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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

in geordnete Verhältnisse kam; jetzt kehre ich nach der Türkei zurück. -- Dabei
sah er eine junge Dame, die neben ihm saß, an, als fordre er sie zum Zeugen der
Wahrheit auf. Es war seine Tochter, sie War mir vorgestellt worden, hatte sich
aber an unserm Gespräch nicht beteiligt. -- Ja, sagte sie, die Augen züchtig zu
Boden schlagend, jetzt kehren wir in die Türkei zurück.

Sie müssen wissen, fuhr Herr Müller fort, daß ich den größten Teil meines
Lebens außerhalb Deutschlands, zumeist im Orient, zugebracht habe. Zuletzt hatte
ich eine Teppichfabrik in Charput in Kleinasien. Ich habe da ein schönes Stück
Geld verdient und kann mich auch im übrigen nicht beklagen. Man lebt gar nicht
schlecht in der Türkei, namentlich als Ausländer. Man darf sich nur nicht in die
Politik und in die Religion mischen, was im Orient dasselbe ist, und braucht auch
nicht den Kopf hinzuhalten, wo Köpfe eingeschlagen werden. Aber eins bedrückte
mich doch; man hat dort kein geschriebnes Recht, keine Rechtsgarantie, man hängt
von dem Wohlwollen der Machthaber ab und muß das nötige tun, sich dieses
Wohlwollen zu erhalten. Der Backschisch, mein Herr, gehört zu den öffentlichen
Lasten, wie in Deutschland die Gewerbesteuer, und wird gezahlt und einfach ans
die Betriebskosten übernommen. Als ich mich nun zur Ruhe setzen konnte, übergab
ich meine Fabrik meinem Schwager und reiste mit meiner Tochter -- dabei sah
er seine Tochter an, und die Tochter sah ihren Vater an -- in die Heimat zurück.
Mein Herr, es geschah mit großen Erwartungen, die ich von dem ersten Knltur-
lande der Welt haben mußte.

Und diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt? fragte ich.

Nein, mein Herr, sie haben sich nicht erfüllt. Wenn ich überlege, was mir
in diesem Jahre begegnet ist, so sind es ja lauter kleine Dinge, meinetwegen
Nadelstiche, aber sie haben mich toll gemacht. Man sagt mir, ich sei polizeinervös
geworden. Mag sein. Man muß wohl in Deutschland das Regiertwerdeu mehr
gewöhnt sein als ich und eine härtere Haut haben. Es ist in der Tat erstaunlich,
was man sich für eine Behandlung, welches Willkürregiment, welche Schikane man
sich gefallen lassen muß.

Ist die Möglichkeit, sagte ich. Ich wäre begierig, zu hören.

Ich will als Beispiel eine ganz einfache Sache wählen, erwiderte er, etwas,
was eigentlich ein Nichts ist. Aber aus Nichts hat Gott die Welt gemacht, und
aus Nichts schafft der Teufel den größten Ärger. Ich ließ mich also in D.
nieder. -- Hier sah Herr Müller seine Tochter an, und diese bestätigte durch
ernstes Kopfnicken, daß man sich tatsächlich in D. niedergelassen habe. -- Sie
kennen die große Brücke in D. und wissen, daß man da immer rechts gehn soll.
Mag sein! Wo Menschen eng beieinander wohnen, muß einer ans den andern
Rücksicht nehmen, obwohl das, meine ich, anch ohne Polizei geht. Zum Beispiel
im Orient. Wie oft bin ich über die Brücke von Kilissa gegangen, ein hohes,
enges, gewölbtes Bauwerk, auf dem sich täglich um die Marktzeit eine Menge von
Menschen, Lastträgern und Eseln drängt. Jeder geht, wie er will, hat Geduld,
wenn der Strom stockt, und tritt auf die Seite, wenn jemand Eile hat. Und
wenn ein beladnes Maultier im Wege steht, gibt man ihm einen Schlag mit der
Gerte, dann tritt es zur Seite, und niemand nimmt den Schlag übel. So ist es
im Orient; aber die Kulturländer brauchen Polizei und Polizeiverordnnng. Können
Sie begreifen, warum? -- Über die Brücke zu D. muß man also rechts gehn, es steht
anch irgendwo geschrieben, ich hatte es aber nicht gelesen. Als ich nun zum ersten¬
mal die Brücke betrat, begleitete ich einen Bekannten und kehrte auf der Hälfte
des Wegs um. Sogleich war ein Schutzmann da und schnäuzte mich an: Wissen
Sie nicht, daß rechts gegangen werden muß. -- Nein, sagte ich. Ich wußte es
wirklich nicht. -- Haben Sie keine Angen, zu lesen? fragte er. -- Wo steht denn
etwas geschrieben? sagte ich. Auch störe ich ja niemand. Sie sehen ja, daß der Fußsteig
fast leer ist. -- Herr, schrie er, wenn Sie nicht augenblicklich auf die andre Seite
gehn, so werde ich Sie hinüberbringen, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht. --


Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

in geordnete Verhältnisse kam; jetzt kehre ich nach der Türkei zurück. — Dabei
sah er eine junge Dame, die neben ihm saß, an, als fordre er sie zum Zeugen der
Wahrheit auf. Es war seine Tochter, sie War mir vorgestellt worden, hatte sich
aber an unserm Gespräch nicht beteiligt. — Ja, sagte sie, die Augen züchtig zu
Boden schlagend, jetzt kehren wir in die Türkei zurück.

