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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Ans der Jugendzeit

in die Schulklasse und erhielten dort jedes seinen Neiyahrswuusch ausgehändigt.
Jedes Kind legte dafür auf eiuen bereitstehenden Teller ein keines für den Lehrer
bestimmtes Geldgeschenk. Davon schlössen sich auch die ärmsten nicht ans Sie
legten wenigstens einen Groschen oder eine Kupfermünze ans den Teller, wahrend
die Kinder der wohlhabenden Familien ein Achtgroschenstück oder gar einen Taler
brachten, alles in Papier eingewickelt, damit man nicht sehen sollte, wieviel jedes
Kind gab. Bei dem ungemein dürftigen Dicnstcinkommcn der Lehrer war das
une sür sie schwer ins Gewicht fallende Ernte. Ich will diesem Brauche der
immerhin seiue Schattenseiten hat, übrigens nicht das Wort reden. Der schriftliche
Neujahrswunsch wurde bis zum Morgen des Neujahrstags mit geflissentlicher
Geheimtuerei vor den Augen der Eltern verborgen. Dann aber wurde er vor
dem ersten Frühstück den Eltern überreicht und das Gedicht dabei aufgesagt. Dafür
steckte dann der Vater ein Geldstück in die verschlossene Sparbüchse.

Am Nachmittag des Silvesterabends wurde von den Kirchtürmen das Neue
J"hr mit allen Glocken feierlich eingeläutet. Wenn irgend möglich, ging mein
Vater mit uus kurz vor drei Uhr vor die Stadt hinaus, das Läuten zu hören
Dieses Gesmntgelänt aller Kirchen klang in der Tat wundervoll und wirkte feierlich
und erbaulich. Abends vom Eintritt der Dunkelheit an kam dann ein ganzes Heer
v°n Ncujahrsgratulanten in unser Haus, die für ihre Gratulation em Trinkgeld
ehielten. Ich übertreibe uicht. wenn ich sage, daß diese Nei.lahr.gratickanwi.
eigentlich Neujahrsschnorrer, zu Hunderten in unser Haus kamen. Sie gebrauchten
meist alle dieselbe Formel: ..Wir wünschen Ihnen viel Glück zum neuen ^ahre,
Gesundheit. Friede und Einigkeit." Manche setzten hinzu: ..Nachher die ewige
Seligkeit." Mein Vater sorgte in. voraus für einen großen Vorrat von Zwei-
groschcustücken und Groschen die an die Gratulanten gegeben wurden. Manche
aber bekamen auch herkömmlich mehr. Die Knechte und Enten (d, h. die Jungen,
die für den Pferde- und Ackerdienst herangebildet wurden) aus den Ackerbürger-
Wirtschaften erschienen mit langen Peitschen, um damit in unsrer großen und hohen
Hausflur, wo es gehörig schallte, das neue Jahr einzuklntschen. Dieses Peitschen-
knallen machte einen ohrbetäubenden Höllenlärm, galt aber uns Kindern als eine
absonderliche Feierlichkeit, die wir um keinen Preis versäumen durften. Wenn die
Knechte das neue Jahr eiugetlntscht hatte", erschienen die Schornsteinfeger, die
Schäfer und die Kuhhirten, die Waschfrauen und allerlei andre Leute dienenden
Berufs. Ein Blinder. namens Mole, der sich jeden Sonnabend seine Gabe holte,
blies um Silvesterabend besonders rührend seine Flöte und sang noch rührender
sein ständiges Lied: "Denkst dn daran, mein tapfrer Lagienka." Dieses Polenlied
war damals durch Holteis Singspiel: "Der alte Feldherr" ungemein populär ge-
worden. Von nationaler Empfindlichkeit hatte man damals in meiner Heimat
keine Ahnung. Der Dichter Karl von Holtet hatte übrigens während der Freiheits¬
kriege eine Zeit lang verwundet in Quedlinburg im Quartier gelegen. Als ich auf
dem Gymnasium in Tertia oder Sekunda saß, kam er auf einer Rundreise, die er
als Rezitator machte, auf einige Tage auch in meine Vaterstadt und las dort im
Saale des Ratskellers öffentlich Shakespeares Julius Cäsar vor. Er wurde mit
Ehrenbezeugungen überschüttet und las in der Tat meisterhaft, wie ich es kaum
jemals wieder gehört habe. Seine Vorlesung machte einen gewaltigen Eindruck,
und die Erinnerung daran steht mir noch heute unvergessen vor der Seele.

