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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

Ich zitterte vor Wut. Und wenn ich das nicht tue?

Er lächelte: Dann, mein Kleiner, kommt die Reitpeitsche doch noch heran.

Er nickte mir zu und ging. Ich stand auf, wusch mir das Gesicht und
kleidete mich schnell an. Die Lähmung, die über mich gekommen war, verflog
plötzlich, ich reckte mich auf und war entschlossen, es koste, was es wolle, eine
Begegnung mit Anna herbeizuführen. An Glück dachte ich nicht mehr, aber wie
ein Hund wollte ich nicht weggeschickt werden. Mochten sich unsre Wege trennen,
aber als Menschen, die sich ineinander geirrt hatten, wollten wir auseinandergehn.
Es war inzwischen schon da'mmrig geworden, am Himmel flimmerten einige Sterne,
und während ich über die Wiesen ging, entschleierte much der Mond seine Scheibe,
und in seinem Schein sah ich unter den Ulmen des Mühlenhofs eine weiße Gestalt
sitzen. Ich verdoppelte meine Schritte und war eben im Begriff, über den Steg
zu gehn. Da hielt mich plötzlich eine kräftige Hand fest, und eine rauhe Stimme
fragte: Wohin, junger Mann? Sodann ertönte ein Pfiff, worauf ein paar Ge¬
sellen herbeiliefen, vou denen einer mich wie einen Sack Mehl über die Schultern
warf und mich endlich über eine" Zaun in einen Wald von Dornen und Brenn¬
nesseln hiueinschleuderte. So hatte sich also des Meisters Warnung in einer buch¬
stäblichen Weise erfüllt. Als ich mich geschunden, verbrannt und bis in die Seele
hinein beschmutzt aus den Nesseln herausarbeitete und den Weg nach Hause hinkte,
frierend und zitternd, als wäre es Winter und nicht ein schöner linder Sommertag,
dn brachen die Tränen aus meinen Augen und flössen wie bei einem Kinde.

Zum Meister ging ich nicht mehr, ich durfte mich ja nicht mehr unter den
Leuten sehen lassen. Zu Hause erhob sich ein stilles Wehklage", die Mutter weinte,
und der Vater litt schweigend, beide aber gingen mit mir behutsam um, denn sie
wnszten, daß mein Geschick bei meinem unglücklichen Charakter an einem Faden
hing, und daß ein unbedachtes Wort das böse Schicksal vollenden konnte. Ich selber
grübelte, was nun werden solle, und sann über eine Heldentat nach, durch die ich
meine beschädigte Ehre wieder herstellen könnte. Wäre ich ein hoher Herr gewesen,
so hätte ich zur Pistole gegriffen, dn ich aber ein armseliger Schneidergeselle war,
hatte ich die Wahl nnr dazwischen, dem Müller sein Haus über dem Kopf anzu¬
zünden oder mein Los schweigend zu ertragen.

Eines Tags kam ein Junge die Treppe zu mir hinaufgeschlichen und über¬
reichte mir mit geheimnisvoller Miene einen kunstvoll zusamniengekniffncn Zettel,
der mich zu einer Unterredung auf einen geuau beschriebnen Platz einlud. Eine
wunderliche Hoffnung ging mir durchs Herz, und das leichte und rasche Schneider-
blut trieb wieder Blasen: Wie, wenn die rohe und ungerechte Mißhandlung, die
man mir zugefügt hatte, gerade die Wirkung gehabt hätte, daß sich Anna heraus
aus der Verblendung ihres Hochmuts zur Entdeckung ihres wahren Herzens leiten
ließe! Vou dieser Hoffnung beflügelt begab ich mich an den Ort des Stelldicheins,
der, wie ich sogleich erkannte, mit erstaunlichem Verständnis gewählt war. Denn
man konnte, ohne selber gesehen zu werden, die ganze Gegeud überschauen, die
in einem goldnen Abendschein ruhenden Wiesen, und die wogenden Kornfelder bis
zu den Häusern der Stadt nud manchem verborgnen Dörfchen. Auch die Mühle
war sichtbar, und in ihren Fenstern spiegelte sich gerade ein schönes reines Abend¬
rot. Ich war zu früh gekommen und legte mich deshalb einstweilen uuter einer
großen Eiche nieder, zu deren Füßen ein Born entsprang und in die Wiesen¬
gründe hinabsprudelte. Ans der ganzen weiten Flur herrschte eine liebliche Stille,
nur die Grillen lärmten im Grase, und darüber schwebte fein und zart das un¬
endliche Lerchenlied.

Als diese Stille, die doch voll tausendfachen Lebens war, eine Weile gedauert
hatte, und ich schon glaubte, vou irgend jemand, dem meine Demütigung noch nicht
genügend erschienen war, genarrt worden zu sein, vernahm ich hinter mir einen
leisen vorsichtigen Schritt. Das Herz fing mir Plötzlich an heftig zu schlagen. Aber
es war nicht die frische Gestalt eines Mädchens, was sich da von den Büschen
loslöste, sondern ein ältlicher Mann, der mühsam an einem Stocke heraufkletterte


Zwei Seelen

Ich zitterte vor Wut. Und wenn ich das nicht tue?

