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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Das Nackte in der Kunst

schaftliche Interesse vertauschen müssen. Das Vorrecht ewiger Jugend blieb
den hellenischen Schöpfungen vorbehalten; Zeus und Hera, Hermes und
Apollo, Pallas und Aphrodite reden in ihren schweigenden Marmorbildern
eine Sprache, die verstanden werden wird, so lange die Kiuder der Meuscheu
den Erdball bewohnen.

Es ist vorhin bemerkt worden, daß nnter den bildenden Künsten die
Skulptur die erste war, der Würfe von bleibendem Wert gelangen; und es ist
ja bekannt, daß die Malerei der Alten -- wie noch mehr ihre Musik -- hinter
ihrer plastischen Kunst weit zurückblieb. Zur Erklärung solcher Tatsachen
kann man sie von verschiednen Seiten betrachten und ans jeder Seite eine
neue Ursache entdecken. Unter den zusammenwirkenden Umständen, denen die
Skulptur im Altertum ihre beherrschende Stellung verdankte, ist die glückliche
Ausgiebigkeit der vorhandnen Vorräte an brauchbaren Rohstoffen, also nament¬
lich an dem besten Marmor, gewiß nicht an letzter Stelle zu nennen. Die Be¬
deutung des Materials für deu Bildhauer hat erst neuerdings Max Klinger
durch eine befreundete Feder weitern Kreisen auseinandersetzen lasse". Die
Triebfeder des Schaffens eines Praxiteles und seiner Genossen lag gleich¬
wohl nicht in den griechischen und den italischen Steinbrüchen, sondern in der
Eigentümlichkeit des hellenischen Geistes einerseits und der des plastischen
Schaffens andrerseits. Der antike Schönheitsbegriff gipfelt in dem einzelnen
Menschenkörper; die Darstellung dieses Gegenstandes in seinen tausendfältigen
Erscheinungen ist aber das eigenste Stoffgebiet der Meißelkuust. In seiner
Behandlung entfaltet sie ihre größte Stärke, und seine Behandlung gelingt
keiner andern Kunst in demselben Maße wie ihr, weil nur ihr die Dimension
des Raumes erreichbar ist. Aus demselben Zusammenhange erklärt es sich,
daß die Nacktheit als künstlerischer Vorwurf von allen Künsten der Plastik
am nächsten liegt. Denn die Erscheinung des einzelnen Menschen läßt sich in
ihrer reinsten Gestalt nicht anders als nackend darstellen und wirkt in solcher
Darstellung befreiender und erhebender als in der schönsten Gewandung, die
immer einer bestimmten Zeit und einem begrenzten Nciumgebiet angehört.
Allerdings gilt das nur von den vollendetsten Werken, also von denen, die
ans der Einbildungskraft entspringen. Die plastische Abbildung wirklicher
Menschen muß auch ihre wirkliche Bekleidung nachahmen; sonst belastet sie das
Bild mit einem fremdartigen Eindruck.

Im Vergleich mit den ältesten Anfängen der Kunst auf einem hohen
Standpunkt stehend erscheint doch das hellenische Zeitalter uns Spätcrgeborncn
als die Stufe der Kindheit in der Entwicklung der Künste. Eng angelehnt
an Gottesdienst und Gottesvorstellung, den wahrscheinlichen Ursprung aller
Kunst, behandelt die griechische Plastik das einzelne Menschenbild mit Not¬
wendigkeit als ihren häufigsten und höchsten Vorwurf, da zu keiner Zeit die
Menschen als Masse das unreife Bedürfnis unterdrückt haben, der Gottheit
ein sichtbares Bild unterzuschieben, und sie dann immer wieder auf ihre eigue
Gestalt verfielen, als auf das vollkommenste Stück der sichtbaren Schöpfung.
Die Kunstanschauung der Alten hat sich über den einzelnen Menschen selten
hinausgewagt; wie das ja auch der Plastik nach ihren Darstellungsmitteln mir


Das Nackte in der Kunst

schaftliche Interesse vertauschen müssen. Das Vorrecht ewiger Jugend blieb
den hellenischen Schöpfungen vorbehalten; Zeus und Hera, Hermes und
Apollo, Pallas und Aphrodite reden in ihren schweigenden Marmorbildern
eine Sprache, die verstanden werden wird, so lange die Kiuder der Meuscheu
den Erdball bewohnen.

