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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Ganz besondern Anstoß hat seit Jahren in evangelischen Kreisen die Kirchen¬
politik des Kaisers erregt. Offenbar ist es sein Bestreben, die heillosen Wirkungen
des unzweifelhaft mißlungnen Kulturkampfes auf seine katholischen Untertanen all¬
mählich zu beseitigen. Das ist ihm der Hauptsache nach gelungen, denn man hat
kein Recht, die Äußerungen deutsch-patriotischer Gesinnung, wie sie nicht selten von
katholische" Kirchenfürsten und noch zuletzt auf dem Katholikentage in Köln zutage
getreten sind, für Heuchelei zu halten, wobei wir allerdings den verstockten Parti-
kularismus des bayrischen Zentrums, der mit katholischen Interessen nichts zu tun
hat. beiseite lassen. Und wir fragen: Ist durch ein solches Entgegenkommen die
evangelische Kirche irgendwie geschädigt worden? Sollte sie wirklich so schwach
sein, daß ihr die Rückkehr einiger Jesuiten gefährlich werden könnte? Hat nicht
der Kaiser zugleich den Anstoß zu einem engern Zusammenschluß der evangelischen
Landeskirchen gegeben, der nun glücklich in die Wege geleitet worden ist und nicht
etwa von katholischer Seite bekämpft wird, sondern von einigen rückständigen
protestantischen Kreisen? Hat er nicht erst jüngst wieder Luther als den größten
deutschen Mann gefeiert? Eine konfessionelle Politik kann heute Gott sei Dank ein
deutscher Kaiser nicht treiben; daß es die Habsburger noch im siebzehnten Jahr¬
hundert versuchten, hat den Dreißigjährigen Krieg entzündet. Was Protestanten
und Katholiken trennt, das sind, abgesehen von den Glaubenslehren, allerdings
Prinzipien, die Stellung der Kirche zum Staat und die Auffassung der Kirche als
einer hierarchischen Weltkirche, an deren Zusammenhang auch unsre katholischen Mit¬
bürger selbstverständlich festhalten. Mit dieser Auffassung haben wir Protestanten
uns abzufinden, und wir können das ohne Schaden, mit jeuer ist natürlich nur ein
moäns vivomii möglich, wie bei so vielen prinzipiellen Gegensätzen. Allerdings, wenn
der Papst könnte, so würde er vermutlich den Protestantismus vertilgen wollen.
Aber es gibt ganz gewiß auch auf protestantischer Seite genug Eiferer, die am
liebsten die katholische Kirche, wenigstens in Deutschland, zerstören möchten. Von
dieser veralteten Auffassung müssen wir uns beiderseits aber freimachen. Wir
Protestanten müssen aufhören, die katholische Kirche als etwas eigentlich Unberechtigtes,
womöglich Autiuatiouales zu betrachten, und von den Katholiken müssen wir ver¬
langen, daß sie den Protestantismus als eine berechtigte historische Erscheinung
gelten lassen. Die gegenseitige widerwärtige Verhetzung, wie sie heute auch durch
die Tagespresse geht, ist zwecklos und schädlich. Im Wettkampfe beider Kirchen
liegt das Heil, nicht in der gegenseitigen Bekämpfung und Verunglimpstmg. Das
ist es. was auch die kaiserliche Kirchenpolitik erstrebt.
"

Kurz und gut, die "Reichsverdrossenheit beruht entweder auf einer falschen
Auffassung mancher Verhältnisse, oder auch ans Erscheinungen, die nicht der Mühe
wert sind, daß sich ernste Männer darüber aufregen. Sie ist jedenfalls eine
"Stimmung," und die Deutschen wollen doch wohl keine nervösen Weiber sein, die
sich von "Stimmungen" leiten lassen. Übrigens ist sie größtenteils das Erzeugnis
einer gewissen Presse, nicht der "Volksseele," denn daß der Kaiser trotz dieser Presse
höchst populär ist, das zeigt sich überall, wo er erscheint, und darum vertrauen wir,
daß auch di . e Kinderkrankheit der "Reichsmüdigkeit" überwunden werden wird.


