Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.Das Nackte in der Uunst wendiger ist als dem Manne, ist eine Folge des natürlichen Verhältnisses der Daß die unbefangne Aufnahme künstlerischer Darstellungen des Nackten So wenig aber auch moralische Vorbehalte gegenüber dem Nackten in der Wer diesen unabänderlichen Stand der Dinge leugnet und sich und andern Seitdem sind unser aller Augen "aufgetan," und keine Sophistik vermag Das Nackte in der Uunst wendiger ist als dem Manne, ist eine Folge des natürlichen Verhältnisses der Daß die unbefangne Aufnahme künstlerischer Darstellungen des Nackten So wenig aber auch moralische Vorbehalte gegenüber dem Nackten in der Wer diesen unabänderlichen Stand der Dinge leugnet und sich und andern Seitdem sind unser aller Augen „aufgetan," und keine Sophistik vermag <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0383" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/242451"/> <fw type="header" place="top"> Das Nackte in der Uunst</fw><lb/> <p xml:id="ID_1313" prev="#ID_1312"> wendiger ist als dem Manne, ist eine Folge des natürlichen Verhältnisses der<lb/> Geschlechter, das die Völker nnr im Zustande der Wildheit oder in dem ent¬<lb/> gegengesetzten der Fäulnis zu mißachten pflegen. Tatsächlich finden wir die<lb/> Schamhaftigkeit am Weibe soviel häufiger und soviel stärker entwickelt als am<lb/> Manne, daß sie vorzugsweise eine weibliche Tugend genannt werden darf. Es<lb/> hängt das offenbar mit der besondern Aufgabe des Weibes zusammen, die von<lb/> der Sitte durch eine ganz verschiedne Behandlung der beiden Geschlechter aner¬<lb/> kannt wird. Nur dem Unverstande entgeht an dieser Verschiedenheit ihrer Be¬<lb/> handlung, die ihn Ungerechtigkeit dünkt, die weise Anpassung an unumstö߬<lb/> liche Naturgesetze, von deren Hochhnltung die Würde der Frauen und somit<lb/> die Zukunft der Menschheit abhängt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1314"> Daß die unbefangne Aufnahme künstlerischer Darstellungen des Nackten<lb/> durch die Schamhaftigkeit erschwert wird wie es täglich beobachtet werden<lb/> kann —ist nicht zu verkennen und nicht zu ändern. Namentlich dem weib¬<lb/> lichen Kunstsinn, der ohnehin mit migünstigern Bedingungen seiner Entfaltung<lb/> kämpfen muß als der des Mannes, erwächst auch aus dieser Tugend ein<lb/> ästhetisches Hemmnis.</p><lb/> <p xml:id="ID_1315"> So wenig aber auch moralische Vorbehalte gegenüber dem Nackten in der<lb/> Kunst zu bedeuten haben, so unbestreitbar ist andrerseits eine empfindliche<lb/> Beeinträchtigung des Kunstgenusses durch die gefährliche Nachbarschaft der<lb/> Sinnlichkeit und ihres Gegengewichts, der Schamhaftigkeit. Das Kunstwerk<lb/> soll den trüben Strudel unsrer werktäglichen Vorstellungen niederschlagen und<lb/> abklären. Dadurch, daß es unsre Anschauungen in Anspruch nimmt, soll es<lb/> unsre Gefühle beruhigen und läutern und unsern Geist von ihrem Andrang<lb/> entlasten, damit ihn seine entfesselten Schwingen zu freiern Höhen und reinerer<lb/> Luft emportragen können. Das Nackte in der Kunst kann so nicht wirken.<lb/> Denn wie das Nackte im Leben den mächtigsten unsrer leiblichen Triebe erweckt,<lb/> so wirkt auch im Kunstwerk der Anblick des Nackten auf unverbildete Sinne<lb/> weit häufiger beunruhigend als reinigend und befreiend.</p><lb/> <p xml:id="ID_1316"> Wer diesen unabänderlichen Stand der Dinge leugnet und sich und andern<lb/> einreden will, ein gebildetes und kunstsinniges Auge vermöchte auf Dar¬<lb/> stellungen des Nackten so gelassen zu verweilen wie auf irgend einem andern<lb/> Bilde, der verwechselt das wache Bewußtsein des heutigen Kulturmenschen mit<lb/> der träumenden Unschuld des Paradieses. „Und sie waren beide nackend, der<lb/> Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht" — mit diesem einen Satz<lb/> zeichnet die biblische Erzählung den Zustand des ersten Menschenpaares vor<lb/> dem Sündenfall. „Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und wurden<lb/> gewahr, daß sie nackend waren" — das ist die erste Veränderung nach dem<lb/> Genuß der verbotnen Frucht von dem Baum der Erkenntnis. Und das<lb/> Bewußtsein ihrer Nacktheit verrät die Betörten dem göttlichen Richter. „Ich<lb/> hörte deine Stimme im Garten und fürchtete mich," sagt Adam zum Herrn,<lb/> „denn ich bin nackend, darum versteckte ich mich." Und er sprach: „Wer hat<lb/> dirs gesagt, daß du nackend bist?"