Sie müssen wissen, fuhr Herr Müller fort, daß ich den größten Teil meines
Lebens außerhalb Deutschlands, zumeist im Orient, zugebracht habe. Zuletzt hatte
ich eine Teppichfabrik in Charput in Kleinasien. Ich habe da ein schönes Stück
Geld verdient und kann mich auch im übrigen nicht beklagen. Man lebt gar nicht
schlecht in der Türkei, namentlich als Ausländer. Man darf sich nur nicht in die
Politik und in die Religion mischen, was im Orient dasselbe ist, und braucht auch
nicht den Kopf hinzuhalten, wo Köpfe eingeschlagen werden. Aber eins bedrückte
mich doch; man hat dort kein geschriebnes Recht, keine Rechtsgarantie, man hängt
von dem Wohlwollen der Machthaber ab und muß das nötige tun, sich dieses
Wohlwollen zu erhalten. Der Backschisch, mein Herr, gehört zu den öffentlichen
Lasten, wie in Deutschland die Gewerbesteuer, und wird gezahlt und einfach ans
die Betriebskosten übernommen. Als ich mich nun zur Ruhe setzen konnte, übergab
ich meine Fabrik meinem Schwager und reiste mit meiner Tochter — dabei sah
er seine Tochter an, und die Tochter sah ihren Vater an — in die Heimat zurück.
Mein Herr, es geschah mit großen Erwartungen, die ich von dem ersten Knltur-
lande der Welt haben mußte.

Und diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt? fragte ich.

Nein, mein Herr, sie haben sich nicht erfüllt. Wenn ich überlege, was mir
in diesem Jahre begegnet ist, so sind es ja lauter kleine Dinge, meinetwegen
Nadelstiche, aber sie haben mich toll gemacht. Man sagt mir, ich sei polizeinervös
geworden. Mag sein. Man muß wohl in Deutschland das Regiertwerdeu mehr
gewöhnt sein als ich und eine härtere Haut haben. Es ist in der Tat erstaunlich,
was man sich für eine Behandlung, welches Willkürregiment, welche Schikane man
sich gefallen lassen muß.

Ist die Möglichkeit, sagte ich. Ich wäre begierig, zu hören.

Ich will als Beispiel eine ganz einfache Sache wählen, erwiderte er, etwas,
was eigentlich ein Nichts ist. Aber aus Nichts hat Gott die Welt gemacht, und
aus Nichts schafft der Teufel den größten Ärger. Ich ließ mich also in D.
nieder. — Hier sah Herr Müller seine Tochter an, und diese bestätigte durch
ernstes Kopfnicken, daß man sich tatsächlich in D. niedergelassen habe. — Sie
kennen die große Brücke in D. und wissen, daß man da immer rechts gehn soll.
Mag sein! Wo Menschen eng beieinander wohnen, muß einer ans den andern
Rücksicht nehmen, obwohl das, meine ich, anch ohne Polizei geht. Zum Beispiel
im Orient. Wie oft bin ich über die Brücke von Kilissa gegangen, ein hohes,
enges, gewölbtes Bauwerk, auf dem sich täglich um die Marktzeit eine Menge von
Menschen, Lastträgern und Eseln drängt. Jeder geht, wie er will, hat Geduld,
wenn der Strom stockt, und tritt auf die Seite, wenn jemand Eile hat. Und
wenn ein beladnes Maultier im Wege steht, gibt man ihm einen Schlag mit der
Gerte, dann tritt es zur Seite, und niemand nimmt den Schlag übel. So ist es
im Orient; aber die Kulturländer brauchen Polizei und Polizeiverordnnng. Können
Sie begreifen, warum? — Über die Brücke zu D. muß man also rechts gehn, es steht
anch irgendwo geschrieben, ich hatte es aber nicht gelesen. Als ich nun zum ersten¬
mal die Brücke betrat, begleitete ich einen Bekannten und kehrte auf der Hälfte
des Wegs um. Sogleich war ein Schutzmann da und schnäuzte mich an: Wissen
Sie nicht, daß rechts gegangen werden muß. — Nein, sagte ich. Ich wußte es
wirklich nicht. — Haben Sie keine Angen, zu lesen? fragte er. — Wo steht denn
etwas geschrieben? sagte ich. Auch störe ich ja niemand. Sie sehen ja, daß der Fußsteig
fast leer ist. — Herr, schrie er, wenn Sie nicht augenblicklich auf die andre Seite
gehn, so werde ich Sie hinüberbringen, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht. —


