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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

trinken, fragten much Wege" der Nachtherberge an und fingen, als dieses alles in
bester Ordnung war, wieder an, unsre verjährten Begebenheiten zu besprechen.
Dabei tauchte im Spiegel meiner Seele manches vergessene Gesicht wieder auf, und
manche vergessene Gestalt ging an mir vorüber; auch das kleine Marthchen, von
dem ich hörte, daß es inzwischen zu eiuer blühenden Jungfrau herangewachsen sei,
leuchtete wie ein ferner Stern zum erstenmal wieder in mein Leben hinein.
Unter diesem stillen Erzählen, zu dem ein naher Brunnen unaufhörlich rauschte
und sprudelte, vergaß ich am Ende, daß der Mann vor mir der Verderber meiner
Jugend und ein Wesen vom schlechtesten Rufe war.

Ich sollte jedoch noch daran erinnert werden, denn als wir ein Stündchen
die Kühle des fortschreitenden Abends, den Duft eines wilden Rosenstrauchs, der
da herum in einem Winkel blühen mußte, und dazu die friedliche Ruhe des Orts
genossen hatten, ließ sich plötzlich das Rasseln eines Wagens vernehmen, und nach
einer kleinen Weile hielt ein Mühlknecht sein Gefährt vor dem Wirtshaus an,
um ebenfalls noch einen Abendtrunk zu nehmen. Mir stieg das Blut ins Gesicht,
denn es war einer von den Knechten, die ich vor kurzem bewirtet hatte, und von
denen ich zum Dank dafür in die Nesseln geworfen worden war. Auch der Knecht
erinnerte sich seines Heldenstücks, lachte mir, als er mich erblickte, höhnisch zu und
schien Lust zu haben, den guten Spaß noch einmal aufzuwärmen. Da ich hierzu
meinerseits keine Neigung verspürte, stand ich auf und machte Anstalten, mich zu
verabschieden. Schöne aber, der mit einem Blick die Sachlage überschaut hatte,
hielt mich zurück und flüsterte mir zu: Du wirst doch nicht! Das ist doch ein Knecht
von deinem ehemaligen Schwiegervater? Du wirst doch nicht ausreißen Wollen?

Laßt ihn nur laufen, höhnte der Knecht. Das Bürschlein hat Angst.

Nicht Angst, erwiderte ich; ich gehe einem Flegel aus dem Wege.

Das Wort war kaum ausgesprochen, so hatte ich mich schon mit dem Knecht
in den Haaren und durfte darauf rechnen, da der Mensch im Vergleich zu mir
ein Koloß war, von neuem auf die jämmerlichste Weise geschunden zu werden. Jetzt
aber kam mir Schöne zu Hilfe, indem er meinen Gegner mit seiner alten Gewandt¬
heit von rückwärts unterlief, ihn dadurch in eine Stellung brachte, in der er einen
Augenblick zwischen Himmel und Erde schwebte, und dann unter einer Wolke von
Mehlstaub ächzend zu Boden fiel. Ans den Lärm stürzte die Wirtin mit ihrem
Manne heraus, und die beiden rissen uns scheltend voneinander. Die ganze Schlacht
verlief schneller, als man sie schildern kann, und war schon vorüber, ehe ich recht zur
Besinnung kam. Nun siel die Wirtin über uns mit bösen Reden her und gebot,
Schöne solle sich trollen, einen Menschen wie ihn beherberge sie nicht. Er fand
sich auch sogleich in sein Schicksal und war schon, ehe man sichs versah, um die
Ecke und auf der Straße. Ich klopfte mir den Mehlstaub ab und ging mit zer¬
rissenem Rock und blutendem Gesicht meiner Wege, und als ich zu Hause augelangt
die beschmutzten und verdorbnen Kleider auszog und mir dabei deu ganzen häßlichen
Auftritt von neuem vergegenwärtigte, schämte ich mich von ganzem Herzen, obwohl
ich nichts Unrechtes getan, sondern mich nur meiner Haut gewehrt hatte, und eine
grenzenlose Traurigkeit legte sich über mein Herz, obwohl ich noch nicht wußte, daß
das, was ich soeben erlebt hatte, den Samen einer ganzen Zukunft in sich barg.

