Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.Lügen Mouton Schaufenster "die Polizei des Herrn Thiers" verbot, weil er zu aufregend Die Buchhändleranzeige sagt nicht, wann Mouton gestorben ist. Den Dieser letzte Abschnitt ist seine "Philosophie." Sie ist in zwei sehr Lügen Mouton Schaufenster „die Polizei des Herrn Thiers" verbot, weil er zu aufregend Die Buchhändleranzeige sagt nicht, wann Mouton gestorben ist. Den Dieser letzte Abschnitt ist seine „Philosophie." Sie ist in zwei sehr <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0622" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241838"/> <fw type="header" place="top"> Lügen Mouton</fw><lb/> <p xml:id="ID_2500" prev="#ID_2499"> Schaufenster „die Polizei des Herrn Thiers" verbot, weil er zu aufregend<lb/> wirke. Ein Gönner verschaffte später dem Kunstwerk einen Platz im Salon.<lb/> Auch die Musik liebte und übte er, namentlich den Gesang, aber das Piano<lb/> Verabscheute er, und nicht einmal Liszt vermochte seinen Widerwillen gegen „die<lb/> Maschine" zu überwinde:,. Die musikalischen Genüsse gingen ihm im Alter durch<lb/> Taubheit verloren. Im Gespräch verstand er sich einigermaßen zu helfen —<lb/> durch eine Erfindung. Er hat gleich andern Schwerhörigen die Erfahrung<lb/> gemacht, daß die Heilkuren und die gebräuchlichen Instrumente höchstens die<lb/> Wirkung haben, den etwa noch vorhandnen Nest des Gehörs zu zerstören.<lb/> Dagegen leistete ihm ein Rohr vortreffliche Dienste, das er sich selbst konstruiert<lb/> hatte, und das ihm jeder leicht nachmachen kann. Es ist ein fünfzig bis sechzig<lb/> Zentimeter langes, sechs bis sieben Zentimeter weites Rohr aus festem Papier<lb/> oder Karton, das vollkommen zylindrisch sein muß, sodaß also beide Öffnungen<lb/> gleich weit sind. Der Redende spricht in die eine Öffnung hinein, ohne das<lb/> Papier mit den Lippen zu berühren. (Der Verfasser dieses Aufsatzes, der an<lb/> demselben Übel leidet, hat Mondorf Erfindung probiert und sehr gut befunden.)</p><lb/> <p xml:id="ID_2501"> Die Buchhändleranzeige sagt nicht, wann Mouton gestorben ist. Den<lb/> letzten Abschnitt seines Buches hat er am 2. Januar 1901 unterzeichnet.</p><lb/> <p xml:id="ID_2502"> Dieser letzte Abschnitt ist seine „Philosophie." Sie ist in zwei sehr<lb/> hübschen kleinen Aufsätzen enthalten, die I^g, vis und of la patrio überschrieben<lb/> sind. Jeder besteht aus zwei Teilen, die c-c>mer«z und xour plädieren. Der<lb/> Pessimist beweist, daß alles Unsinn, der Optimist, daß der Kern des Lebens<lb/> gut und die Vaterlandsliebe vernünftig ist. Was den Verfasser hauptsächlich<lb/> berechtigt, die beiden Bände ein Stück Naturgeschichte des Menschen zu nennen,<lb/> das läßt sich in einem Bericht darüber nicht wiedergeben. Es sind die zahl¬<lb/> reichen Charakterzcichnungen von Personen jedes Standes. Eine wollen wir<lb/> wenigstens erwähnen, weil er die Folgerung daraus zieht, der wahre Wert<lb/> eines Menschen sei nicht nach seinen Taten und Leistungen, noch weniger<lb/> natürlich nach seinen körperlichen und geistigen Gaben zu schützen, sondern nach<lb/> der Art und Weise, wie er sein Unglück trügt, besonders, wenn dieses Unglück<lb/> ein untragisches graues Elend ist, und seine unbedeutende Persönlichkeit der<lb/> Welt verborgen bleibt. Ein Bekannter Mondorf, ein Mann aus guter Familie,<lb/> hatte zeitlebens das ausgesuchteste Pech gehabt. Er hatte als Kaufmann durch<lb/> nicht vorauszusehende Konjunkturen seine Ersparnisse verloren, hatte dann immer<lb/> nur jämmerlich schlechte Posten, bis zu sechshundert Franken hinunter bekommen,<lb/> war zeitlebens blutarm geblieben, hatte aber seine Stellung in der guten Gesell¬<lb/> schaft behauptet, war nie jemand einen Centime schuldig geblieben und erschien<lb/> immer heiter, guter Laune und glücklich. Unterstützung ließ er sich nur in der<lb/> Form von Einladungen zu Mahlzeiten gefallen, und da seine Mittel nicht<lb/> einmal zu einem Veilchenbukett für die Frau vom Hause langten, revanchierte er<lb/> sich damit, daß, wenn Pellkartoffeln auf den Tisch kamen, er sie allen Tisch-<lb/> genossen schälte, was er sehr geschickt und elegant zu tun pflegte.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0622]
Lügen Mouton
Schaufenster „die Polizei des Herrn Thiers" verbot, weil er zu aufregend
wirke. Ein Gönner verschaffte später dem Kunstwerk einen Platz im Salon.
