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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gefühlspolitik kann und soll eine große Macht nicht treiben, am wenigsten heute,
wo jeder große Krieg einen ungeheuern Einsatz fordern würde; aber es ist wahrhaftig
kein Ruhm für unsre moderne Gesittung, daß Europa z. B. den scheußlichen
Armeniermorden des Jahres 1898 ruhig zusah, und daß es über die Belgrader
Schlächterei in der Nacht des 10. Juni dieses Jahres nicht einmütig und energisch
seine rückhaltlose Verurteilung aussprach, um diesen Serben zum Bewußtsein zu
bringen, daß sie Barbaren seien, mit denen man nicht mehr Verkehren könne. So
weit haben wir das Bewußtsein der Kulturgemeinschaft und der Pflicht, diese
Kultur zu schützen, verloren! Wenn die Mächte in China leidlich einmütig eingriffen,
so geschah das doch mehr wegen materieller Interessen; als unser Kaiser dabei
einmal die Pflicht, die christliche Kultur da drüben zu schützen, hervorhob, wurde
er von unsrer gesinnungstüchtigen Presse wegen dieses "Rückfalls ins Mittelnlter"
geradezu verhöhnt, und wenn sich diese für die Buren begeisterte, so hatte daran
der unvernünftige Haß gegen England seinen reichlichen Anteil. Nicht mit Unrecht
nennt unser Kirchenhistoriker Heinrich Gelzer die Haltung Europas gegenüber den
Armcniermorden einen "deutlichen Beweis der immer sieghafter um sich greifenden
moralischen Dekadenz unsrer Generation." Wie soll sich nun diese Generation, der
man alle allgemeinen Ideale abgewöhnt hat, und der doch der Neichsgedante noch
keineswegs so in Fleisch und Blut übergegangen ist, wie längst geeinigten Völkern,
noch besonders für das nationale Ideal erwärmen, das eine frühere Generation
zu den größten Opfern begeistert hat! Die heute vorwiegenden wirtschaftlichen
und sozialen Bestrebungen aber wirken viel mehr trennend als einigend.

Die "Neichsmüden" machen freilich andre Gründe für ihre Verstimmung
geltend und suchen diese vor allem beim Kaiser und beim Kanzler. Oft genug
haben die Grenzboten darauf hingewiesen, daß der Kaiser als eine sehr eigen¬
tümliche und bedeutende Persönlichkeit verstanden sein will, daß er sich das Recht,
eine solche zu sein, nicht durch Zeitungsgeschwätz unberufner Splitterrichter Ver¬
kümmern läßt, daß alles, was er sagt und tut, aus seinem innersten Wesen kommt,
es mag dem oder jenem gefallen oder nicht, daß er endlich nach Bismarcks Prophe¬
zeiung sei" eigner Kanzler geworden ist, und damit zum Leidwesen mancher das
frühere übrigens mehr in der Einbildung bestehende Verhältnis zwischen Kaiser und
Kanzler umgekehrt hat, als wenn dieses das natürliche gewesen wäre! Wir gehn
hier deshalb auf Einzelheiten nicht ein, weil sie zu unbedeutend sind, um die
"Reichsverdrossenheit" irgendwie zu rechtfertigen oder auch nur zu entschuldigen,
und weil an seinem ernsten Willen, "dem Bewußtsein, für 58 Millionen Deutsche
verantwortlich zu sein," wie er jüngst in Merseburg ausgesprochen hat, und der
ungewöhnlichen Fähigkeit, dieser seiner ungeheuern Aufgabe zu genügen, nicht der
leiseste Zweifel erlaubt ist. Aber seine ganze Politik ist seit Jahren fortwährend
kleinlichen und hämischen Angriffen ausgesetzt. Nichts ist dümmer, als der Vor¬
wurf, er secure einen "Zickzackkurs," wenn er schlechtweg die deutschen Interessen
im Auge hat und deshalb weder englische noch russische Politik treibt, sondern eben
deutsche, und es ebensowohl vermeidet, sich mit der einen oder der andern dieser
beiden Mächte zu überwerfen als ihr "nachzulaufen." Er hat in Ostasien mit
Rußland und Frankreich zusammen gegen Japan Front gemacht, als es das deutsche
Interesse verlangte, und er hat sich später dort aus demselben Grunde mit Eng¬
land gegen Rußlands zweideutige, rücksichtslos ausgreifende Politik verständigt.
