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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Roinanliteratur

weiten Welt mit der Unendlichkeit ihrer Erscheinungen dem Inhalte gleich der
drei Buchstaben: Tod?"

So haben wir den Schriftsteller Wilhelm von Potenz dnrch einige seiner
Arbeiten begleitet, eine Fülle von mannlichen und von weiblichen Gestalten,
von menschlichen Schicksalen kennen lernen. Man sieht, daß das Leben der
Gegenwart in seinem Geist und in seinen Schöpfungen pulsiert, und daß er
die Probleme, unter denen wir seufzen, mit gefunden künstlerischem Realismus
darstellt. Der Kreis seines Interesses ist weit gespannt; er kennt die Menschen,
er kennt die Bücher, die mit Recht oder Unrecht auch bei uns viel Lärm
machen und die Geister erregen. Er stellt keine Thesen auf, die er im Kunst¬
werk beweisen will, sondern charakterisiert gern auch indirekt dadurch, welche
Schicksale er Personen mit ihren Gedanken erfahren läßt. Wir versagen uus,
schließlich noch einen Blick ans die politisch-sozialen Verhältnisse der Gegenwart
in Deutschland zu werfen und sie mit dem Echo zu vergleichen, das sie bei
diesem Schriftsteller finden. Er hat eine gewisse Verwandtschaft mit L. Tolstoi,
insofern er ans seiner Kenntnis der Verhältnisse heraus und mit demselben
Interesse die Bauern und ihr Verhältnis zum Gutsbesitzer darstellt (Der Graben-
häger), den Gegensatz der "Arbeiter" zu den Besitzenden Aber er hütet sich
vor dem mitunter so breiten Realismus des großen Russen, und man kaun
nicht sagen, daß Potenz eine eigensinnige Vorliebe für einen bestimmten
Stand habe. Die Leute mit einfacher natürlicher Empfindung, die bei Dickens
so gut wegkommen, hat auch Potenz gern. Die Art. wie er Alma sterben
lußt, erinnert an den rührenden Tod von Joe (Bleakhouse, Band III. Ende).
Es macht deu Eindruck, als ob Potenz sich den Plan seiner Romane vorher
genau feststelle, während wir nicht ohne Erstaunen hören, daß Dickens zuweilen
während des Schreibens noch über die Wendung im nächsten Kapitel schwankte
(Dickens Leben von John Forster, deutsch von Fr. Althans).

Was wir wörtlich angeführt haben, mag eine Andeutung von der all¬
gemeinen Lebensnnschnuung unsers Verfassers geben. Man kann mit ihr eine
Stelle in Calderons "Leben ein Traum" vergleichen, womit nur diesesmal vom
Verfasser Abschied nehmein




Aus der Roinanliteratur

weiten Welt mit der Unendlichkeit ihrer Erscheinungen dem Inhalte gleich der
drei Buchstaben: Tod?"

So haben wir den Schriftsteller Wilhelm von Potenz dnrch einige seiner
Arbeiten begleitet, eine Fülle von mannlichen und von weiblichen Gestalten,
von menschlichen Schicksalen kennen lernen. Man sieht, daß das Leben der
Gegenwart in seinem Geist und in seinen Schöpfungen pulsiert, und daß er
die Probleme, unter denen wir seufzen, mit gefunden künstlerischem Realismus
darstellt. Der Kreis seines Interesses ist weit gespannt; er kennt die Menschen,
er kennt die Bücher, die mit Recht oder Unrecht auch bei uns viel Lärm
machen und die Geister erregen. Er stellt keine Thesen auf, die er im Kunst¬
werk beweisen will, sondern charakterisiert gern auch indirekt dadurch, welche
Schicksale er Personen mit ihren Gedanken erfahren läßt. Wir versagen uus,
schließlich noch einen Blick ans die politisch-sozialen Verhältnisse der Gegenwart
in Deutschland zu werfen und sie mit dem Echo zu vergleichen, das sie bei
diesem Schriftsteller finden. Er hat eine gewisse Verwandtschaft mit L. Tolstoi,
insofern er ans seiner Kenntnis der Verhältnisse heraus und mit demselben
Interesse die Bauern und ihr Verhältnis zum Gutsbesitzer darstellt (Der Graben-
häger), den Gegensatz der „Arbeiter" zu den Besitzenden Aber er hütet sich
vor dem mitunter so breiten Realismus des großen Russen, und man kaun
nicht sagen, daß Potenz eine eigensinnige Vorliebe für einen bestimmten
Stand habe. Die Leute mit einfacher natürlicher Empfindung, die bei Dickens
so gut wegkommen, hat auch Potenz gern. Die Art. wie er Alma sterben
lußt, erinnert an den rührenden Tod von Joe (Bleakhouse, Band III. Ende).
Es macht deu Eindruck, als ob Potenz sich den Plan seiner Romane vorher
genau feststelle, während wir nicht ohne Erstaunen hören, daß Dickens zuweilen
während des Schreibens noch über die Wendung im nächsten Kapitel schwankte
(Dickens Leben von John Forster, deutsch von Fr. Althans).