</p><lb/> <p xml:id="ID_1317"> Seitdem sind unser aller Augen „aufgetan," und keine Sophistik vermag<lb/> ihnen den Verlornen Blick der Unschuld zurückzugeben.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0383]
Das Nackte in der Uunst
wendiger ist als dem Manne, ist eine Folge des natürlichen Verhältnisses der
Geschlechter, das die Völker nnr im Zustande der Wildheit oder in dem ent¬
gegengesetzten der Fäulnis zu mißachten pflegen. Tatsächlich finden wir die
Schamhaftigkeit am Weibe soviel häufiger und soviel stärker entwickelt als am
Manne, daß sie vorzugsweise eine weibliche Tugend genannt werden darf. Es
hängt das offenbar mit der besondern Aufgabe des Weibes zusammen, die von
der Sitte durch eine ganz verschiedne Behandlung der beiden Geschlechter aner¬
kannt wird. Nur dem Unverstande entgeht an dieser Verschiedenheit ihrer Be¬
handlung, die ihn Ungerechtigkeit dünkt, die weise Anpassung an unumstö߬
liche Naturgesetze, von deren Hochhnltung die Würde der Frauen und somit
die Zukunft der Menschheit abhängt.
Daß die unbefangne Aufnahme künstlerischer Darstellungen des Nackten
durch die Schamhaftigkeit erschwert wird wie es täglich beobachtet werden
kann —ist nicht zu verkennen und nicht zu ändern. Namentlich dem weib¬
lichen Kunstsinn, der ohnehin mit migünstigern Bedingungen seiner Entfaltung
kämpfen muß als der des Mannes, erwächst auch aus dieser Tugend ein
ästhetisches Hemmnis.
So wenig aber auch moralische Vorbehalte gegenüber dem Nackten in der
Kunst zu bedeuten haben, so unbestreitbar ist andrerseits eine empfindliche
Beeinträchtigung des Kunstgenusses durch die gefährliche Nachbarschaft der
Sinnlichkeit und ihres Gegengewichts, der Schamhaftigkeit. Das Kunstwerk
soll den trüben Strudel unsrer werktäglichen Vorstellungen niederschlagen und
abklären. Dadurch, daß es unsre Anschauungen in Anspruch nimmt, soll es
unsre Gefühle beruhigen und läutern und unsern Geist von ihrem Andrang
entlasten, damit ihn seine entfesselten Schwingen zu freiern Höhen und reinerer
Luft emportragen können. Das Nackte in der Kunst kann so nicht wirken.
Denn wie das Nackte im Leben den mächtigsten unsrer leiblichen Triebe erweckt,
so wirkt auch im Kunstwerk der Anblick des Nackten auf unverbildete Sinne
weit häufiger beunruhigend als reinigend und befreiend.
Wer diesen unabänderlichen Stand der Dinge leugnet und sich und andern
einreden will, ein gebildetes und kunstsinniges Auge vermöchte auf Dar¬
stellungen des Nackten so gelassen zu verweilen wie auf irgend einem andern
Bilde, der verwechselt das wache Bewußtsein des heutigen Kulturmenschen mit
der träumenden Unschuld des Paradieses. „Und sie waren beide nackend, der
Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht" — mit diesem einen Satz
zeichnet die biblische Erzählung den Zustand des ersten Menschenpaares vor
dem Sündenfall. „Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und wurden
gewahr, daß sie nackend waren" — das ist die erste Veränderung nach dem
Genuß der verbotnen Frucht von dem Baum der Erkenntnis. Und das
Bewußtsein ihrer Nacktheit verrät die Betörten dem göttlichen Richter. „Ich
hörte deine Stimme im Garten und fürchtete mich," sagt Adam zum Herrn,
„denn ich bin nackend, darum versteckte ich mich." Und er sprach: „Wer hat
dirs gesagt, daß du nackend bist?"
Seitdem sind unser aller Augen „aufgetan," und keine Sophistik vermag
ihnen den Verlornen Blick der Unschuld zurückzugeben.
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