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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Das Nackte in der Runst

der bedarf keiner andern Erklärung für die zurückhaltende Verwendung des
Nackten, die wir an den Kunstwerken der christlichen Zeitalter beobachten
können. Die christliche Sittenlehre ist an ihr nnr mittelbar beteiligt, insofern
sie nämlich bei dem Umschwung der Geschmacksrichtung als eine der treibenden
Kräfte mitwirkte. Es liegt auf der Hand, daß dieser mittelbare Einfluß
folgenreicher und nachhaltiger sein mußte als die zufällige Wirkung der
Frömmigkeit und der Sittenstrenge einzelner Künstler auf ihre Kunsttätigkeit.
Der Laie ist häufig versucht, deir breiter,? oder knappern Raum, den das Nackte
in den Werken eines Künstlers einnimmt, mit dessen grundsätzlicher oder tat¬
sächlicher Stellung zur christlichen Moral in Verbindung zu bringen -- ein
unreifes Beginnen, das leicht zu schiefen und ungerechten Urteilen führt. Der
Künstler darf sich das uicht anfechten lassen; das Schöne steht über dein Guten.
Es begreift das Gute in sich, überträgt es aber aus dem Reich des Willens
in die höhere Region des Geistes. Zum Überfluß ist die voreilige Folgerung
aus Ästhetischen auf Ethisches durch geschichtliche Tatsachen längst widerlegt.
Es braucht nur an Raffael erinnert zu werden, dessen malerische Behandlung
des Weibes an Keuschheit nicht übertroffen werden kann, und der sich doch
dem Dienst der lebendigen Schönheit in der freien Weise seiner Zeit so zügel¬
los hingab, daß sein vorzeitiges Ende auf diese Schwäche zurückgeführt werden
konnte -- ob mit Recht oder Unrecht, ändert nichts an der Tatsüchlichkeit
seines ungebundnen Lebenswandels. Was ihn von einer breiten und sinn¬
lichen Ausmalung des Nackten in der Manier der spätern Venezianer zurück¬
hielt, waren nicht moralische Grundsätze, sondern sein malerisches Genie in der
besondern Betätigung eines unvergleichlich entwickelten Instinkts für die Be¬
dürfnisse seiner Kunst.

Nicht besser als um die moralische Bewertung der Darstellungen des
Nackten steht es um die moralische Abwehr des Eindrucks solcher Darstellungen.
Unser Gefallen an dem Anblick des Nackten ist weder moralisch noch un¬
moralisch. Moralisch oder unmoralisch ist erst der Widerstand oder die Nach¬
giebigkeit unsers Willens gegen dieses Gefallen, also nicht die Empfindung,
sondern das aus sie folgende Verhalten. Das Gefallen selbst ist eine unver¬
meidliche Reaktion wie das Wärmegefühl bei hoher Temperatur. Fremd ist
es nur völlig wilden Stämmen, die keine Bekleidung und deshalb auch keine
Nacktheit kennen.

Das Gefallen am Nackten kann jedoch von einer andern Regung über¬
wogen, wohl auch im Keim erstickt werden, nämlich von einem angebornen
oder anerzogncn Gefühl der Schamhaftigkeit. Schamhaftigkeit ist eine natür¬
liche Anlage des Menschen, die dnrch eine fortschreitende Gesittung ausgebildet
wird. Zwischen Schamhaftigkeit und Fruchtbarkeit besteht eine nahe Verwandt¬
schaft, ebenso wie umgekehrt zwischen Schamlosigkeit und Unfruchtbarkeit. Für
die Erhaltung und die Vervollkommnung des Menschengeschlechts hat die
Schamhaftigkeit eine große Bedeutung und ist von Prüderie durchaus zu
unterscheiden. Die Prüderie verhält sich zur Schamhaftigkeit wie die Karikatur
zur Schönheit.

