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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

ersten Höschen einsticken, die er seiner Gewohnheit nach mit einer feierlichen
Rede überreicht. Von einem der Volkslieder: Bur, holl seur! lautet die erste
Strophe:

Ans der zweiten Seite schreibt der dem Publikum als Erzähler noch ganz
unbekannte Autor -- er hat bisher nur Gedichte und Dramatisches veröffent¬
licht -- von seinem Buche: "Es ist ein volkstümliches Buch, denn was es
enthält, es wurzelt im ureigner Wesen des deutschen Volks. Es ist ein ernstes
Buch, es ist ein heiteres Buch. Ja beim Krauskopf kann man lachen, herzlich
lachen, wenn man das Lachen noch nicht gänzlich verlernt hat. Und reine
Luft weht dort. Reine Luft aber und herzliches Lachen, sie tun dem
Menschen so gut, sie sind ihm gesund." Ein bißchen kühn, sagt sich der
kritische Leser zunächst wohl; aber nicht im mindesten aufgeschnitten, fügt er
hinzu, wenn er mit der letzten Seite fertig ist. Es ist ein köstliches Buch.


Lari Jentsch


Zwei Seelen
Lin Lebensbild von Wilhelm Speck
(Fortsetzung)
11

ruhe Wolken hingen um Himmel, das Korn war abgemäht, und der
Wind fuhr über die Stoppelfelder, als ich zum zweitenmal an die
Gefängnispforte anklopfte. Diesesmal verlief mein Gefcmgnenleben
anders, als das vorigemal, da die Verletzung, die ich beim Sturz
erlitten hatte, nicht heilen wollte. Ich mußte mich darauf einrichte",
!mit einem lahmen Bein durch das Leben zu humpeln. Man nahm
mich sogleich ins Lazarett auf und behandelte mich mehr als einen Kranken, als
einen Gefangnen. So verlief meine Zeit ohne besondre Erlebnisse, und doch wurde
auch in diesen stillen Tagen, in denen ich nur hinnehmen, nicht aber etwas eignes
tun konnte, an dem weichen Ton geformt, aus dem sich das, was ich zu werden
bestimmt war, langsam entfaltete. Ich machte eine Bekanntschaft, die für mein
weiteres Leben von verhängnisvoller Bedeutung wurde.

Wir lagen in einem geräumigen Saale, der lang und schmal, mit einer hellen
Ölfarbe gestrichen und von unbeschreiblicher Nüchternheit war. Auch von außen
her kam nichts freundliches herein, die untern Scheiben waren geblendet, und
wenn wir uns aufrichteten, so übersahen wir nur ein begrenztes Stück grauen
Himmels und sahen die Wolken kommen und gehn. Die schönen sonnigen Tage
waren vorüber, die Schwalben waren heimwärts gezogen, und die Blätter fielen.

Es standen fünf Betten nebeneinander im Saale, die sämtlich belegt waren.
Meine Leidensgefährten waren wenig zugängliche Menschen, und ich selber in keiner
mitteilsamen Stimmung. So hörte man nur wenig Worte. Jeder war mit sich
selbst beschäftigt, und langsam schlichen die Stunden hin, unterbrochen nur von


Zwei Seelen

ersten Höschen einsticken, die er seiner Gewohnheit nach mit einer feierlichen
Rede überreicht. Von einem der Volkslieder: Bur, holl seur! lautet die erste
Strophe:

Ans der zweiten Seite schreibt der dem Publikum als Erzähler noch ganz
unbekannte Autor — er hat bisher nur Gedichte und Dramatisches veröffent¬
licht — von seinem Buche: „Es ist ein volkstümliches Buch, denn was es
enthält, es wurzelt im ureigner Wesen des deutschen Volks. Es ist ein ernstes
Buch, es ist ein heiteres Buch. Ja beim Krauskopf kann man lachen, herzlich
lachen, wenn man das Lachen noch nicht gänzlich verlernt hat. Und reine
Luft weht dort. Reine Luft aber und herzliches Lachen, sie tun dem
Menschen so gut, sie sind ihm gesund." Ein bißchen kühn, sagt sich der
kritische Leser zunächst wohl; aber nicht im mindesten aufgeschnitten, fügt er
hinzu, wenn er mit der letzten Seite fertig ist. Es ist ein köstliches Buch.