Es ist vorhin bemerkt worden, daß nnter den bildenden Künsten die
Skulptur die erste war, der Würfe von bleibendem Wert gelangen; und es ist
ja bekannt, daß die Malerei der Alten — wie noch mehr ihre Musik — hinter
ihrer plastischen Kunst weit zurückblieb. Zur Erklärung solcher Tatsachen
kann man sie von verschiednen Seiten betrachten und ans jeder Seite eine
neue Ursache entdecken. Unter den zusammenwirkenden Umständen, denen die
Skulptur im Altertum ihre beherrschende Stellung verdankte, ist die glückliche
Ausgiebigkeit der vorhandnen Vorräte an brauchbaren Rohstoffen, also nament¬
lich an dem besten Marmor, gewiß nicht an letzter Stelle zu nennen. Die Be¬
deutung des Materials für deu Bildhauer hat erst neuerdings Max Klinger
durch eine befreundete Feder weitern Kreisen auseinandersetzen lasse». Die
Triebfeder des Schaffens eines Praxiteles und seiner Genossen lag gleich¬
wohl nicht in den griechischen und den italischen Steinbrüchen, sondern in der
Eigentümlichkeit des hellenischen Geistes einerseits und der des plastischen
Schaffens andrerseits. Der antike Schönheitsbegriff gipfelt in dem einzelnen
Menschenkörper; die Darstellung dieses Gegenstandes in seinen tausendfältigen
Erscheinungen ist aber das eigenste Stoffgebiet der Meißelkuust. In seiner
Behandlung entfaltet sie ihre größte Stärke, und seine Behandlung gelingt
keiner andern Kunst in demselben Maße wie ihr, weil nur ihr die Dimension
des Raumes erreichbar ist. Aus demselben Zusammenhange erklärt es sich,
daß die Nacktheit als künstlerischer Vorwurf von allen Künsten der Plastik
am nächsten liegt. Denn die Erscheinung des einzelnen Menschen läßt sich in
ihrer reinsten Gestalt nicht anders als nackend darstellen und wirkt in solcher
Darstellung befreiender und erhebender als in der schönsten Gewandung, die
immer einer bestimmten Zeit und einem begrenzten Nciumgebiet angehört.
Allerdings gilt das nur von den vollendetsten Werken, also von denen, die
ans der Einbildungskraft entspringen. Die plastische Abbildung wirklicher
Menschen muß auch ihre wirkliche Bekleidung nachahmen; sonst belastet sie das
Bild mit einem fremdartigen Eindruck.

Im Vergleich mit den ältesten Anfängen der Kunst auf einem hohen
Standpunkt stehend erscheint doch das hellenische Zeitalter uns Spätcrgeborncn
als die Stufe der Kindheit in der Entwicklung der Künste. Eng angelehnt
an Gottesdienst und Gottesvorstellung, den wahrscheinlichen Ursprung aller
Kunst, behandelt die griechische Plastik das einzelne Menschenbild mit Not¬
wendigkeit als ihren häufigsten und höchsten Vorwurf, da zu keiner Zeit die
Menschen als Masse das unreife Bedürfnis unterdrückt haben, der Gottheit
ein sichtbares Bild unterzuschieben, und sie dann immer wieder auf ihre eigue
Gestalt verfielen, als auf das vollkommenste Stück der sichtbaren Schöpfung.
Die Kunstanschauung der Alten hat sich über den einzelnen Menschen selten
hinausgewagt; wie das ja auch der Plastik nach ihren Darstellungsmitteln mir