Schamhaftigkeit ziert Männer wie Frauen; daß sie der Frau noch not-


Das Nackte in der Runst

der bedarf keiner andern Erklärung für die zurückhaltende Verwendung des
Nackten, die wir an den Kunstwerken der christlichen Zeitalter beobachten
können. Die christliche Sittenlehre ist an ihr nnr mittelbar beteiligt, insofern
sie nämlich bei dem Umschwung der Geschmacksrichtung als eine der treibenden
Kräfte mitwirkte. Es liegt auf der Hand, daß dieser mittelbare Einfluß
folgenreicher und nachhaltiger sein mußte als die zufällige Wirkung der
Frömmigkeit und der Sittenstrenge einzelner Künstler auf ihre Kunsttätigkeit.
Der Laie ist häufig versucht, deir breiter,? oder knappern Raum, den das Nackte
in den Werken eines Künstlers einnimmt, mit dessen grundsätzlicher oder tat¬
sächlicher Stellung zur christlichen Moral in Verbindung zu bringen — ein
unreifes Beginnen, das leicht zu schiefen und ungerechten Urteilen führt. Der
Künstler darf sich das uicht anfechten lassen; das Schöne steht über dein Guten.
Es begreift das Gute in sich, überträgt es aber aus dem Reich des Willens
in die höhere Region des Geistes. Zum Überfluß ist die voreilige Folgerung
aus Ästhetischen auf Ethisches durch geschichtliche Tatsachen längst widerlegt.
Es braucht nur an Raffael erinnert zu werden, dessen malerische Behandlung
des Weibes an Keuschheit nicht übertroffen werden kann, und der sich doch
dem Dienst der lebendigen Schönheit in der freien Weise seiner Zeit so zügel¬
los hingab, daß sein vorzeitiges Ende auf diese Schwäche zurückgeführt werden
konnte — ob mit Recht oder Unrecht, ändert nichts an der Tatsüchlichkeit
seines ungebundnen Lebenswandels. Was ihn von einer breiten und sinn¬
lichen Ausmalung des Nackten in der Manier der spätern Venezianer zurück¬
hielt, waren nicht moralische Grundsätze, sondern sein malerisches Genie in der
besondern Betätigung eines unvergleichlich entwickelten Instinkts für die Be¬
dürfnisse seiner Kunst.

Nicht besser als um die moralische Bewertung der Darstellungen des
Nackten steht es um die moralische Abwehr des Eindrucks solcher Darstellungen.
Unser Gefallen an dem Anblick des Nackten ist weder moralisch noch un¬
moralisch. Moralisch oder unmoralisch ist erst der Widerstand oder die Nach¬
giebigkeit unsers Willens gegen dieses Gefallen, also nicht die Empfindung,
sondern das aus sie folgende Verhalten. Das Gefallen selbst ist eine unver¬
meidliche Reaktion wie das Wärmegefühl bei hoher Temperatur. Fremd ist
es nur völlig wilden Stämmen, die keine Bekleidung und deshalb auch keine
Nacktheit kennen.

Das Gefallen am Nackten kann jedoch von einer andern Regung über¬
wogen, wohl auch im Keim erstickt werden, nämlich von einem angebornen
oder anerzogncn Gefühl der Schamhaftigkeit. Schamhaftigkeit ist eine natür¬
liche Anlage des Menschen, die dnrch eine fortschreitende Gesittung ausgebildet
wird. Zwischen Schamhaftigkeit und Fruchtbarkeit besteht eine nahe Verwandt¬
schaft, ebenso wie umgekehrt zwischen Schamlosigkeit und Unfruchtbarkeit. Für
die Erhaltung und die Vervollkommnung des Menschengeschlechts hat die
Schamhaftigkeit eine große Bedeutung und ist von Prüderie durchaus zu
unterscheiden. Die Prüderie verhält sich zur Schamhaftigkeit wie die Karikatur
zur Schönheit.