Lari Jentsch


Zwei Seelen
Lin Lebensbild von Wilhelm Speck
(Fortsetzung)
11

ruhe Wolken hingen um Himmel, das Korn war abgemäht, und der
Wind fuhr über die Stoppelfelder, als ich zum zweitenmal an die
Gefängnispforte anklopfte. Diesesmal verlief mein Gefcmgnenleben
anders, als das vorigemal, da die Verletzung, die ich beim Sturz
erlitten hatte, nicht heilen wollte. Ich mußte mich darauf einrichte»,
!mit einem lahmen Bein durch das Leben zu humpeln. Man nahm
mich sogleich ins Lazarett auf und behandelte mich mehr als einen Kranken, als
einen Gefangnen. So verlief meine Zeit ohne besondre Erlebnisse, und doch wurde
auch in diesen stillen Tagen, in denen ich nur hinnehmen, nicht aber etwas eignes
tun konnte, an dem weichen Ton geformt, aus dem sich das, was ich zu werden
bestimmt war, langsam entfaltete. Ich machte eine Bekanntschaft, die für mein
weiteres Leben von verhängnisvoller Bedeutung wurde.

Wir lagen in einem geräumigen Saale, der lang und schmal, mit einer hellen
Ölfarbe gestrichen und von unbeschreiblicher Nüchternheit war. Auch von außen
her kam nichts freundliches herein, die untern Scheiben waren geblendet, und
wenn wir uns aufrichteten, so übersahen wir nur ein begrenztes Stück grauen
Himmels und sahen die Wolken kommen und gehn. Die schönen sonnigen Tage
waren vorüber, die Schwalben waren heimwärts gezogen, und die Blätter fielen.

Es standen fünf Betten nebeneinander im Saale, die sämtlich belegt waren.
Meine Leidensgefährten waren wenig zugängliche Menschen, und ich selber in keiner
mitteilsamen Stimmung. So hörte man nur wenig Worte. Jeder war mit sich
selbst beschäftigt, und langsam schlichen die Stunden hin, unterbrochen nur von


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[0330] Zwei Seelen ersten Höschen einsticken, die er seiner Gewohnheit nach mit einer feierlichen Rede überreicht. Von einem der Volkslieder: Bur, holl seur! lautet die erste Strophe: Ans der zweiten Seite schreibt der dem Publikum als Erzähler noch ganz unbekannte Autor — er hat bisher nur Gedichte und Dramatisches veröffent¬ licht — von seinem Buche: „Es ist ein volkstümliches Buch, denn was es enthält, es wurzelt im ureigner Wesen des deutschen Volks. Es ist ein ernstes Buch, es ist ein heiteres Buch. Ja beim Krauskopf kann man lachen, herzlich lachen, wenn man das Lachen noch nicht gänzlich verlernt hat. Und reine Luft weht dort. Reine Luft aber und herzliches Lachen, sie tun dem Menschen so gut, sie sind ihm gesund." Ein bißchen kühn, sagt sich der kritische Leser zunächst wohl; aber nicht im mindesten aufgeschnitten, fügt er hinzu, wenn er mit der letzten Seite fertig ist. Es ist ein köstliches Buch. Lari Jentsch Zwei Seelen Lin Lebensbild von Wilhelm Speck (Fortsetzung) 11 ruhe Wolken hingen um Himmel, das Korn war abgemäht, und der Wind fuhr über die Stoppelfelder, als ich zum zweitenmal an die Gefängnispforte anklopfte. Diesesmal verlief mein Gefcmgnenleben anders, als das vorigemal, da die Verletzung, die ich beim Sturz erlitten hatte, nicht heilen wollte. Ich mußte mich darauf einrichte», !mit einem lahmen Bein durch das Leben zu humpeln. Man nahm mich sogleich ins Lazarett auf und behandelte mich mehr als einen Kranken, als einen Gefangnen. So verlief meine Zeit ohne besondre Erlebnisse, und doch wurde auch in diesen stillen Tagen, in denen ich nur hinnehmen, nicht aber etwas eignes tun konnte, an dem weichen Ton geformt, aus dem sich das, was ich zu werden bestimmt war, langsam entfaltete. Ich machte eine Bekanntschaft, die für mein weiteres Leben von verhängnisvoller Bedeutung wurde. Wir lagen in einem geräumigen Saale, der lang und schmal, mit einer hellen Ölfarbe gestrichen und von unbeschreiblicher Nüchternheit war. Auch von außen her kam nichts freundliches herein, die untern Scheiben waren geblendet, und wenn wir uns aufrichteten, so übersahen wir nur ein begrenztes Stück grauen Himmels und sahen die Wolken kommen und gehn. Die schönen sonnigen Tage waren vorüber, die Schwalben waren heimwärts gezogen, und die Blätter fielen. Es standen fünf Betten nebeneinander im Saale, die sämtlich belegt waren. Meine Leidensgefährten waren wenig zugängliche Menschen, und ich selber in keiner mitteilsamen Stimmung. So hörte man nur wenig Worte. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, und langsam schlichen die Stunden hin, unterbrochen nur von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/330>, abgerufen am 22.07.2024.