Ich hatte kaum ein wenig gelegen, so klopfte die Polizei an unsre Tür und
erschien nach einigen Augenblicken von meiner erschrocknen Mutter geleitet bei mir
im Zimmer. Ich selbst wunderte mich über ihr Erscheinen mehr, als daß ich
darüber erschrak, wie wurde mir aber zumute, als ich hörte, daß dem Knechte
beim Ringen die Geldkatze abgerissen und geraubt worden war. Sofort begriff
ich, warum Schöne solche Eile gehabt hatte, weiterzukommen. Ich sprach meine
Ansicht auch sogleich vor den Beamten ans, erlangte aber von ihnen nur ein vor¬
sichtiges und ungläubiges Lächeln. Alle Schränke und Behältnisse wurden nun
durchwühlt, und zuletzt wurde ich aufgefordert, anzugehn. Als ich aus dem Hanse
trat, erkannte ich, daß ich ein Verlorner Mann war. Zwar von dieser Anschuldigung


Zwei Seelen

trinken, fragten much Wege» der Nachtherberge an und fingen, als dieses alles in
bester Ordnung war, wieder an, unsre verjährten Begebenheiten zu besprechen.
Dabei tauchte im Spiegel meiner Seele manches vergessene Gesicht wieder auf, und
manche vergessene Gestalt ging an mir vorüber; auch das kleine Marthchen, von
dem ich hörte, daß es inzwischen zu eiuer blühenden Jungfrau herangewachsen sei,
leuchtete wie ein ferner Stern zum erstenmal wieder in mein Leben hinein.
Unter diesem stillen Erzählen, zu dem ein naher Brunnen unaufhörlich rauschte
und sprudelte, vergaß ich am Ende, daß der Mann vor mir der Verderber meiner
Jugend und ein Wesen vom schlechtesten Rufe war.

Ich sollte jedoch noch daran erinnert werden, denn als wir ein Stündchen
die Kühle des fortschreitenden Abends, den Duft eines wilden Rosenstrauchs, der
da herum in einem Winkel blühen mußte, und dazu die friedliche Ruhe des Orts
genossen hatten, ließ sich plötzlich das Rasseln eines Wagens vernehmen, und nach
einer kleinen Weile hielt ein Mühlknecht sein Gefährt vor dem Wirtshaus an,
um ebenfalls noch einen Abendtrunk zu nehmen. Mir stieg das Blut ins Gesicht,
denn es war einer von den Knechten, die ich vor kurzem bewirtet hatte, und von
denen ich zum Dank dafür in die Nesseln geworfen worden war. Auch der Knecht
erinnerte sich seines Heldenstücks, lachte mir, als er mich erblickte, höhnisch zu und
schien Lust zu haben, den guten Spaß noch einmal aufzuwärmen. Da ich hierzu
meinerseits keine Neigung verspürte, stand ich auf und machte Anstalten, mich zu
verabschieden. Schöne aber, der mit einem Blick die Sachlage überschaut hatte,
hielt mich zurück und flüsterte mir zu: Du wirst doch nicht! Das ist doch ein Knecht
von deinem ehemaligen Schwiegervater? Du wirst doch nicht ausreißen Wollen?

Laßt ihn nur laufen, höhnte der Knecht. Das Bürschlein hat Angst.

Nicht Angst, erwiderte ich; ich gehe einem Flegel aus dem Wege.