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[0188] Skizzen aus unserm heutigen Volksleben in geordnete Verhältnisse kam; jetzt kehre ich nach der Türkei zurück. — Dabei sah er eine junge Dame, die neben ihm saß, an, als fordre er sie zum Zeugen der Wahrheit auf. Es war seine Tochter, sie War mir vorgestellt worden, hatte sich aber an unserm Gespräch nicht beteiligt. — Ja, sagte sie, die Augen züchtig zu Boden schlagend, jetzt kehren wir in die Türkei zurück. Sie müssen wissen, fuhr Herr Müller fort, daß ich den größten Teil meines Lebens außerhalb Deutschlands, zumeist im Orient, zugebracht habe. Zuletzt hatte ich eine Teppichfabrik in Charput in Kleinasien. Ich habe da ein schönes Stück Geld verdient und kann mich auch im übrigen nicht beklagen. Man lebt gar nicht schlecht in der Türkei, namentlich als Ausländer. Man darf sich nur nicht in die Politik und in die Religion mischen, was im Orient dasselbe ist, und braucht auch nicht den Kopf hinzuhalten, wo Köpfe eingeschlagen werden. Aber eins bedrückte mich doch; man hat dort kein geschriebnes Recht, keine Rechtsgarantie, man hängt von dem Wohlwollen der Machthaber ab und muß das nötige tun, sich dieses Wohlwollen zu erhalten. Der Backschisch, mein Herr, gehört zu den öffentlichen Lasten, wie in Deutschland die Gewerbesteuer, und wird gezahlt und einfach ans die Betriebskosten übernommen. Als ich mich nun zur Ruhe setzen konnte, übergab ich meine Fabrik meinem Schwager und reiste mit meiner Tochter — dabei sah er seine Tochter an, und die Tochter sah ihren Vater an — in die Heimat zurück. Mein Herr, es geschah mit großen Erwartungen, die ich von dem ersten Knltur- lande der Welt haben mußte. Und diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt? fragte ich. Nein, mein Herr, sie haben sich nicht erfüllt. Wenn ich überlege, was mir in diesem Jahre begegnet ist, so sind es ja lauter kleine Dinge, meinetwegen Nadelstiche, aber sie haben mich toll gemacht. Man sagt mir, ich sei polizeinervös geworden. Mag sein. Man muß wohl in Deutschland das Regiertwerdeu mehr gewöhnt sein als ich und eine härtere Haut haben. Es ist in der Tat erstaunlich, was man sich für eine Behandlung, welches Willkürregiment, welche Schikane man sich gefallen lassen muß. Ist die Möglichkeit, sagte ich. Ich wäre begierig, zu hören. Ich will als Beispiel eine ganz einfache Sache wählen, erwiderte er, etwas, was eigentlich ein Nichts ist. Aber aus Nichts hat Gott die Welt gemacht, und aus Nichts schafft der Teufel den größten Ärger. Ich ließ mich also in D. nieder. — Hier sah Herr Müller seine Tochter an, und diese bestätigte durch ernstes Kopfnicken, daß man sich tatsächlich in D. niedergelassen habe. — Sie kennen die große Brücke in D. und wissen, daß man da immer rechts gehn soll. Mag sein! Wo Menschen eng beieinander wohnen, muß einer ans den andern Rücksicht nehmen, obwohl das, meine ich, anch ohne Polizei geht. Zum Beispiel im Orient. Wie oft bin ich über die Brücke von Kilissa gegangen, ein hohes, enges, gewölbtes Bauwerk, auf dem sich täglich um die Marktzeit eine Menge von Menschen, Lastträgern und Eseln drängt. Jeder geht, wie er will, hat Geduld, wenn der Strom stockt, und tritt auf die Seite, wenn jemand Eile hat. Und wenn ein beladnes Maultier im Wege steht, gibt man ihm einen Schlag mit der Gerte, dann tritt es zur Seite, und niemand nimmt den Schlag übel. So ist es im Orient; aber die Kulturländer brauchen Polizei und Polizeiverordnnng. Können Sie begreifen, warum? — Über die Brücke zu D. muß man also rechts gehn, es steht anch irgendwo geschrieben, ich hatte es aber nicht gelesen. Als ich nun zum ersten¬ mal die Brücke betrat, begleitete ich einen Bekannten und kehrte auf der Hälfte des Wegs um. Sogleich war ein Schutzmann da und schnäuzte mich an: Wissen Sie nicht, daß rechts gegangen werden muß. — Nein, sagte ich. Ich wußte es wirklich nicht. — Haben Sie keine Angen, zu lesen? fragte er. — Wo steht denn etwas geschrieben? sagte ich. Auch störe ich ja niemand. Sie sehen ja, daß der Fußsteig fast leer ist. — Herr, schrie er, wenn Sie nicht augenblicklich auf die andre Seite gehn, so werde ich Sie hinüberbringen, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/188>, abgerufen am 01.07.2024.