Auch die Musik liebte und übte er, namentlich den Gesang, aber das Piano
Verabscheute er, und nicht einmal Liszt vermochte seinen Widerwillen gegen „die
Maschine" zu überwinde:,. Die musikalischen Genüsse gingen ihm im Alter durch
Taubheit verloren. Im Gespräch verstand er sich einigermaßen zu helfen —
durch eine Erfindung. Er hat gleich andern Schwerhörigen die Erfahrung
gemacht, daß die Heilkuren und die gebräuchlichen Instrumente höchstens die
Wirkung haben, den etwa noch vorhandnen Nest des Gehörs zu zerstören.
Dagegen leistete ihm ein Rohr vortreffliche Dienste, das er sich selbst konstruiert
hatte, und das ihm jeder leicht nachmachen kann. Es ist ein fünfzig bis sechzig
Zentimeter langes, sechs bis sieben Zentimeter weites Rohr aus festem Papier
oder Karton, das vollkommen zylindrisch sein muß, sodaß also beide Öffnungen
gleich weit sind. Der Redende spricht in die eine Öffnung hinein, ohne das
Papier mit den Lippen zu berühren. (Der Verfasser dieses Aufsatzes, der an
demselben Übel leidet, hat Mondorf Erfindung probiert und sehr gut befunden.)
Die Buchhändleranzeige sagt nicht, wann Mouton gestorben ist. Den
letzten Abschnitt seines Buches hat er am 2. Januar 1901 unterzeichnet.
Dieser letzte Abschnitt ist seine „Philosophie." Sie ist in zwei sehr
hübschen kleinen Aufsätzen enthalten, die I^g, vis und of la patrio überschrieben
sind. Jeder besteht aus zwei Teilen, die c-c>mer«z und xour plädieren. Der
Pessimist beweist, daß alles Unsinn, der Optimist, daß der Kern des Lebens
gut und die Vaterlandsliebe vernünftig ist. Was den Verfasser hauptsächlich
berechtigt, die beiden Bände ein Stück Naturgeschichte des Menschen zu nennen,
das läßt sich in einem Bericht darüber nicht wiedergeben. Es sind die zahl¬
reichen Charakterzcichnungen von Personen jedes Standes. Eine wollen wir
wenigstens erwähnen, weil er die Folgerung daraus zieht, der wahre Wert
eines Menschen sei nicht nach seinen Taten und Leistungen, noch weniger
natürlich nach seinen körperlichen und geistigen Gaben zu schützen, sondern nach
der Art und Weise, wie er sein Unglück trügt, besonders, wenn dieses Unglück
ein untragisches graues Elend ist, und seine unbedeutende Persönlichkeit der
Welt verborgen bleibt. Ein Bekannter Mondorf, ein Mann aus guter Familie,
hatte zeitlebens das ausgesuchteste Pech gehabt. Er hatte als Kaufmann durch
nicht vorauszusehende Konjunkturen seine Ersparnisse verloren, hatte dann immer
nur jämmerlich schlechte Posten, bis zu sechshundert Franken hinunter bekommen,
war zeitlebens blutarm geblieben, hatte aber seine Stellung in der guten Gesell¬
schaft behauptet, war nie jemand einen Centime schuldig geblieben und erschien
immer heiter, guter Laune und glücklich. Unterstützung ließ er sich nur in der
Form von Einladungen zu Mahlzeiten gefallen, und da seine Mittel nicht
einmal zu einem Veilchenbukett für die Frau vom Hause langten, revanchierte er
sich damit, daß, wenn Pellkartoffeln auf den Tisch kamen, er sie allen Tisch-
genossen schälte, was er sehr geschickt und elegant zu tun pflegte.
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