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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Lüge" Mouton

den Jahrzehnten nach der großen Revolution die Betrügereien, Spitzbübereien
und Räubereien der Advokaten, die man sich mit unerklärlicher Nachsicht ge¬
fallen ließ. Unter Louis Philipp jedoch erreichte der Richterstand den höchsten
Grad seiner Unabhängigkeit, Tüchtigkeit und Rechtschaffenheit und machte dem
Unfug ein Ende, Das ging so schnell, daß sich eine vollkommene Reform voll¬
zog, und strenge Aufsicht zwingt seitdem die Advokaten, so rechtschaffen zu sein
wie die Richter." Mouton fand hie und da noch Spuren der altfränkischen
Etikette, deren Beobachtung bis vor kurzem der richterlichen Aristokratie zur
Währung ihrer Würde gedient hatte. Ein neu angekommener junger Beamter
ist das erstemal beim Präsidenten eingeladen. Er setzt sich zu einigen Damen,
die er kennt, da kommt die Präsidentin und ersucht ihn, ihr seinen Platz ein¬
zuräumen. Er setzt sich zu andern Damen, sofort erscheint die Frau Präsident"!
und richtet dieselbe Bitte an ihn. Er sieht sich verwundert um und bemerkt
nun, daß alle Herren stehn; man sagt ihm dann: im Salon der ersten Prä¬
sidentin und in jedem andern Salon, den sie mit ihrer Gegenwart beehrt, ist
es den Herren verboten, sich zu setzen. Ein Präsident pflegte zu fordern, daß,
wenn er ein Haus betreten sollte, beide Flügel der Einfahrt geöffnet würden.
Einmal blieb er, schon dem Wagen entstiegen, im Schnee und Regen vor der
geöffneten Tür stehn und wartete, bis man mit vieler Mühe den zweiten
Flügel zurückgeschlagen hatte, der seit langer Zeit nicht geöffnet worden und
deshalb eingerostet war.

Da Mondorf richterliche Amtsführung im Jahre 1848 begann, fand er
das Gleichgewicht des würdigen Standes ein wenig durch die Politik erschüttert.
Er selbst macht ungefähr den Eindruck eines aufgeklärten und wohlmeinenden
preußischen Bureaukraten. Er nennt sich liberal, und die Entschiedenheit, mit
der er jede Art von Aberglauben, z. B. das Tischrücken mißbilligt, bezeugt seinen
Rationalismus. Er ist durch und durch human, der Anblick des Elends ist
ihm entsetzlich, er hilft, wo er helfen kann, und er verkehrt gern und gemütlich
mit Leuten niedern Standes, Aber der Demokratie macht er nicht das mindeste
Zugeständnis; für das Volk, das politisiert, hat er nichts als Verachtung. Er
begrüßt es mit Jubel, daß Napoleon Ordnung macht, und schlägt auf seiner
ersten Station, in Draguignan, in Abwesenheit seines Chefs sehr schneidig eine
aufrührerische Bewegung nieder. Mit großer Genugtuung erfüllt ihn eine Ex^
pedition in die Umgegend, wo er, nur von einem Polizeibeamten und einigen
Gendarmen begleitet, mehreremnl inmitten großer drohender Volksmnssen ver¬
handelt und Verhaftungen vorgenommen hat. Er sei überzeugt, schreibt er,
daß er nicht einen Augenblick in Gefahr geschwebt habe. Zuletzt ließen die
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schilderung jedoch, die er von den Südfranzosen entwirft, schwächt die Kraft der
Folgerungen, die er aus seinen Erlebnissen in Dragnigncm zieht, einigermaßen
ab. Das Volk sei dort schlecht erzogen, wenig intelligent und unverschämt.
Wenn man diese Leute einander schimpfen und drohen höre, überlaufe einen die
Gänsehaut; bei der geringsten Veranlassung drohten sie mit den entsprechenden
Handbewegungen: Ich will dir die Nägel bis zu den Ellbogen, die Haare bis