Am Tage nach Neujahr begann das Neujnhrblasen der unter David Rohes
Taktstock musizierenden Stadtkapelle. Sie zog dann, von zahlreicher Straßenjugend
begleitet, von Haus zu Haus. In den größern Häusern, die wie das unsrige
genügenden Raum boten, oder, wo das nicht der Fall war. aus der Straße spielte
sie je einige Stücke. Dafür sammelte dann einer der Musiker sür Herrn Rose
dessen Decem el". Merkwürdig, wie viele Menschen sür ihren Unterhalt ans eine
gewisse konventionelle Mildtätigkeit oder auch Bettelei damals noch förmlich ange¬
wiesen waren. In diesem Stück ist seitdem manches besser geworden. Heute würden


Ans der Jugendzeit

in die Schulklasse und erhielten dort jedes seinen Neiyahrswuusch ausgehändigt.
Jedes Kind legte dafür auf eiuen bereitstehenden Teller ein keines für den Lehrer
bestimmtes Geldgeschenk. Davon schlössen sich auch die ärmsten nicht ans Sie
legten wenigstens einen Groschen oder eine Kupfermünze ans den Teller, wahrend
die Kinder der wohlhabenden Familien ein Achtgroschenstück oder gar einen Taler
brachten, alles in Papier eingewickelt, damit man nicht sehen sollte, wieviel jedes
Kind gab. Bei dem ungemein dürftigen Dicnstcinkommcn der Lehrer war das
une sür sie schwer ins Gewicht fallende Ernte. Ich will diesem Brauche der
immerhin seiue Schattenseiten hat, übrigens nicht das Wort reden. Der schriftliche
Neujahrswunsch wurde bis zum Morgen des Neujahrstags mit geflissentlicher
Geheimtuerei vor den Augen der Eltern verborgen. Dann aber wurde er vor
dem ersten Frühstück den Eltern überreicht und das Gedicht dabei aufgesagt. Dafür
steckte dann der Vater ein Geldstück in die verschlossene Sparbüchse.