Schamhaftigkeit ziert Männer wie Frauen; daß sie der Frau noch not-


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[0382] Das Nackte in der Runst der bedarf keiner andern Erklärung für die zurückhaltende Verwendung des Nackten, die wir an den Kunstwerken der christlichen Zeitalter beobachten können. Die christliche Sittenlehre ist an ihr nnr mittelbar beteiligt, insofern sie nämlich bei dem Umschwung der Geschmacksrichtung als eine der treibenden Kräfte mitwirkte. Es liegt auf der Hand, daß dieser mittelbare Einfluß folgenreicher und nachhaltiger sein mußte als die zufällige Wirkung der Frömmigkeit und der Sittenstrenge einzelner Künstler auf ihre Kunsttätigkeit. Der Laie ist häufig versucht, deir breiter,? oder knappern Raum, den das Nackte in den Werken eines Künstlers einnimmt, mit dessen grundsätzlicher oder tat¬ sächlicher Stellung zur christlichen Moral in Verbindung zu bringen — ein unreifes Beginnen, das leicht zu schiefen und ungerechten Urteilen führt. Der Künstler darf sich das uicht anfechten lassen; das Schöne steht über dein Guten. Es begreift das Gute in sich, überträgt es aber aus dem Reich des Willens in die höhere Region des Geistes. Zum Überfluß ist die voreilige Folgerung aus Ästhetischen auf Ethisches durch geschichtliche Tatsachen längst widerlegt. Es braucht nur an Raffael erinnert zu werden, dessen malerische Behandlung des Weibes an Keuschheit nicht übertroffen werden kann, und der sich doch dem Dienst der lebendigen Schönheit in der freien Weise seiner Zeit so zügel¬ los hingab, daß sein vorzeitiges Ende auf diese Schwäche zurückgeführt werden konnte — ob mit Recht oder Unrecht, ändert nichts an der Tatsüchlichkeit seines ungebundnen Lebenswandels. Was ihn von einer breiten und sinn¬ lichen Ausmalung des Nackten in der Manier der spätern Venezianer zurück¬ hielt, waren nicht moralische Grundsätze, sondern sein malerisches Genie in der besondern Betätigung eines unvergleichlich entwickelten Instinkts für die Be¬ dürfnisse seiner Kunst. Nicht besser als um die moralische Bewertung der Darstellungen des Nackten steht es um die moralische Abwehr des Eindrucks solcher Darstellungen. Unser Gefallen an dem Anblick des Nackten ist weder moralisch noch un¬ moralisch. Moralisch oder unmoralisch ist erst der Widerstand oder die Nach¬ giebigkeit unsers Willens gegen dieses Gefallen, also nicht die Empfindung, sondern das aus sie folgende Verhalten. Das Gefallen selbst ist eine unver¬ meidliche Reaktion wie das Wärmegefühl bei hoher Temperatur. Fremd ist es nur völlig wilden Stämmen, die keine Bekleidung und deshalb auch keine Nacktheit kennen. Das Gefallen am Nackten kann jedoch von einer andern Regung über¬ wogen, wohl auch im Keim erstickt werden, nämlich von einem angebornen oder anerzogncn Gefühl der Schamhaftigkeit. Schamhaftigkeit ist eine natür¬ liche Anlage des Menschen, die dnrch eine fortschreitende Gesittung ausgebildet wird. Zwischen Schamhaftigkeit und Fruchtbarkeit besteht eine nahe Verwandt¬ schaft, ebenso wie umgekehrt zwischen Schamlosigkeit und Unfruchtbarkeit. Für die Erhaltung und die Vervollkommnung des Menschengeschlechts hat die Schamhaftigkeit eine große Bedeutung und ist von Prüderie durchaus zu unterscheiden. Die Prüderie verhält sich zur Schamhaftigkeit wie die Karikatur zur Schönheit. Schamhaftigkeit ziert Männer wie Frauen; daß sie der Frau noch not-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/382>, abgerufen am 01.07.2024.