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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

zu harren, die da kommen sollten. Endlich ertönte aus der guten Stube das hei߬
ersehnte Klingeln, der Vater öffnete die Tür, und nun leuchtete uns der große,
mit allerlei Zuckerwerk geschmückte Christbaum hell entgegen, eine Harzfichte, deren
Duft bis nach Neujahr das ganze Hans erfüllte. Zum Schmuck des Weihnachts¬
baums gehörten eine Reihe von Jahr zu Jahr aufbewahrter Jnventarienstücke, die
jedesmal von neuem Gegenstand unsers bewundernden Entzückens waren: ein kleines
Schilderhaus, eine Marzipantrommel, einige große Znckerfignren und ähnliches.
Unter dem Beinen lagen ans weißgedeckten Tischen unsre Geschenke. Sie waren
nach heutigen Begriffen bescheiden; wir aber fanden sie jedesmal überreichlich und
unsre Erwartungen übertreffend. Da waren die längst ersehnten neuen Kleidungs-
stücke, oder wie wir sagten, "neues Zeug," ein mit rotem Zuckerguß glasierter
großer Honigkuchen mit unserm Vornamen in erhabner weißer Zuckerschrift, ein
gutes Buch, Schreibmaterial und sonst allerlei Nützliches und Notwendiges, auch
-- in äußerst mäßigen Grenzen -- ein wenig Spielzeug, eine Arche Noahs oder
ein Pferdestall, ein Frachtwagen, mit dem wir Kundmann spielten, oder ein Bau¬
kasten, ein Schachbrett oder ein Gesellschaftsspiel (Post- und Reisespiel, Lotto oder
Hammer und Glocke, auch Schimmelspiel genannt), und einmal sogar -- es dünkte
uns kaum möglich -- ein Puppentheater mit wirklichen Kulissen und mit zierlichen
Figuren, die man an einem Draht agieren ließ. Einer von uns, in der Regel
ich als der älteste, sagte das Weihnachtsevangelium auf. Weitere religiöse Worte
wurden nicht gesprochen. Auch von einer Krippe mit biblischen Figuren war keine
Rede. Das war damals weder in andern Bürgerhäusern uoch bei uns Sitte,
obwohl unser Haus für kirchlich galt und auch das Tischgebet bewahrt hatte. Man
war damals mit religiösen Kundgebungen, auch innerhalb der vier Wände des
Hauses, sehr schüchtern und zurückhaltend. Alle Äußerungen der religiösen Empfin¬
dung wurden fast ausschließlich in die Kirche verwiesen. Auf diesem Gebiet ist im
allgemeinen ein Zuwenig immer noch besser als jedes Zuviel. Der Zusammenhang
zwischen der Familie und der Kirche kam aber im Hause gar zu wenig zur Geltung,
und dadurch geriet auch das Kirchengehn in die Gefahr der Veräußerlichung.
Namentlich unsre schönen Weihnachtslieder gehören unbedingt in ein christliches
Hans, besonders in ein kinderreiches, und ohne sie fehlt der häuslichen Weihnachts¬
feier eins der wirksamsten, freudenreichsten und gesegnetsten Ausdrucksmittel. Das
ist später anders und besser geworden. Doch darf ich gleichwohl bezeugen, daß
Wir bei unsrer Weihnachtsbescherung sehr glücklich waren. Die Liebe der Eltern
leuchtete uns dabei hell ins Herz hinein, und unsre Kinderherzen waren für diese
Liebe voll tiefen Danks. Wir Kinder hatten zu Weihnachten auch füreinander und
für die Mutter immer irgend ein kleines Geschenk. Mit uns erhielten auch die
Dienstboten eine reichliche Weihnachtsbescherung. Nur mein Vater kam regelmäßig
zu kurz. Er war gar zu bedürfnislos. Nur zwei Weihnachtsgeschenke erhielt er
jedes Jahr, einen neuen Kalender für das kommende neue Jahr und ein schlichtes
Taschennotizbuch mit einem Bleistift.