Am Nachmittag des Silvesterabends wurde von den Kirchtürmen das Neue
J"hr mit allen Glocken feierlich eingeläutet. Wenn irgend möglich, ging mein
Vater mit uus kurz vor drei Uhr vor die Stadt hinaus, das Läuten zu hören
Dieses Gesmntgelänt aller Kirchen klang in der Tat wundervoll und wirkte feierlich
und erbaulich. Abends vom Eintritt der Dunkelheit an kam dann ein ganzes Heer
v°n Ncujahrsgratulanten in unser Haus, die für ihre Gratulation em Trinkgeld
ehielten. Ich übertreibe uicht. wenn ich sage, daß diese Nei.lahr.gratickanwi.
eigentlich Neujahrsschnorrer, zu Hunderten in unser Haus kamen. Sie gebrauchten
meist alle dieselbe Formel: ..Wir wünschen Ihnen viel Glück zum neuen ^ahre,
Gesundheit. Friede und Einigkeit." Manche setzten hinzu: ..Nachher die ewige
Seligkeit." Mein Vater sorgte in. voraus für einen großen Vorrat von Zwei-
groschcustücken und Groschen die an die Gratulanten gegeben wurden. Manche
aber bekamen auch herkömmlich mehr. Die Knechte und Enten (d, h. die Jungen,
die für den Pferde- und Ackerdienst herangebildet wurden) aus den Ackerbürger-
Wirtschaften erschienen mit langen Peitschen, um damit in unsrer großen und hohen
Hausflur, wo es gehörig schallte, das neue Jahr einzuklntschen. Dieses Peitschen-
knallen machte einen ohrbetäubenden Höllenlärm, galt aber uns Kindern als eine
absonderliche Feierlichkeit, die wir um keinen Preis versäumen durften. Wenn die
Knechte das neue Jahr eiugetlntscht hatte», erschienen die Schornsteinfeger, die
Schäfer und die Kuhhirten, die Waschfrauen und allerlei andre Leute dienenden
Berufs. Ein Blinder. namens Mole, der sich jeden Sonnabend seine Gabe holte,
blies um Silvesterabend besonders rührend seine Flöte und sang noch rührender
sein ständiges Lied: „Denkst dn daran, mein tapfrer Lagienka." Dieses Polenlied
war damals durch Holteis Singspiel: „Der alte Feldherr" ungemein populär ge-
worden. Von nationaler Empfindlichkeit hatte man damals in meiner Heimat
keine Ahnung. Der Dichter Karl von Holtet hatte übrigens während der Freiheits¬
kriege eine Zeit lang verwundet in Quedlinburg im Quartier gelegen. Als ich auf
dem Gymnasium in Tertia oder Sekunda saß, kam er auf einer Rundreise, die er
als Rezitator machte, auf einige Tage auch in meine Vaterstadt und las dort im
Saale des Ratskellers öffentlich Shakespeares Julius Cäsar vor. Er wurde mit
Ehrenbezeugungen überschüttet und las in der Tat meisterhaft, wie ich es kaum
jemals wieder gehört habe. Seine Vorlesung machte einen gewaltigen Eindruck,
und die Erinnerung daran steht mir noch heute unvergessen vor der Seele.

Am Tage nach Neujahr begann das Neujnhrblasen der unter David Rohes
Taktstock musizierenden Stadtkapelle. Sie zog dann, von zahlreicher Straßenjugend
begleitet, von Haus zu Haus. In den größern Häusern, die wie das unsrige
genügenden Raum boten, oder, wo das nicht der Fall war. aus der Straße spielte
sie je einige Stücke. Dafür sammelte dann einer der Musiker sür Herrn Rose
dessen Decem el». Merkwürdig, wie viele Menschen sür ihren Unterhalt ans eine
gewisse konventionelle Mildtätigkeit oder auch Bettelei damals noch förmlich ange¬
wiesen waren. In diesem Stück ist seitdem manches besser geworden. Heute würden