Gelegentlich wird ihm eine "Politik der Verbeugungen" namentlich gegenüber Nord¬
amerika zum Vorwurf gemacht, die der jetzt zuweilen so reizbare deutsche National¬
stolz als demütigend auslegt; aber man vergißt dabei nicht nur, daß eine An-
remplungspolitik weder imponiert noch gewinnt, sondern auch, daß wir zur See
noch viel zu schwach sind, als daß wir es riskieren könnten, uns mit einer über¬
seeischen Großmacht in einen Konflikt einzulassen. Übrigens möchten wir wissen,
inwiefern denn kaiserliche Aufmerksamkeiten gegen den Präsidenten Noosevelt irgend¬
wie Deutschlands unwürdig wären. Der beste Wächter über die Würde Deutsch¬
lands ist doch wohl der Kaiser.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gefühlspolitik kann und soll eine große Macht nicht treiben, am wenigsten heute,
wo jeder große Krieg einen ungeheuern Einsatz fordern würde; aber es ist wahrhaftig
kein Ruhm für unsre moderne Gesittung, daß Europa z. B. den scheußlichen
Armeniermorden des Jahres 1898 ruhig zusah, und daß es über die Belgrader
Schlächterei in der Nacht des 10. Juni dieses Jahres nicht einmütig und energisch
seine rückhaltlose Verurteilung aussprach, um diesen Serben zum Bewußtsein zu
bringen, daß sie Barbaren seien, mit denen man nicht mehr Verkehren könne. So
weit haben wir das Bewußtsein der Kulturgemeinschaft und der Pflicht, diese
Kultur zu schützen, verloren! Wenn die Mächte in China leidlich einmütig eingriffen,
so geschah das doch mehr wegen materieller Interessen; als unser Kaiser dabei
einmal die Pflicht, die christliche Kultur da drüben zu schützen, hervorhob, wurde
er von unsrer gesinnungstüchtigen Presse wegen dieses „Rückfalls ins Mittelnlter"
geradezu verhöhnt, und wenn sich diese für die Buren begeisterte, so hatte daran
der unvernünftige Haß gegen England seinen reichlichen Anteil. Nicht mit Unrecht
nennt unser Kirchenhistoriker Heinrich Gelzer die Haltung Europas gegenüber den
Armcniermorden einen „deutlichen Beweis der immer sieghafter um sich greifenden
moralischen Dekadenz unsrer Generation." Wie soll sich nun diese Generation, der
man alle allgemeinen Ideale abgewöhnt hat, und der doch der Neichsgedante noch
keineswegs so in Fleisch und Blut übergegangen ist, wie längst geeinigten Völkern,
noch besonders für das nationale Ideal erwärmen, das eine frühere Generation
zu den größten Opfern begeistert hat! Die heute vorwiegenden wirtschaftlichen
und sozialen Bestrebungen aber wirken viel mehr trennend als einigend.