Er lächelte: Dann, mein Kleiner, kommt die Reitpeitsche doch noch heran.

Er nickte mir zu und ging. Ich stand auf, wusch mir das Gesicht und
kleidete mich schnell an. Die Lähmung, die über mich gekommen war, verflog
plötzlich, ich reckte mich auf und war entschlossen, es koste, was es wolle, eine
Begegnung mit Anna herbeizuführen. An Glück dachte ich nicht mehr, aber wie
ein Hund wollte ich nicht weggeschickt werden. Mochten sich unsre Wege trennen,
aber als Menschen, die sich ineinander geirrt hatten, wollten wir auseinandergehn.
Es war inzwischen schon da'mmrig geworden, am Himmel flimmerten einige Sterne,
und während ich über die Wiesen ging, entschleierte much der Mond seine Scheibe,
und in seinem Schein sah ich unter den Ulmen des Mühlenhofs eine weiße Gestalt
sitzen. Ich verdoppelte meine Schritte und war eben im Begriff, über den Steg
zu gehn. Da hielt mich plötzlich eine kräftige Hand fest, und eine rauhe Stimme
fragte: Wohin, junger Mann? Sodann ertönte ein Pfiff, worauf ein paar Ge¬
sellen herbeiliefen, vou denen einer mich wie einen Sack Mehl über die Schultern
warf und mich endlich über eine» Zaun in einen Wald von Dornen und Brenn¬
nesseln hiueinschleuderte. So hatte sich also des Meisters Warnung in einer buch¬
stäblichen Weise erfüllt. Als ich mich geschunden, verbrannt und bis in die Seele
hinein beschmutzt aus den Nesseln herausarbeitete und den Weg nach Hause hinkte,
frierend und zitternd, als wäre es Winter und nicht ein schöner linder Sommertag,
dn brachen die Tränen aus meinen Augen und flössen wie bei einem Kinde.

Zum Meister ging ich nicht mehr, ich durfte mich ja nicht mehr unter den
Leuten sehen lassen. Zu Hause erhob sich ein stilles Wehklage», die Mutter weinte,
und der Vater litt schweigend, beide aber gingen mit mir behutsam um, denn sie
wnszten, daß mein Geschick bei meinem unglücklichen Charakter an einem Faden
hing, und daß ein unbedachtes Wort das böse Schicksal vollenden konnte. Ich selber
grübelte, was nun werden solle, und sann über eine Heldentat nach, durch die ich
meine beschädigte Ehre wieder herstellen könnte. Wäre ich ein hoher Herr gewesen,
so hätte ich zur Pistole gegriffen, dn ich aber ein armseliger Schneidergeselle war,
hatte ich die Wahl nnr dazwischen, dem Müller sein Haus über dem Kopf anzu¬
zünden oder mein Los schweigend zu ertragen.

Eines Tags kam ein Junge die Treppe zu mir hinaufgeschlichen und über¬
reichte mir mit geheimnisvoller Miene einen kunstvoll zusamniengekniffncn Zettel,
der mich zu einer Unterredung auf einen geuau beschriebnen Platz einlud. Eine
wunderliche Hoffnung ging mir durchs Herz, und das leichte und rasche Schneider-
blut trieb wieder Blasen: Wie, wenn die rohe und ungerechte Mißhandlung, die
man mir zugefügt hatte, gerade die Wirkung gehabt hätte, daß sich Anna heraus
aus der Verblendung ihres Hochmuts zur Entdeckung ihres wahren Herzens leiten
ließe! Vou dieser Hoffnung beflügelt begab ich mich an den Ort des Stelldicheins,
der, wie ich sogleich erkannte, mit erstaunlichem Verständnis gewählt war. Denn
man konnte, ohne selber gesehen zu werden, die ganze Gegeud überschauen, die
in einem goldnen Abendschein ruhenden Wiesen, und die wogenden Kornfelder bis
zu den Häusern der Stadt nud manchem verborgnen Dörfchen. Auch die Mühle
war sichtbar, und in ihren Fenstern spiegelte sich gerade ein schönes reines Abend¬
rot. Ich war zu früh gekommen und legte mich deshalb einstweilen uuter einer
großen Eiche nieder, zu deren Füßen ein Born entsprang und in die Wiesen¬
gründe hinabsprudelte. Ans der ganzen weiten Flur herrschte eine liebliche Stille,
nur die Grillen lärmten im Grase, und darüber schwebte fein und zart das un¬
endliche Lerchenlied.