Während der Weihnachtsbescherung wurde es draußen allmählich Tag. Durch
die Fenster sahen wir in den Nachbarhäusern die Christbäume glänzen, und in
hoher Feststimmung begrüßten wir das helle Tageslicht, vor dem die Wachskerzen
am Christbaume erloschen. Mein Vater schickte mich dann noch zu einigen armen
Familien am Klinge oder in der nahen Stobenstrnße, hier einen Taler und dort
einen als Weihnachtsgabe bei armen Leuten abzugeben. Das brachte ihm viel
warmen Dank ein. Dann aber wurde es Zeit, die neuen "Weihnachtssachen," Rock
Weste, Hose oder Stiefel anzuziehn. Denn fünf Minuten vor neun Uhr ging es
unweigerlich zur Kirche. Schon während der Bescherung hatte mein Vater, mochte
es noch so kalt sein, ein Fenster geöffnet, damit wir hören konnten, wie schön und
feierlich der von der Stadtmusik vom Turme der Marktkirche geblasene Choral
"Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich" durch den stillen Festmorgen schallte.üler

In der Kirche gehörte ich, fast solange ich denken kann, schon als Sch


Aus der Jugendzeit

zu harren, die da kommen sollten. Endlich ertönte aus der guten Stube das hei߬
ersehnte Klingeln, der Vater öffnete die Tür, und nun leuchtete uns der große,
mit allerlei Zuckerwerk geschmückte Christbaum hell entgegen, eine Harzfichte, deren
Duft bis nach Neujahr das ganze Hans erfüllte. Zum Schmuck des Weihnachts¬
baums gehörten eine Reihe von Jahr zu Jahr aufbewahrter Jnventarienstücke, die
jedesmal von neuem Gegenstand unsers bewundernden Entzückens waren: ein kleines
Schilderhaus, eine Marzipantrommel, einige große Znckerfignren und ähnliches.
Unter dem Beinen lagen ans weißgedeckten Tischen unsre Geschenke. Sie waren
nach heutigen Begriffen bescheiden; wir aber fanden sie jedesmal überreichlich und
unsre Erwartungen übertreffend. Da waren die längst ersehnten neuen Kleidungs-
stücke, oder wie wir sagten, „neues Zeug," ein mit rotem Zuckerguß glasierter
großer Honigkuchen mit unserm Vornamen in erhabner weißer Zuckerschrift, ein
gutes Buch, Schreibmaterial und sonst allerlei Nützliches und Notwendiges, auch
— in äußerst mäßigen Grenzen — ein wenig Spielzeug, eine Arche Noahs oder
ein Pferdestall, ein Frachtwagen, mit dem wir Kundmann spielten, oder ein Bau¬
kasten, ein Schachbrett oder ein Gesellschaftsspiel (Post- und Reisespiel, Lotto oder
Hammer und Glocke, auch Schimmelspiel genannt), und einmal sogar — es dünkte
uns kaum möglich — ein Puppentheater mit wirklichen Kulissen und mit zierlichen
Figuren, die man an einem Draht agieren ließ. Einer von uns, in der Regel
ich als der älteste, sagte das Weihnachtsevangelium auf. Weitere religiöse Worte
wurden nicht gesprochen. Auch von einer Krippe mit biblischen Figuren war keine
Rede. Das war damals weder in andern Bürgerhäusern uoch bei uns Sitte,
obwohl unser Haus für kirchlich galt und auch das Tischgebet bewahrt hatte. Man
war damals mit religiösen Kundgebungen, auch innerhalb der vier Wände des
Hauses, sehr schüchtern und zurückhaltend. Alle Äußerungen der religiösen Empfin¬
dung wurden fast ausschließlich in die Kirche verwiesen. Auf diesem Gebiet ist im
allgemeinen ein Zuwenig immer noch besser als jedes Zuviel. Der Zusammenhang
zwischen der Familie und der Kirche kam aber im Hause gar zu wenig zur Geltung,
und dadurch geriet auch das Kirchengehn in die Gefahr der Veräußerlichung.
Namentlich unsre schönen Weihnachtslieder gehören unbedingt in ein christliches
Hans, besonders in ein kinderreiches, und ohne sie fehlt der häuslichen Weihnachts¬
feier eins der wirksamsten, freudenreichsten und gesegnetsten Ausdrucksmittel. Das
ist später anders und besser geworden. Doch darf ich gleichwohl bezeugen, daß
Wir bei unsrer Weihnachtsbescherung sehr glücklich waren. Die Liebe der Eltern
leuchtete uns dabei hell ins Herz hinein, und unsre Kinderherzen waren für diese
Liebe voll tiefen Danks. Wir Kinder hatten zu Weihnachten auch füreinander und
für die Mutter immer irgend ein kleines Geschenk. Mit uns erhielten auch die
Dienstboten eine reichliche Weihnachtsbescherung. Nur mein Vater kam regelmäßig
zu kurz. Er war gar zu bedürfnislos. Nur zwei Weihnachtsgeschenke erhielt er
jedes Jahr, einen neuen Kalender für das kommende neue Jahr und ein schlichtes
Taschennotizbuch mit einem Bleistift.