Die „Neichsmüden" machen freilich andre Gründe für ihre Verstimmung
geltend und suchen diese vor allem beim Kaiser und beim Kanzler. Oft genug
haben die Grenzboten darauf hingewiesen, daß der Kaiser als eine sehr eigen¬
tümliche und bedeutende Persönlichkeit verstanden sein will, daß er sich das Recht,
eine solche zu sein, nicht durch Zeitungsgeschwätz unberufner Splitterrichter Ver¬
kümmern läßt, daß alles, was er sagt und tut, aus seinem innersten Wesen kommt,
es mag dem oder jenem gefallen oder nicht, daß er endlich nach Bismarcks Prophe¬
zeiung sei» eigner Kanzler geworden ist, und damit zum Leidwesen mancher das
frühere übrigens mehr in der Einbildung bestehende Verhältnis zwischen Kaiser und
Kanzler umgekehrt hat, als wenn dieses das natürliche gewesen wäre! Wir gehn
hier deshalb auf Einzelheiten nicht ein, weil sie zu unbedeutend sind, um die
„Reichsverdrossenheit" irgendwie zu rechtfertigen oder auch nur zu entschuldigen,
und weil an seinem ernsten Willen, „dem Bewußtsein, für 58 Millionen Deutsche
verantwortlich zu sein," wie er jüngst in Merseburg ausgesprochen hat, und der
ungewöhnlichen Fähigkeit, dieser seiner ungeheuern Aufgabe zu genügen, nicht der
leiseste Zweifel erlaubt ist. Aber seine ganze Politik ist seit Jahren fortwährend
kleinlichen und hämischen Angriffen ausgesetzt. Nichts ist dümmer, als der Vor¬
wurf, er secure einen „Zickzackkurs," wenn er schlechtweg die deutschen Interessen
im Auge hat und deshalb weder englische noch russische Politik treibt, sondern eben
deutsche, und es ebensowohl vermeidet, sich mit der einen oder der andern dieser
beiden Mächte zu überwerfen als ihr „nachzulaufen." Er hat in Ostasien mit
Rußland und Frankreich zusammen gegen Japan Front gemacht, als es das deutsche
Interesse verlangte, und er hat sich später dort aus demselben Grunde mit Eng¬
land gegen Rußlands zweideutige, rücksichtslos ausgreifende Politik verständigt.
Gelegentlich wird ihm eine „Politik der Verbeugungen" namentlich gegenüber Nord¬
amerika zum Vorwurf gemacht, die der jetzt zuweilen so reizbare deutsche National¬
stolz als demütigend auslegt; aber man vergißt dabei nicht nur, daß eine An-
remplungspolitik weder imponiert noch gewinnt, sondern auch, daß wir zur See
noch viel zu schwach sind, als daß wir es riskieren könnten, uns mit einer über¬
seeischen Großmacht in einen Konflikt einzulassen. Übrigens möchten wir wissen,
inwiefern denn kaiserliche Aufmerksamkeiten gegen den Präsidenten Noosevelt irgend¬
wie Deutschlands unwürdig wären. Der beste Wächter über die Würde Deutsch¬
lands ist doch wohl der Kaiser.


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[0766] Maßgebliches und Unmaßgebliches Gefühlspolitik kann und soll eine große Macht nicht treiben, am wenigsten heute, wo jeder große Krieg einen ungeheuern Einsatz fordern würde; aber es ist wahrhaftig kein Ruhm für unsre moderne Gesittung, daß Europa z. B. den scheußlichen Armeniermorden des Jahres 1898 ruhig zusah, und daß es über die Belgrader Schlächterei in der Nacht des 10. Juni dieses Jahres nicht einmütig und energisch seine rückhaltlose Verurteilung aussprach, um diesen Serben zum Bewußtsein zu bringen, daß sie Barbaren seien, mit denen man nicht mehr Verkehren könne. So weit haben wir das Bewußtsein der Kulturgemeinschaft und der Pflicht, diese Kultur zu schützen, verloren! Wenn die Mächte in China leidlich einmütig eingriffen, so geschah das doch mehr wegen materieller Interessen; als unser Kaiser dabei einmal die Pflicht, die christliche Kultur da drüben zu schützen, hervorhob, wurde