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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Art Festtagsgedanke, an dem sie sich begeistern wollen, für den sie reden, trinke"
und singen wollen. Wenn ihm da irgend etwas gegen den Strich geht, dann
wird der Durchschnittsreichsbürger mißmutig, er kann sich nicht mehr darüber freuen,
er hätte sich das ganz anders gedacht, und wenn das Reich ihm, wie es eben
ist, nicht mehr gefällt, dann mag es seinetwegen der böse Feind holen. Es müßte
also auch ohne das Reich gehn. Ginge es wirklich ohne das Reich? Nein, und
abermals nein! Wir könnten gar nicht leben ohne das Reich. Es verlohnt nicht,
erst nachzuweisen, daß Deutschlands politische und wirtschaftliche Weltstellung auf
dem Reiche beruht, daß es ohne das Reich wieder ein geographischer Begriff und
der Spielball seiner Nachbarn sein würde, daß die einzelnen Staaten, auf sich ge¬
stellt, mit der alleinigen Ausnahme Preußens ohne das Reich jede Sicherheit ihres
Bestandes verlieren und in Gefahr kommen würden, wieder als eine große Ent¬
schädigungsmasse behandelt zu werden, wie vor hundert Jahren; daß ohne das Reich
weder das Königreich Bayern noch das Königreich Sachsen auf irgend eine längere
Zukunft rechnen könnte. Unsre Fürsten haben diese Wahrheit längst eingesehen und
sind deshalb die festesten Stützen des Reichsbaus geworden, in weiten Kreisen
unsers Volkes, auch in höchst gebildeten, ist man des Reichs überdrüssig, weil nicht
alles immer so geht, wie man es für richtig und ersprießlich hält, und mau be¬
zeugt damit nur die unverbesserliche, unheilbare politische Unreife unsers Volkes.
Oder man frage doch in Frankreich und England, ob es dort so etwas wie "Neichs-
verdrossenheit" gibt. Obwohl auch dort so mancherlei zu finden ist, was dem eiuen
oder dein andern Staatsbürger nicht "Paßt," jeder Franzose und jeder Engländer
würde den Gedanken, daß er seines Nationalstaats jemals überdrüssig sei" könnte,
mit Entrüstung als hochverräterisch abweisen, ja er würde ihn gar nicht begreifen,
so etwas Selbstverständliches ist ihm seine nationale Einheit geworden. Wie weit
sind wir Deutschen doch noch von solcher Gesinnung entfernt!

Das Reich ist für jeden Deutschen das politische Vaterland, das ganze Reich,
und zwar das Reich in seinen bestehenden Grenzen, nicht das "altdeutsche" Traum¬
reich, zu dem einst Deutsch-Österreich, die Schweiz, Holland, Belgien und noch
einiges andre gehören sollen. Denn dieser phantastische nationale Radikalismus
hat vor keiner geschichtlichen Erfahrung und Entwicklung Respekt. Es kommt
durchaus nicht darauf an, daß ein Nationalstaat alle Glieder eines Volkes umfaßt,
es kommt lediglich darauf an, daß ein solcher besteht, daß die Hauptmasse eines
Volkes Politisch geeinigt ist, seine Eigenheit in der Welt zur Geltung bringt und
den nicht mit eingeschlossenen Teilen des Gesamtvolkes einen festen Rückhalt bietet.
Es wäre ja in mancher Hinsicht ganz schön, wenn Deutsch-Österreich zum Reiche
gehörte, aber die Trennung hat schon mit 1156 begonnen und war 1648 inner¬
lich vollendet. Und kein großes Volk Europas ist ohne Rest in einem einzigen
Staatsbäu vereinigt, weder sind es die Russen noch die Franzosen noch die Italiener
oder gar die Engländer. Der Gedanke, Deutsch-Österreich in das heutige Reich aufzu¬
nehmen, ist geunu so vernünftig, wie die italienische Jrredenta und der russische
Panslawismus, über die wir uns so gern aufrege", und seine Verwirklichung wäre
dem Deutschen Reiche und dem Deutschtum geradezu schädlich. Schon die Furcht
vor solchen Möglichkeiten, denen unsre Reichspolitik doch immer meilenfern gestanden
hat, hat die österreichische Regierung seit langem veranlaßt, die tschechische Anmnßnng
zu begünstigen, um in einem von den Tschechen möglichst beherrschten Böhmen
ein Bollwerk gegen den politischen Zusammenschluß der österreichischen Deutschen und
der Reichsdeutschen zu schaffen. Und was wollten wir mit diesem zähen und
energischen slawischen Stamme machen, die wir mit den um so viel schwächern Polen
nicht fertig werden? Wir konnten diese slawischen Bevölkerungen doch auf die
Dauer weder absolut regieren noch sie in unsern Reichstag zulassen, worin dann
mindestens zwölf Millionen Slawen vertreten wären. Das Zentrum aber würde
ungeheuer anwachsen, denn daß die Deutsch-Österreicher auf Grund unsers allge¬
meinen Wahlrechts wesentlich Zcntrumsleute in den deutschen Reichstag schicken


