischen Erzählungen dadurch zum hellen Unsinn wurde. Das, was er uns in der philosophischen Propädeutik als Psychologie vortrug, war ein seltsames Gemisch von Ernst und anekdotenhaften Belegen für einzelne Erscheinungen des Seelenlebens. Wir lieferten ihm dazu angeblich vorgekommne Beispiele von Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen und als natürliche Vorgänge aufgeklärten Spukgeschichten der abenteuerlichsten Art. Bei seiner natürlichen Gutmütigkeit nahm er unsre Erzählungen derartiger Phantasiegebilde mit rührender Unbefangen¬ heit auf. So wurde die philosophische Propädeutik für uns eine höchst vergnüg¬ liche Stunde. Zur Dankbarkeit aber sind wir ihm für deu Unterricht im Deutschen verpflichtet, den er in Prima erteilte. Freilich war der Kleine eine durch und durch prosaische Natur, und die Ausschließlichkeit, mit der er uns fast nur auf Lessing hinwies, ging zu weit. Aber er war ein unerbittlicher Feind jeder Phrase, jeder Überschwenglichkeit, jedes leeren Wortgeklingels. Dabei hielt er auf kurze Sätze und auf präzise Durchsichtigkeit des Stils. Damit hat der kleine freundliche Mann seinen Schülern doch eine wertvolle Mitgabe für das Leben gegeben. Nicht ohne ein Lächeln dachten seine frühern Schüler um den Kleinen zurück, aber bei alleu Seltsam¬ keiten seiner Schultätigkeit hat er sich doch viel Liebe und Dankbarkeit erworben. Ganz verschieden freilich von beiden, dem Alten und dem Kleinen, war die Persönlichkeit des Professors Gvßrcm. Er hatte eine zarte, etwas gebeugte Gestalt und trug den Kopf ein wenig schief. Aber mit eiserner Disziplin wußte er die Klasse in Zaum und Zügel zu halten. Wenn er mit uns Taeitus, Livius oder Cicero las, wenn er mit uns lateinische Verse machte, wenn er Herodot oder Lucian, Plutarch oder Thukydides erklärte, und namentlich wenn er griechische oder römische Geschichte vortrug, dann leuchteten seine hellen, braunen Augen in hoher Begeisterung, und in formvollendeter Beredsamkeit floß bei meisterhafter Beherr¬ schung des Stoffs die Rede von seinen Lippen und fesselte auch die langweiligsten Jungen. Wohl präpariert kamen wir in seine Stunden, und für die lateinische Privatlcktüre wußte er uns so zu begeistern, daß wir ganze Nächte saßen, um „Adversarien," d. h. kommentierende Bemerkungen zu Ciceros Reden oder zu Taeitus zu schreiben. Sah ich dann wohl am andern Morgen in der ersten Stunde des Professors Jhlefeldt ein wenig übermüdet aus, so rief dieser mir mit warnender Stentorstimme zu: „Bosse! Sie haben lukubriert! Das dürfen Sie nicht tun!" Er hatte ja Recht, aber Goßrau zuliebe lukubrierten wir gelegentlich immer wieder einmal. Nötig hätten wir es nicht gehabt. Wären wir weniger in die Kneipen oder auch in den Harz gelaufen, so hätte unsre Zeit vollkommen ausgereicht, deu Anforderungen der Schule auch an unsern Privatfleiß zu genügen. Von wirklicher Überbürdung war gar keine Rede. Wir hielten uns auch nicht für überbürdet. Ich war, als ich nach Sekunda kam, vierzehn Jahre alt geworden. Zu Ostern darauf sollte ich konfirmiert werden. Ich besuchte deshalb den Winter über den Konfirmandenunterricht des Superintendenten. Im Winter vorher hatte ich schon als „Zuhörer" am Konfirmationsunterricht des zweiten Geistlichen unsrer Parochie, des Pastors Hetnisch, teilgenommen. Beide Geistliche nahmen den Konfirmanden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/392>, abgerufen am 01.07.2024.