er von unsrer gesinnungstüchtigen Presse wegen dieses „Rückfalls ins Mittelnlter" geradezu verhöhnt, und wenn sich diese für die Buren begeisterte, so hatte daran der unvernünftige Haß gegen England seinen reichlichen Anteil. Nicht mit Unrecht nennt unser Kirchenhistoriker Heinrich Gelzer die Haltung Europas gegenüber den Armcniermorden einen „deutlichen Beweis der immer sieghafter um sich greifenden moralischen Dekadenz unsrer Generation." Wie soll sich nun diese Generation, der man alle allgemeinen Ideale abgewöhnt hat, und der doch der Neichsgedante noch keineswegs so in Fleisch und Blut übergegangen ist, wie längst geeinigten Völkern, noch besonders für das nationale Ideal erwärmen, das eine frühere Generation zu den größten Opfern begeistert hat! Die heute vorwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Bestrebungen aber wirken viel mehr trennend als einigend. Die „Neichsmüden" machen freilich andre Gründe für ihre Verstimmung geltend und suchen diese vor allem beim Kaiser und beim Kanzler. Oft genug haben die Grenzboten darauf hingewiesen, daß der Kaiser als eine sehr eigen¬ tümliche und bedeutende Persönlichkeit verstanden sein will, daß er sich das Recht, eine solche zu sein, nicht durch Zeitungsgeschwätz unberufner Splitterrichter Ver¬ kümmern läßt, daß alles, was er sagt und tut, aus seinem innersten Wesen kommt, es mag dem oder jenem gefallen oder nicht, daß er endlich nach Bismarcks Prophe¬ zeiung sei» eigner Kanzler geworden ist, und damit zum Leidwesen mancher das frühere übrigens mehr in der Einbildung bestehende Verhältnis zwischen Kaiser und Kanzler umgekehrt hat, als wenn dieses das natürliche gewesen wäre! Wir gehn hier deshalb auf Einzelheiten nicht ein, weil sie zu unbedeutend sind, um die „Reichsverdrossenheit" irgendwie zu rechtfertigen oder auch nur zu entschuldigen, und weil an seinem ernsten Willen, „dem Bewußtsein, für 58 Millionen Deutsche verantwortlich zu sein," wie er jüngst in Merseburg ausgesprochen hat, und der ungewöhnlichen Fähigkeit, dieser seiner ungeheuern Aufgabe zu genügen, nicht der leiseste Zweifel erlaubt ist. Aber seine ganze Politik ist seit Jahren fortwährend kleinlichen und hämischen Angriffen ausgesetzt. Nichts ist dümmer, als der Vor¬ wurf, er secure einen „Zickzackkurs," wenn er schlechtweg die deutschen Interessen im Auge hat und deshalb weder englische noch russische Politik treibt, sondern eben deutsche, und es ebensowohl vermeidet, sich mit der einen oder der andern dieser beiden Mächte zu überwerfen als ihr „nachzulaufen." Er hat in Ostasien mit Rußland und Frankreich zusammen gegen Japan Front gemacht, als es das deutsche Interesse verlangte, und er hat sich später dort aus demselben Grunde mit Eng¬ land gegen Rußlands zweideutige, rücksichtslos ausgreifende Politik verständigt. Gelegentlich wird ihm eine „Politik der Verbeugungen" namentlich gegenüber Nord¬ amerika zum Vorwurf gemacht, die der jetzt zuweilen so reizbare deutsche National¬ stolz als demütigend auslegt; aber man vergißt dabei nicht nur, daß eine An- remplungspolitik weder imponiert noch gewinnt, sondern auch, daß wir zur See noch viel zu schwach sind, als daß wir es riskieren könnten, uns mit einer über¬ seeischen Großmacht in einen Konflikt einzulassen. Übrigens möchten wir wissen, inwiefern denn kaiserliche Aufmerksamkeiten gegen den Präsidenten Noosevelt irgend¬ wie Deutschlands unwürdig wären. Der beste Wächter über die Würde Deutsch¬ lands ist doch wohl der Kaiser.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/766>, abgerufen am 09.11.2024.