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[0378] Das Nackte in der Kunst schaftliche Interesse vertauschen müssen. Das Vorrecht ewiger Jugend blieb den hellenischen Schöpfungen vorbehalten; Zeus und Hera, Hermes und Apollo, Pallas und Aphrodite reden in ihren schweigenden Marmorbildern eine Sprache, die verstanden werden wird, so lange die Kiuder der Meuscheu den Erdball bewohnen. Es ist vorhin bemerkt worden, daß nnter den bildenden Künsten die Skulptur die erste war, der Würfe von bleibendem Wert gelangen; und es ist ja bekannt, daß die Malerei der Alten — wie noch mehr ihre Musik — hinter ihrer plastischen Kunst weit zurückblieb. Zur Erklärung solcher Tatsachen kann man sie von verschiednen Seiten betrachten und ans jeder Seite eine neue Ursache entdecken. Unter den zusammenwirkenden Umständen, denen die Skulptur im Altertum ihre beherrschende Stellung verdankte, ist die glückliche Ausgiebigkeit der vorhandnen Vorräte an brauchbaren Rohstoffen, also nament¬ lich an dem besten Marmor, gewiß nicht an letzter Stelle zu nennen. Die Be¬ deutung des Materials für deu Bildhauer hat erst neuerdings Max Klinger durch eine befreundete Feder weitern Kreisen auseinandersetzen lasse». Die Triebfeder des Schaffens eines Praxiteles und seiner Genossen lag gleich¬ wohl nicht in den griechischen und den italischen Steinbrüchen, sondern in der Eigentümlichkeit des hellenischen Geistes einerseits und der des plastischen Schaffens andrerseits. Der antike Schönheitsbegriff gipfelt in dem einzelnen Menschenkörper; die Darstellung dieses Gegenstandes in seinen tausendfältigen Erscheinungen ist aber das eigenste Stoffgebiet der Meißelkuust. In seiner Behandlung entfaltet sie ihre größte Stärke, und seine Behandlung gelingt keiner andern Kunst in demselben Maße wie ihr, weil nur ihr die Dimension des Raumes erreichbar ist. Aus demselben Zusammenhange erklärt es sich, daß die Nacktheit als künstlerischer Vorwurf von allen Künsten der Plastik am nächsten liegt. Denn die Erscheinung des einzelnen Menschen läßt sich in ihrer reinsten Gestalt nicht anders als nackend darstellen und wirkt in solcher Darstellung befreiender und erhebender als in der schönsten Gewandung, die immer einer bestimmten Zeit und einem begrenzten Nciumgebiet angehört. Allerdings gilt das nur von den vollendetsten Werken, also von denen, die ans der Einbildungskraft entspringen. Die plastische Abbildung wirklicher Menschen muß auch ihre wirkliche Bekleidung nachahmen; sonst belastet sie das Bild mit einem fremdartigen Eindruck. Im Vergleich mit den ältesten Anfängen der Kunst auf einem hohen Standpunkt stehend erscheint doch das hellenische Zeitalter uns Spätcrgeborncn als die Stufe der Kindheit in der Entwicklung der Künste. Eng angelehnt an Gottesdienst und Gottesvorstellung, den wahrscheinlichen Ursprung aller Kunst, behandelt die griechische Plastik das einzelne Menschenbild mit Not¬ wendigkeit als ihren häufigsten und höchsten Vorwurf, da zu keiner Zeit die Menschen als Masse das unreife Bedürfnis unterdrückt haben, der Gottheit ein sichtbares Bild unterzuschieben, und sie dann immer wieder auf ihre eigue Gestalt verfielen, als auf das vollkommenste Stück der sichtbaren Schöpfung. Die Kunstanschauung der Alten hat sich über den einzelnen Menschen selten hinausgewagt; wie das ja auch der Plastik nach ihren Darstellungsmitteln mir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/378>, abgerufen am 02.10.2024.