"Sächsisch" und "preußisch" bei deu Kaisermauövern.

Bei den dies¬
jährigen Kaisermanövern an der Saale vom 5. bis zum 11. September waren die
vier Armeekorps, das vierte, elfte, zwölfte und neunzehnte, bekanntlich in zwei Heere
geteilt, svdnß die beiden ersten die Westarmec, die beiden letzten die Ostarmee
bildeten. Die amtliche Bezeichnung unterschied in jetzt herkömmlicher Weise eine rote
und eine blaue Armee, sie unterließ es, sie "preußisch" und "sächsisch" zu nennen,
mit gutem Grnnde, denn bei deu "Sachsen" standen anch vier preußische Kavallerie¬
regimenter, und zu den "Preußen" gehörten selbstverständlich much die ans den
thüringische" Kleinstaaten und aus Anhalt rekrutierten Regimenter. Nichts destoweniger
bürgerte sich die Bezeichnung "sächsisch" und "preußisch"'beim "Volte" sofort ein, und
die Presse mochte das gedankenlos mit. Das hätte nun gar nichts auf sich, wenn nicht


Ganz besondern Anstoß hat seit Jahren in evangelischen Kreisen die Kirchen¬
politik des Kaisers erregt. Offenbar ist es sein Bestreben, die heillosen Wirkungen
des unzweifelhaft mißlungnen Kulturkampfes auf seine katholischen Untertanen all¬
mählich zu beseitigen. Das ist ihm der Hauptsache nach gelungen, denn man hat
kein Recht, die Äußerungen deutsch-patriotischer Gesinnung, wie sie nicht selten von
katholische» Kirchenfürsten und noch zuletzt auf dem Katholikentage in Köln zutage
getreten sind, für Heuchelei zu halten, wobei wir allerdings den verstockten Parti-
kularismus des bayrischen Zentrums, der mit katholischen Interessen nichts zu tun
hat. beiseite lassen. Und wir fragen: Ist durch ein solches Entgegenkommen die
evangelische Kirche irgendwie geschädigt worden? Sollte sie wirklich so schwach
sein, daß ihr die Rückkehr einiger Jesuiten gefährlich werden könnte? Hat nicht
der Kaiser zugleich den Anstoß zu einem engern Zusammenschluß der evangelischen
Landeskirchen gegeben, der nun glücklich in die Wege geleitet worden ist und nicht
etwa von katholischer Seite bekämpft wird, sondern von einigen rückständigen
protestantischen Kreisen? Hat er nicht erst jüngst wieder Luther als den größten
deutschen Mann gefeiert? Eine konfessionelle Politik kann heute Gott sei Dank ein
deutscher Kaiser nicht treiben; daß es die Habsburger noch im siebzehnten Jahr¬
hundert versuchten, hat den Dreißigjährigen Krieg entzündet. Was Protestanten
und Katholiken trennt, das sind, abgesehen von den Glaubenslehren, allerdings
Prinzipien, die Stellung der Kirche zum Staat und die Auffassung der Kirche als
einer hierarchischen Weltkirche, an deren Zusammenhang auch unsre katholischen Mit¬
bürger selbstverständlich festhalten. Mit dieser Auffassung haben wir Protestanten
uns abzufinden, und wir können das ohne Schaden, mit jeuer ist natürlich nur ein
moäns vivomii möglich, wie bei so vielen prinzipiellen Gegensätzen. Allerdings, wenn
der Papst könnte, so würde er vermutlich den Protestantismus vertilgen wollen.
Aber es gibt ganz gewiß auch auf protestantischer Seite genug Eiferer, die am
liebsten die katholische Kirche, wenigstens in Deutschland, zerstören möchten. Von
dieser veralteten Auffassung müssen wir uns beiderseits aber freimachen. Wir
Protestanten müssen aufhören, die katholische Kirche als etwas eigentlich Unberechtigtes,
womöglich Autiuatiouales zu betrachten, und von den Katholiken müssen wir ver¬
langen, daß sie den Protestantismus als eine berechtigte historische Erscheinung
gelten lassen. Die gegenseitige widerwärtige Verhetzung, wie sie heute auch durch
die Tagespresse geht, ist zwecklos und schädlich. Im Wettkampfe beider Kirchen
liegt das Heil, nicht in der gegenseitigen Bekämpfung und Verunglimpstmg. Das
ist es. was auch die kaiserliche Kirchenpolitik erstrebt.
"