Als diese Stille, die doch voll tausendfachen Lebens war, eine Weile gedauert
hatte, und ich schon glaubte, vou irgend jemand, dem meine Demütigung noch nicht
genügend erschienen war, genarrt worden zu sein, vernahm ich hinter mir einen
leisen vorsichtigen Schritt. Das Herz fing mir Plötzlich an heftig zu schlagen. Aber
es war nicht die frische Gestalt eines Mädchens, was sich da von den Büschen
loslöste, sondern ein ältlicher Mann, der mühsam an einem Stocke heraufkletterte


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[0261] Zwei Seelen Ich zitterte vor Wut. Und wenn ich das nicht tue? Er lächelte: Dann, mein Kleiner, kommt die Reitpeitsche doch noch heran. Er nickte mir zu und ging. Ich stand auf, wusch mir das Gesicht und kleidete mich schnell an. Die Lähmung, die über mich gekommen war, verflog plötzlich, ich reckte mich auf und war entschlossen, es koste, was es wolle, eine Begegnung mit Anna herbeizuführen. An Glück dachte ich nicht mehr, aber wie ein Hund wollte ich nicht weggeschickt werden. Mochten sich unsre Wege trennen, aber als Menschen, die sich ineinander geirrt hatten, wollten wir auseinandergehn. Es war inzwischen schon da'mmrig geworden, am Himmel flimmerten einige Sterne, und während ich über die Wiesen ging, entschleierte much der Mond seine Scheibe, und in seinem Schein sah ich unter den Ulmen des Mühlenhofs eine weiße Gestalt sitzen. Ich verdoppelte meine Schritte und war eben im Begriff, über den Steg zu gehn. Da hielt mich plötzlich eine kräftige Hand fest, und eine rauhe Stimme fragte: Wohin, junger Mann? Sodann ertönte ein Pfiff, worauf ein paar Ge¬ sellen herbeiliefen, vou denen einer mich wie einen Sack Mehl über die Schultern warf und mich endlich über eine» Zaun in einen Wald von Dornen und Brenn¬ nesseln hiueinschleuderte. So hatte sich also des Meisters Warnung in einer buch¬ stäblichen Weise erfüllt. Als ich mich geschunden, verbrannt und bis in die Seele hinein beschmutzt aus den Nesseln herausarbeitete und den Weg nach Hause hinkte, frierend und zitternd, als wäre es Winter und nicht ein schöner linder Sommertag, dn brachen die Tränen aus meinen Augen und flössen wie bei einem Kinde. Zum Meister ging ich nicht mehr, ich durfte mich ja nicht mehr unter den Leuten sehen lassen. Zu Hause erhob sich ein stilles Wehklage», die Mutter weinte, und der Vater litt schweigend, beide aber gingen mit mir behutsam um, denn sie wnszten, daß mein Geschick bei meinem unglücklichen Charakter an einem Faden hing, und daß ein unbedachtes Wort das böse Schicksal vollenden konnte. Ich selber grübelte, was nun werden solle, und sann über eine Heldentat nach, durch die ich meine beschädigte Ehre wieder herstellen könnte. Wäre ich ein hoher Herr gewesen, so hätte ich zur Pistole gegriffen, dn ich aber ein armseliger Schneidergeselle war, hatte ich die Wahl nnr dazwischen, dem Müller sein Haus über dem Kopf anzu¬ zünden oder mein Los schweigend zu ertragen. Eines Tags kam ein Junge die Treppe zu mir hinaufgeschlichen und über¬ reichte mir mit geheimnisvoller Miene einen kunstvoll zusamniengekniffncn Zettel, der mich zu einer Unterredung auf einen geuau beschriebnen Platz einlud. Eine wunderliche Hoffnung ging mir durchs Herz, und das leichte und rasche Schneider- blut trieb wieder Blasen: Wie, wenn die rohe und ungerechte Mißhandlung, die man mir zugefügt hatte, gerade die Wirkung gehabt hätte, daß sich Anna heraus aus der Verblendung ihres Hochmuts zur Entdeckung ihres wahren Herzens leiten ließe! Vou dieser Hoffnung beflügelt begab ich mich an den Ort des Stelldicheins, der, wie ich sogleich erkannte, mit erstaunlichem Verständnis gewählt war. Denn man konnte, ohne selber gesehen zu werden, die ganze Gegeud überschauen, die in einem goldnen Abendschein ruhenden Wiesen, und die wogenden Kornfelder bis zu den Häusern der Stadt nud manchem verborgnen Dörfchen. Auch die Mühle war sichtbar, und in ihren Fenstern spiegelte sich gerade ein schönes reines Abend¬ rot. Ich war zu früh gekommen und legte mich deshalb einstweilen uuter einer großen Eiche nieder, zu deren Füßen ein Born entsprang und in die Wiesen¬ gründe hinabsprudelte. Ans der ganzen weiten Flur herrschte eine liebliche Stille, nur die Grillen lärmten im Grase, und darüber schwebte fein und zart das un¬ endliche Lerchenlied. Als diese Stille, die doch voll tausendfachen Lebens war, eine Weile gedauert hatte, und ich schon glaubte, vou irgend jemand, dem meine Demütigung noch nicht genügend erschienen war, genarrt worden zu sein, vernahm ich hinter mir einen leisen vorsichtigen Schritt. Das Herz fing mir Plötzlich an heftig zu schlagen. Aber es war nicht die frische Gestalt eines Mädchens, was sich da von den Büschen loslöste, sondern ein ältlicher Mann, der mühsam an einem Stocke heraufkletterte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/261>, abgerufen am 03.07.2024.