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Art Festtagsgedanke, an dem sie sich begeistern wollen, für den sie reden, trinke»
und singen wollen. Wenn ihm da irgend etwas gegen den Strich geht, dann
wird der Durchschnittsreichsbürger mißmutig, er kann sich nicht mehr darüber freuen,
er hätte sich das ganz anders gedacht, und wenn das Reich ihm, wie es eben
ist, nicht mehr gefällt, dann mag es seinetwegen der böse Feind holen. Es müßte
also auch ohne das Reich gehn. Ginge es wirklich ohne das Reich? Nein, und
abermals nein! Wir könnten gar nicht leben ohne das Reich. Es verlohnt nicht,
erst nachzuweisen, daß Deutschlands politische und wirtschaftliche Weltstellung auf
dem Reiche beruht, daß es ohne das Reich wieder ein geographischer Begriff und
der Spielball seiner Nachbarn sein würde, daß die einzelnen Staaten, auf sich ge¬
stellt, mit der alleinigen Ausnahme Preußens ohne das Reich jede Sicherheit ihres
Bestandes verlieren und in Gefahr kommen würden, wieder als eine große Ent¬
schädigungsmasse behandelt zu werden, wie vor hundert Jahren; daß ohne das Reich
weder das Königreich Bayern noch das Königreich Sachsen auf irgend eine längere
Zukunft rechnen könnte. Unsre Fürsten haben diese Wahrheit längst eingesehen und
sind deshalb die festesten Stützen des Reichsbaus geworden, in weiten Kreisen
unsers Volkes, auch in höchst gebildeten, ist man des Reichs überdrüssig, weil nicht
alles immer so geht, wie man es für richtig und ersprießlich hält, und mau be¬
zeugt damit nur die unverbesserliche, unheilbare politische Unreife unsers Volkes.
Oder man frage doch in Frankreich und England, ob es dort so etwas wie „Neichs-
verdrossenheit" gibt. Obwohl auch dort so mancherlei zu finden ist, was dem eiuen
oder dein andern Staatsbürger nicht „Paßt," jeder Franzose und jeder Engländer
würde den Gedanken, daß er seines Nationalstaats jemals überdrüssig sei» könnte,
mit Entrüstung als hochverräterisch abweisen, ja er würde ihn gar nicht begreifen,
so etwas Selbstverständliches ist ihm seine nationale Einheit geworden. Wie weit
sind wir Deutschen doch noch von solcher Gesinnung entfernt!

Das Reich ist für jeden Deutschen das politische Vaterland, das ganze Reich,
und zwar das Reich in seinen bestehenden Grenzen, nicht das „altdeutsche" Traum¬
reich, zu dem einst Deutsch-Österreich, die Schweiz, Holland, Belgien und noch
einiges andre gehören sollen. Denn dieser phantastische nationale Radikalismus
hat vor keiner geschichtlichen Erfahrung und Entwicklung Respekt. Es kommt
durchaus nicht darauf an, daß ein Nationalstaat alle Glieder eines Volkes umfaßt,
es kommt lediglich darauf an, daß ein solcher besteht, daß die Hauptmasse eines
Volkes Politisch geeinigt ist, seine Eigenheit in der Welt zur Geltung bringt und
den nicht mit eingeschlossenen Teilen des Gesamtvolkes einen festen Rückhalt bietet.
Es wäre ja in mancher Hinsicht ganz schön, wenn Deutsch-Österreich zum Reiche
gehörte, aber die Trennung hat schon mit 1156 begonnen und war 1648 inner¬
lich vollendet. Und kein großes Volk Europas ist ohne Rest in einem einzigen
Staatsbäu vereinigt, weder sind es die Russen noch die Franzosen noch die Italiener
oder gar die Engländer. Der Gedanke, Deutsch-Österreich in das heutige Reich aufzu¬
nehmen, ist geunu so vernünftig, wie die italienische Jrredenta und der russische
Panslawismus, über die wir uns so gern aufrege«, und seine Verwirklichung wäre
dem Deutschen Reiche und dem Deutschtum geradezu schädlich. Schon die Furcht
vor solchen Möglichkeiten, denen unsre Reichspolitik doch immer meilenfern gestanden
hat, hat die österreichische Regierung seit langem veranlaßt, die tschechische Anmnßnng
zu begünstigen, um in einem von den Tschechen möglichst beherrschten Böhmen
ein Bollwerk gegen den politischen Zusammenschluß der österreichischen Deutschen und
der Reichsdeutschen zu schaffen. Und was wollten wir mit diesem zähen und
energischen slawischen Stamme machen, die wir mit den um so viel schwächern Polen
nicht fertig werden? Wir konnten diese slawischen Bevölkerungen doch auf die
Dauer weder absolut regieren noch sie in unsern Reichstag zulassen, worin dann
mindestens zwölf Millionen Slawen vertreten wären. Das Zentrum aber würde
ungeheuer anwachsen, denn daß die Deutsch-Österreicher auf Grund unsers allge¬
meinen Wahlrechts wesentlich Zcntrumsleute in den deutschen Reichstag schicken