Das Wort war kaum ausgesprochen, so hatte ich mich schon mit dem Knecht
in den Haaren und durfte darauf rechnen, da der Mensch im Vergleich zu mir
ein Koloß war, von neuem auf die jämmerlichste Weise geschunden zu werden. Jetzt
aber kam mir Schöne zu Hilfe, indem er meinen Gegner mit seiner alten Gewandt¬
heit von rückwärts unterlief, ihn dadurch in eine Stellung brachte, in der er einen
Augenblick zwischen Himmel und Erde schwebte, und dann unter einer Wolke von
Mehlstaub ächzend zu Boden fiel. Ans den Lärm stürzte die Wirtin mit ihrem
Manne heraus, und die beiden rissen uns scheltend voneinander. Die ganze Schlacht
verlief schneller, als man sie schildern kann, und war schon vorüber, ehe ich recht zur
Besinnung kam. Nun siel die Wirtin über uns mit bösen Reden her und gebot,
Schöne solle sich trollen, einen Menschen wie ihn beherberge sie nicht. Er fand
sich auch sogleich in sein Schicksal und war schon, ehe man sichs versah, um die
Ecke und auf der Straße. Ich klopfte mir den Mehlstaub ab und ging mit zer¬
rissenem Rock und blutendem Gesicht meiner Wege, und als ich zu Hause augelangt
die beschmutzten und verdorbnen Kleider auszog und mir dabei deu ganzen häßlichen
Auftritt von neuem vergegenwärtigte, schämte ich mich von ganzem Herzen, obwohl
ich nichts Unrechtes getan, sondern mich nur meiner Haut gewehrt hatte, und eine
grenzenlose Traurigkeit legte sich über mein Herz, obwohl ich noch nicht wußte, daß
das, was ich soeben erlebt hatte, den Samen einer ganzen Zukunft in sich barg.

Ich hatte kaum ein wenig gelegen, so klopfte die Polizei an unsre Tür und
erschien nach einigen Augenblicken von meiner erschrocknen Mutter geleitet bei mir
im Zimmer. Ich selbst wunderte mich über ihr Erscheinen mehr, als daß ich
darüber erschrak, wie wurde mir aber zumute, als ich hörte, daß dem Knechte
beim Ringen die Geldkatze abgerissen und geraubt worden war. Sofort begriff
ich, warum Schöne solche Eile gehabt hatte, weiterzukommen. Ich sprach meine
Ansicht auch sogleich vor den Beamten ans, erlangte aber von ihnen nur ein vor¬
sichtiges und ungläubiges Lächeln. Alle Schränke und Behältnisse wurden nun
durchwühlt, und zuletzt wurde ich aufgefordert, anzugehn. Als ich aus dem Hanse
trat, erkannte ich, daß ich ein Verlorner Mann war. Zwar von dieser Anschuldigung