Lüge» Mouton

den Jahrzehnten nach der großen Revolution die Betrügereien, Spitzbübereien
und Räubereien der Advokaten, die man sich mit unerklärlicher Nachsicht ge¬
fallen ließ. Unter Louis Philipp jedoch erreichte der Richterstand den höchsten
Grad seiner Unabhängigkeit, Tüchtigkeit und Rechtschaffenheit und machte dem
Unfug ein Ende, Das ging so schnell, daß sich eine vollkommene Reform voll¬
zog, und strenge Aufsicht zwingt seitdem die Advokaten, so rechtschaffen zu sein
wie die Richter." Mouton fand hie und da noch Spuren der altfränkischen
Etikette, deren Beobachtung bis vor kurzem der richterlichen Aristokratie zur
Währung ihrer Würde gedient hatte. Ein neu angekommener junger Beamter
ist das erstemal beim Präsidenten eingeladen. Er setzt sich zu einigen Damen,
die er kennt, da kommt die Präsidentin und ersucht ihn, ihr seinen Platz ein¬
zuräumen. Er setzt sich zu andern Damen, sofort erscheint die Frau Präsident«!
und richtet dieselbe Bitte an ihn. Er sieht sich verwundert um und bemerkt
nun, daß alle Herren stehn; man sagt ihm dann: im Salon der ersten Prä¬
sidentin und in jedem andern Salon, den sie mit ihrer Gegenwart beehrt, ist
es den Herren verboten, sich zu setzen. Ein Präsident pflegte zu fordern, daß,
wenn er ein Haus betreten sollte, beide Flügel der Einfahrt geöffnet würden.
Einmal blieb er, schon dem Wagen entstiegen, im Schnee und Regen vor der
geöffneten Tür stehn und wartete, bis man mit vieler Mühe den zweiten
Flügel zurückgeschlagen hatte, der seit langer Zeit nicht geöffnet worden und
deshalb eingerostet war.

Da Mondorf richterliche Amtsführung im Jahre 1848 begann, fand er
das Gleichgewicht des würdigen Standes ein wenig durch die Politik erschüttert.
Er selbst macht ungefähr den Eindruck eines aufgeklärten und wohlmeinenden
preußischen Bureaukraten. Er nennt sich liberal, und die Entschiedenheit, mit
der er jede Art von Aberglauben, z. B. das Tischrücken mißbilligt, bezeugt seinen
Rationalismus. Er ist durch und durch human, der Anblick des Elends ist
ihm entsetzlich, er hilft, wo er helfen kann, und er verkehrt gern und gemütlich
mit Leuten niedern Standes, Aber der Demokratie macht er nicht das mindeste
Zugeständnis; für das Volk, das politisiert, hat er nichts als Verachtung. Er
begrüßt es mit Jubel, daß Napoleon Ordnung macht, und schlägt auf seiner
ersten Station, in Draguignan, in Abwesenheit seines Chefs sehr schneidig eine
aufrührerische Bewegung nieder. Mit großer Genugtuung erfüllt ihn eine Ex^
pedition in die Umgegend, wo er, nur von einem Polizeibeamten und einigen
Gendarmen begleitet, mehreremnl inmitten großer drohender Volksmnssen ver¬
handelt und Verhaftungen vorgenommen hat. Er sei überzeugt, schreibt er,
daß er nicht einen Augenblick in Gefahr geschwebt habe. Zuletzt ließen die
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schilderung jedoch, die er von den Südfranzosen entwirft, schwächt die Kraft der
Folgerungen, die er aus seinen Erlebnissen in Dragnigncm zieht, einigermaßen
ab. Das Volk sei dort schlecht erzogen, wenig intelligent und unverschämt.
Wenn man diese Leute einander schimpfen und drohen höre, überlaufe einen die
Gänsehaut; bei der geringsten Veranlassung drohten sie mit den entsprechenden
Handbewegungen: Ich will dir die Nägel bis zu den Ellbogen, die Haare bis


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/614>, abgerufen am 22.11.2024.