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[0764] Maßgebliches und Unmaßgebliches Art Festtagsgedanke, an dem sie sich begeistern wollen, für den sie reden, trinke» und singen wollen. Wenn ihm da irgend etwas gegen den Strich geht, dann wird der Durchschnittsreichsbürger mißmutig, er kann sich nicht mehr darüber freuen, er hätte sich das ganz anders gedacht, und wenn das Reich ihm, wie es eben ist, nicht mehr gefällt, dann mag es seinetwegen der böse Feind holen. Es müßte also auch ohne das Reich gehn. Ginge es wirklich ohne das Reich? Nein, und abermals nein! Wir könnten gar nicht leben ohne das Reich. Es verlohnt nicht, erst nachzuweisen, daß Deutschlands politische und wirtschaftliche Weltstellung auf dem Reiche beruht, daß es ohne das Reich wieder ein geographischer Begriff und der Spielball seiner Nachbarn sein würde, daß die einzelnen Staaten, auf sich ge¬ stellt, mit der alleinigen Ausnahme Preußens ohne das Reich jede Sicherheit ihres Bestandes verlieren und in Gefahr kommen würden, wieder als eine große Ent¬ schädigungsmasse behandelt zu werden, wie vor hundert Jahren; daß ohne das Reich weder das Königreich Bayern noch das Königreich Sachsen auf irgend eine längere Zukunft rechnen könnte. Unsre Fürsten haben diese Wahrheit längst eingesehen und sind deshalb die festesten Stützen des Reichsbaus geworden, in weiten Kreisen unsers Volkes, auch in höchst gebildeten, ist man des Reichs überdrüssig, weil nicht alles immer so geht, wie man es für richtig und ersprießlich hält, und mau be¬ zeugt damit nur die unverbesserliche, unheilbare politische Unreife unsers Volkes. Oder man frage doch in Frankreich und England, ob es dort so etwas wie „Neichs- verdrossenheit" gibt. Obwohl auch dort so mancherlei zu finden ist, was dem eiuen oder dein andern Staatsbürger nicht „Paßt," jeder Franzose und jeder Engländer würde den Gedanken, daß er seines Nationalstaats jemals überdrüssig sei» könnte, mit Entrüstung als hochverräterisch abweisen, ja er würde ihn gar nicht begreifen, so etwas Selbstverständliches ist ihm seine nationale Einheit geworden. Wie weit sind wir Deutschen doch noch von solcher Gesinnung entfernt! Das Reich ist für jeden Deutschen das politische Vaterland, das ganze Reich, und zwar das Reich in seinen bestehenden Grenzen, nicht das „altdeutsche" Traum¬ reich, zu dem einst Deutsch-Österreich, die Schweiz, Holland, Belgien und noch einiges andre gehören sollen. Denn dieser phantastische nationale Radikalismus hat vor keiner geschichtlichen Erfahrung und Entwicklung Respekt. Es kommt durchaus nicht darauf an, daß ein Nationalstaat alle Glieder eines Volkes umfaßt, es kommt lediglich darauf an, daß ein solcher besteht, daß die Hauptmasse eines Volkes Politisch geeinigt ist, seine Eigenheit in der Welt zur Geltung bringt und den nicht mit eingeschlossenen Teilen des Gesamtvolkes einen festen Rückhalt bietet. Es wäre ja in mancher Hinsicht ganz schön, wenn Deutsch-Österreich zum Reiche gehörte, aber die Trennung hat schon mit 1156 begonnen und war 1648 inner¬ lich vollendet. Und kein großes Volk Europas ist ohne Rest in einem einzigen Staatsbäu vereinigt, weder sind es die Russen noch die Franzosen noch die Italiener oder gar die Engländer. Der Gedanke, Deutsch-Österreich in das heutige Reich aufzu¬ nehmen, ist geunu so vernünftig, wie die italienische Jrredenta und der russische Panslawismus, über die wir uns so gern aufrege«, und seine Verwirklichung wäre dem Deutschen Reiche und dem Deutschtum geradezu schädlich. Schon die Furcht vor solchen Möglichkeiten, denen unsre Reichspolitik doch immer meilenfern gestanden hat, hat die österreichische Regierung seit langem veranlaßt, die tschechische Anmnßnng zu begünstigen, um in einem von den Tschechen möglichst beherrschten Böhmen ein Bollwerk gegen den politischen Zusammenschluß der österreichischen Deutschen und der Reichsdeutschen zu schaffen. Und was wollten wir mit diesem zähen und energischen slawischen Stamme machen, die wir mit den um so viel schwächern Polen nicht fertig werden? Wir konnten diese slawischen Bevölkerungen doch auf die Dauer weder absolut regieren noch sie in unsern Reichstag zulassen, worin dann mindestens zwölf Millionen Slawen vertreten wären. Das Zentrum aber würde ungeheuer anwachsen, denn daß die Deutsch-Österreicher auf Grund unsers allge¬ meinen Wahlrechts wesentlich Zcntrumsleute in den deutschen Reichstag schicken

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/764>, abgerufen am 25.11.2024.