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[0557] Ans der Jugendzeit in die Schulklasse und erhielten dort jedes seinen Neiyahrswuusch ausgehändigt. Jedes Kind legte dafür auf eiuen bereitstehenden Teller ein keines für den Lehrer bestimmtes Geldgeschenk. Davon schlössen sich auch die ärmsten nicht ans Sie legten wenigstens einen Groschen oder eine Kupfermünze ans den Teller, wahrend die Kinder der wohlhabenden Familien ein Achtgroschenstück oder gar einen Taler brachten, alles in Papier eingewickelt, damit man nicht sehen sollte, wieviel jedes Kind gab. Bei dem ungemein dürftigen Dicnstcinkommcn der Lehrer war das une sür sie schwer ins Gewicht fallende Ernte. Ich will diesem Brauche der immerhin seiue Schattenseiten hat, übrigens nicht das Wort reden. Der schriftliche Neujahrswunsch wurde bis zum Morgen des Neujahrstags mit geflissentlicher Geheimtuerei vor den Augen der Eltern verborgen. Dann aber wurde er vor dem ersten Frühstück den Eltern überreicht und das Gedicht dabei aufgesagt. Dafür steckte dann der Vater ein Geldstück in die verschlossene Sparbüchse. Am Nachmittag des Silvesterabends wurde von den Kirchtürmen das Neue J"hr mit allen Glocken feierlich eingeläutet. Wenn irgend möglich, ging mein Vater mit uus kurz vor drei Uhr vor die Stadt hinaus, das Läuten zu hören Dieses Gesmntgelänt aller Kirchen klang in der Tat wundervoll und wirkte feierlich und erbaulich. Abends vom Eintritt der Dunkelheit an kam dann ein ganzes Heer v°n Ncujahrsgratulanten in unser Haus, die für ihre Gratulation em Trinkgeld ehielten. Ich übertreibe uicht. wenn ich sage, daß diese Nei.lahr.gratickanwi. eigentlich Neujahrsschnorrer, zu Hunderten in unser Haus kamen. Sie gebrauchten meist alle dieselbe Formel: ..Wir wünschen Ihnen viel Glück zum neuen ^ahre, Gesundheit. Friede und Einigkeit." Manche setzten hinzu: ..Nachher die ewige Seligkeit." Mein Vater sorgte in. voraus für einen großen Vorrat von Zwei- groschcustücken und Groschen die an die Gratulanten gegeben wurden. Manche aber bekamen auch herkömmlich mehr. Die Knechte und Enten (d, h. die Jungen, die für den Pferde- und Ackerdienst herangebildet wurden) aus den Ackerbürger- Wirtschaften erschienen mit langen Peitschen, um damit in unsrer großen und hohen Hausflur, wo es gehörig schallte, das neue Jahr einzuklntschen. Dieses Peitschen- knallen machte einen ohrbetäubenden Höllenlärm, galt aber uns Kindern als eine absonderliche Feierlichkeit, die wir um keinen Preis versäumen durften. Wenn die Knechte das neue Jahr eiugetlntscht hatte», erschienen die Schornsteinfeger, die Schäfer und die Kuhhirten, die Waschfrauen und allerlei andre Leute dienenden Berufs. Ein Blinder. namens Mole, der sich jeden Sonnabend seine Gabe holte, blies um Silvesterabend besonders rührend seine Flöte und sang noch rührender sein ständiges Lied: „Denkst dn daran, mein tapfrer Lagienka." Dieses Polenlied war damals durch Holteis Singspiel: „Der alte Feldherr" ungemein populär ge- worden. Von nationaler Empfindlichkeit hatte man damals in meiner Heimat keine Ahnung. Der Dichter Karl von Holtet hatte übrigens während der Freiheits¬ kriege eine Zeit lang verwundet in Quedlinburg im Quartier gelegen. Als ich auf dem Gymnasium in Tertia oder Sekunda saß, kam er auf einer Rundreise, die er als Rezitator machte, auf einige Tage auch in meine Vaterstadt und las dort im Saale des Ratskellers öffentlich Shakespeares Julius Cäsar vor. Er wurde mit Ehrenbezeugungen überschüttet und las in der Tat meisterhaft, wie ich es kaum jemals wieder gehört habe. Seine Vorlesung machte einen gewaltigen Eindruck, und die Erinnerung daran steht mir noch heute unvergessen vor der Seele. Am Tage nach Neujahr begann das Neujnhrblasen der unter David Rohes Taktstock musizierenden Stadtkapelle. Sie zog dann, von zahlreicher Straßenjugend begleitet, von Haus zu Haus. In den größern Häusern, die wie das unsrige genügenden Raum boten, oder, wo das nicht der Fall war. aus der Straße spielte sie je einige Stücke. Dafür sammelte dann einer der Musiker sür Herrn Rose dessen Decem el». Merkwürdig, wie viele Menschen sür ihren Unterhalt ans eine gewisse konventionelle Mildtätigkeit oder auch Bettelei damals noch förmlich ange¬ wiesen waren. In diesem Stück ist seitdem manches besser geworden. Heute würden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/557>, abgerufen am 01.09.2024.