Kurz und gut, die „Reichsverdrossenheit beruht entweder auf einer falschen
Auffassung mancher Verhältnisse, oder auch ans Erscheinungen, die nicht der Mühe
wert sind, daß sich ernste Männer darüber aufregen. Sie ist jedenfalls eine
„Stimmung," und die Deutschen wollen doch wohl keine nervösen Weiber sein, die
sich von „Stimmungen" leiten lassen. Übrigens ist sie größtenteils das Erzeugnis
einer gewissen Presse, nicht der „Volksseele," denn daß der Kaiser trotz dieser Presse
höchst populär ist, das zeigt sich überall, wo er erscheint, und darum vertrauen wir,
daß auch di . e Kinderkrankheit der „Reichsmüdigkeit" überwunden werden wird.


»Sächsisch" und „preußisch" bei deu Kaisermauövern.

Bei den dies¬
jährigen Kaisermanövern an der Saale vom 5. bis zum 11. September waren die
vier Armeekorps, das vierte, elfte, zwölfte und neunzehnte, bekanntlich in zwei Heere
geteilt, svdnß die beiden ersten die Westarmec, die beiden letzten die Ostarmee
bildeten. Die amtliche Bezeichnung unterschied in jetzt herkömmlicher Weise eine rote
und eine blaue Armee, sie unterließ es, sie „preußisch" und „sächsisch" zu nennen,
mit gutem Grnnde, denn bei deu „Sachsen" standen anch vier preußische Kavallerie¬
regimenter, und zu den „Preußen" gehörten selbstverständlich much die ans den
thüringische» Kleinstaaten und aus Anhalt rekrutierten Regimenter. Nichts destoweniger
bürgerte sich die Bezeichnung „sächsisch" und „preußisch"'beim „Volte" sofort ein, und
die Presse mochte das gedankenlos mit. Das hätte nun gar nichts auf sich, wenn nicht