Was wir wörtlich angeführt haben, mag eine Andeutung von der all¬
gemeinen Lebensnnschnuung unsers Verfassers geben. Man kann mit ihr eine
Stelle in Calderons „Leben ein Traum" vergleichen, womit nur diesesmal vom
Verfasser Abschied nehmein




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[0811] Aus der Roinanliteratur weiten Welt mit der Unendlichkeit ihrer Erscheinungen dem Inhalte gleich der drei Buchstaben: Tod?" So haben wir den Schriftsteller Wilhelm von Potenz dnrch einige seiner Arbeiten begleitet, eine Fülle von mannlichen und von weiblichen Gestalten, von menschlichen Schicksalen kennen lernen. Man sieht, daß das Leben der Gegenwart in seinem Geist und in seinen Schöpfungen pulsiert, und daß er die Probleme, unter denen wir seufzen, mit gefunden künstlerischem Realismus darstellt. Der Kreis seines Interesses ist weit gespannt; er kennt die Menschen, er kennt die Bücher, die mit Recht oder Unrecht auch bei uns viel Lärm machen und die Geister erregen. Er stellt keine Thesen auf, die er im Kunst¬ werk beweisen will, sondern charakterisiert gern auch indirekt dadurch, welche Schicksale er Personen mit ihren Gedanken erfahren läßt. Wir versagen uus, schließlich noch einen Blick ans die politisch-sozialen Verhältnisse der Gegenwart in Deutschland zu werfen und sie mit dem Echo zu vergleichen, das sie bei diesem Schriftsteller finden. Er hat eine gewisse Verwandtschaft mit L. Tolstoi, insofern er ans seiner Kenntnis der Verhältnisse heraus und mit demselben Interesse die Bauern und ihr Verhältnis zum Gutsbesitzer darstellt (Der Graben- häger), den Gegensatz der „Arbeiter" zu den Besitzenden Aber er hütet sich vor dem mitunter so breiten Realismus des großen Russen, und man kaun nicht sagen, daß Potenz eine eigensinnige Vorliebe für einen bestimmten Stand habe. Die Leute mit einfacher natürlicher Empfindung, die bei Dickens so gut wegkommen, hat auch Potenz gern. Die Art. wie er Alma sterben lußt, erinnert an den rührenden Tod von Joe (Bleakhouse, Band III. Ende). Es macht deu Eindruck, als ob Potenz sich den Plan seiner Romane vorher genau feststelle, während wir nicht ohne Erstaunen hören, daß Dickens zuweilen während des Schreibens noch über die Wendung im nächsten Kapitel schwankte (Dickens Leben von John Forster, deutsch von Fr. Althans). Was wir wörtlich angeführt haben, mag eine Andeutung von der all¬ gemeinen Lebensnnschnuung unsers Verfassers geben. Man kann mit ihr eine Stelle in Calderons „Leben ein Traum" vergleichen, womit nur diesesmal vom Verfasser Abschied nehmein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/811>, abgerufen am 08.01.2025.