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[0264] Zwei Seelen trinken, fragten much Wege» der Nachtherberge an und fingen, als dieses alles in bester Ordnung war, wieder an, unsre verjährten Begebenheiten zu besprechen. Dabei tauchte im Spiegel meiner Seele manches vergessene Gesicht wieder auf, und manche vergessene Gestalt ging an mir vorüber; auch das kleine Marthchen, von dem ich hörte, daß es inzwischen zu eiuer blühenden Jungfrau herangewachsen sei, leuchtete wie ein ferner Stern zum erstenmal wieder in mein Leben hinein. Unter diesem stillen Erzählen, zu dem ein naher Brunnen unaufhörlich rauschte und sprudelte, vergaß ich am Ende, daß der Mann vor mir der Verderber meiner Jugend und ein Wesen vom schlechtesten Rufe war. Ich sollte jedoch noch daran erinnert werden, denn als wir ein Stündchen die Kühle des fortschreitenden Abends, den Duft eines wilden Rosenstrauchs, der da herum in einem Winkel blühen mußte, und dazu die friedliche Ruhe des Orts genossen hatten, ließ sich plötzlich das Rasseln eines Wagens vernehmen, und nach einer kleinen Weile hielt ein Mühlknecht sein Gefährt vor dem Wirtshaus an, um ebenfalls noch einen Abendtrunk zu nehmen. Mir stieg das Blut ins Gesicht, denn es war einer von den Knechten, die ich vor kurzem bewirtet hatte, und von denen ich zum Dank dafür in die Nesseln geworfen worden war. Auch der Knecht erinnerte sich seines Heldenstücks, lachte mir, als er mich erblickte, höhnisch zu und schien Lust zu haben, den guten Spaß noch einmal aufzuwärmen. Da ich hierzu meinerseits keine Neigung verspürte, stand ich auf und machte Anstalten, mich zu verabschieden. Schöne aber, der mit einem Blick die Sachlage überschaut hatte, hielt mich zurück und flüsterte mir zu: Du wirst doch nicht! Das ist doch ein Knecht von deinem ehemaligen Schwiegervater? Du wirst doch nicht ausreißen Wollen? Laßt ihn nur laufen, höhnte der Knecht. Das Bürschlein hat Angst. Nicht Angst, erwiderte ich; ich gehe einem Flegel aus dem Wege. Das Wort war kaum ausgesprochen, so hatte ich mich schon mit dem Knecht in den Haaren und durfte darauf rechnen, da der Mensch im Vergleich zu mir ein Koloß war, von neuem auf die jämmerlichste Weise geschunden zu werden. Jetzt aber kam mir Schöne zu Hilfe, indem er meinen Gegner mit seiner alten Gewandt¬ heit von rückwärts unterlief, ihn dadurch in eine Stellung brachte, in der er einen Augenblick zwischen Himmel und Erde schwebte, und dann unter einer Wolke von Mehlstaub ächzend zu Boden fiel. Ans den Lärm stürzte die Wirtin mit ihrem Manne heraus, und die beiden rissen uns scheltend voneinander. Die ganze Schlacht verlief schneller, als man sie schildern kann, und war schon vorüber, ehe ich recht zur Besinnung kam. Nun siel die Wirtin über uns mit bösen Reden her und gebot, Schöne solle sich trollen, einen Menschen wie ihn beherberge sie nicht. Er fand sich auch sogleich in sein Schicksal und war schon, ehe man sichs versah, um die Ecke und auf der Straße. Ich klopfte mir den Mehlstaub ab und ging mit zer¬ rissenem Rock und blutendem Gesicht meiner Wege, und als ich zu Hause augelangt die beschmutzten und verdorbnen Kleider auszog und mir dabei deu ganzen häßlichen Auftritt von neuem vergegenwärtigte, schämte ich mich von ganzem Herzen, obwohl ich nichts Unrechtes getan, sondern mich nur meiner Haut gewehrt hatte, und eine grenzenlose Traurigkeit legte sich über mein Herz, obwohl ich noch nicht wußte, daß das, was ich soeben erlebt hatte, den Samen einer ganzen Zukunft in sich barg. Ich hatte kaum ein wenig gelegen, so klopfte die Polizei an unsre Tür und erschien nach einigen Augenblicken von meiner erschrocknen Mutter geleitet bei mir im Zimmer. Ich selbst wunderte mich über ihr Erscheinen mehr, als daß ich darüber erschrak, wie wurde mir aber zumute, als ich hörte, daß dem Knechte beim Ringen die Geldkatze abgerissen und geraubt worden war. Sofort begriff ich, warum Schöne solche Eile gehabt hatte, weiterzukommen. Ich sprach meine Ansicht auch sogleich vor den Beamten ans, erlangte aber von ihnen nur ein vor¬ sichtiges und ungläubiges Lächeln. Alle Schränke und Behältnisse wurden nun durchwühlt, und zuletzt wurde ich aufgefordert, anzugehn. Als ich aus dem Hanse trat, erkannte ich, daß ich ein Verlorner Mann war. Zwar von dieser Anschuldigung

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/264>, abgerufen am 24.08.2024.