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[0767] Ganz besondern Anstoß hat seit Jahren in evangelischen Kreisen die Kirchen¬ politik des Kaisers erregt. Offenbar ist es sein Bestreben, die heillosen Wirkungen des unzweifelhaft mißlungnen Kulturkampfes auf seine katholischen Untertanen all¬ mählich zu beseitigen. Das ist ihm der Hauptsache nach gelungen, denn man hat kein Recht, die Äußerungen deutsch-patriotischer Gesinnung, wie sie nicht selten von katholische» Kirchenfürsten und noch zuletzt auf dem Katholikentage in Köln zutage getreten sind, für Heuchelei zu halten, wobei wir allerdings den verstockten Parti- kularismus des bayrischen Zentrums, der mit katholischen Interessen nichts zu tun hat. beiseite lassen. Und wir fragen: Ist durch ein solches Entgegenkommen die evangelische Kirche irgendwie geschädigt worden? Sollte sie wirklich so schwach sein, daß ihr die Rückkehr einiger Jesuiten gefährlich werden könnte? Hat nicht der Kaiser zugleich den Anstoß zu einem engern Zusammenschluß der evangelischen Landeskirchen gegeben, der nun glücklich in die Wege geleitet worden ist und nicht etwa von katholischer Seite bekämpft wird, sondern von einigen rückständigen protestantischen Kreisen? Hat er nicht erst jüngst wieder Luther als den größten deutschen Mann gefeiert? Eine konfessionelle Politik kann heute Gott sei Dank ein deutscher Kaiser nicht treiben; daß es die Habsburger noch im siebzehnten Jahr¬ hundert versuchten, hat den Dreißigjährigen Krieg entzündet. Was Protestanten und Katholiken trennt, das sind, abgesehen von den Glaubenslehren, allerdings Prinzipien, die Stellung der Kirche zum Staat und die Auffassung der Kirche als einer hierarchischen Weltkirche, an deren Zusammenhang auch unsre katholischen Mit¬ bürger selbstverständlich festhalten. Mit dieser Auffassung haben wir Protestanten uns abzufinden, und wir können das ohne Schaden, mit jeuer ist natürlich nur ein moäns vivomii möglich, wie bei so vielen prinzipiellen Gegensätzen. Allerdings, wenn der Papst könnte, so würde er vermutlich den Protestantismus vertilgen wollen. Aber es gibt ganz gewiß auch auf protestantischer Seite genug Eiferer, die am liebsten die katholische Kirche, wenigstens in Deutschland, zerstören möchten. Von dieser veralteten Auffassung müssen wir uns beiderseits aber freimachen. Wir Protestanten müssen aufhören, die katholische Kirche als etwas eigentlich Unberechtigtes, womöglich Autiuatiouales zu betrachten, und von den Katholiken müssen wir ver¬ langen, daß sie den Protestantismus als eine berechtigte historische Erscheinung gelten lassen. Die gegenseitige widerwärtige Verhetzung, wie sie heute auch durch die Tagespresse geht, ist zwecklos und schädlich. Im Wettkampfe beider Kirchen liegt das Heil, nicht in der gegenseitigen Bekämpfung und Verunglimpstmg. Das ist es. was auch die kaiserliche Kirchenpolitik erstrebt. " Kurz und gut, die „Reichsverdrossenheit beruht entweder auf einer falschen Auffassung mancher Verhältnisse, oder auch ans Erscheinungen, die nicht der Mühe wert sind, daß sich ernste Männer darüber aufregen. Sie ist jedenfalls eine „Stimmung," und die Deutschen wollen doch wohl keine nervösen Weiber sein, die sich von „Stimmungen" leiten lassen. Übrigens ist sie größtenteils das Erzeugnis einer gewissen Presse, nicht der „Volksseele," denn daß der Kaiser trotz dieser Presse höchst populär ist, das zeigt sich überall, wo er erscheint, und darum vertrauen wir, daß auch di . e Kinderkrankheit der „Reichsmüdigkeit" überwunden werden wird. »Sächsisch" und „preußisch" bei deu Kaisermauövern. Bei den dies¬ jährigen Kaisermanövern an der Saale vom 5. bis zum 11. September waren die vier Armeekorps, das vierte, elfte, zwölfte und neunzehnte, bekanntlich in zwei Heere geteilt, svdnß die beiden ersten die Westarmec, die beiden letzten die Ostarmee bildeten. Die amtliche Bezeichnung unterschied in jetzt herkömmlicher Weise eine rote und eine blaue Armee, sie unterließ es, sie „preußisch" und „sächsisch" zu nennen, mit gutem Grnnde, denn bei deu „Sachsen" standen anch vier preußische Kavallerie¬ regimenter, und zu den „Preußen" gehörten selbstverständlich much die ans den thüringische» Kleinstaaten und aus Anhalt rekrutierten Regimenter. Nichts destoweniger bürgerte sich die Bezeichnung „sächsisch" und „preußisch"'beim „Volte" sofort ein, und die Presse mochte das gedankenlos mit. Das hätte nun gar nichts auf sich, wenn nicht

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/767>, abgerufen am 25.11.2024.