Während der Weihnachtsbescherung wurde es draußen allmählich Tag. Durch
die Fenster sahen wir in den Nachbarhäusern die Christbäume glänzen, und in
hoher Feststimmung begrüßten wir das helle Tageslicht, vor dem die Wachskerzen
am Christbaume erloschen. Mein Vater schickte mich dann noch zu einigen armen
Familien am Klinge oder in der nahen Stobenstrnße, hier einen Taler und dort
einen als Weihnachtsgabe bei armen Leuten abzugeben. Das brachte ihm viel
warmen Dank ein. Dann aber wurde es Zeit, die neuen „Weihnachtssachen," Rock
Weste, Hose oder Stiefel anzuziehn. Denn fünf Minuten vor neun Uhr ging es
unweigerlich zur Kirche. Schon während der Bescherung hatte mein Vater, mochte
es noch so kalt sein, ein Fenster geöffnet, damit wir hören konnten, wie schön und
feierlich der von der Stadtmusik vom Turme der Marktkirche geblasene Choral
„Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich" durch den stillen Festmorgen schallte.üler

In der Kirche gehörte ich, fast solange ich denken kann, schon als Sch


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[0552] Aus der Jugendzeit zu harren, die da kommen sollten. Endlich ertönte aus der guten Stube das hei߬ ersehnte Klingeln, der Vater öffnete die Tür, und nun leuchtete uns der große, mit allerlei Zuckerwerk geschmückte Christbaum hell entgegen, eine Harzfichte, deren Duft bis nach Neujahr das ganze Hans erfüllte. Zum Schmuck des Weihnachts¬ baums gehörten eine Reihe von Jahr zu Jahr aufbewahrter Jnventarienstücke, die jedesmal von neuem Gegenstand unsers bewundernden Entzückens waren: ein kleines Schilderhaus, eine Marzipantrommel, einige große Znckerfignren und ähnliches. Unter dem Beinen lagen ans weißgedeckten Tischen unsre Geschenke. Sie waren nach heutigen Begriffen bescheiden; wir aber fanden sie jedesmal überreichlich und unsre Erwartungen übertreffend. Da waren die längst ersehnten neuen Kleidungs- stücke, oder wie wir sagten, „neues Zeug," ein mit rotem Zuckerguß glasierter großer Honigkuchen mit unserm Vornamen in erhabner weißer Zuckerschrift, ein gutes Buch, Schreibmaterial und sonst allerlei Nützliches und Notwendiges, auch — in äußerst mäßigen Grenzen — ein wenig Spielzeug, eine Arche Noahs oder ein Pferdestall, ein Frachtwagen, mit dem wir Kundmann spielten, oder ein Bau¬ kasten, ein Schachbrett oder ein Gesellschaftsspiel (Post- und Reisespiel, Lotto oder Hammer und Glocke, auch Schimmelspiel genannt), und einmal sogar — es dünkte uns kaum möglich — ein Puppentheater mit wirklichen Kulissen und mit zierlichen Figuren, die man an einem Draht agieren ließ. Einer von uns, in der Regel ich als der älteste, sagte das Weihnachtsevangelium auf. Weitere religiöse Worte wurden nicht gesprochen. Auch von einer Krippe mit biblischen Figuren war keine Rede. Das war damals weder in andern Bürgerhäusern uoch bei uns Sitte, obwohl unser Haus für kirchlich galt und auch das Tischgebet bewahrt hatte. Man war damals mit religiösen Kundgebungen, auch innerhalb der vier Wände des Hauses, sehr schüchtern und zurückhaltend. Alle Äußerungen der religiösen Empfin¬ dung wurden fast ausschließlich in die Kirche verwiesen. Auf diesem Gebiet ist im allgemeinen ein Zuwenig immer noch besser als jedes Zuviel. Der Zusammenhang zwischen der Familie und der Kirche kam aber im Hause gar zu wenig zur Geltung, und dadurch geriet auch das Kirchengehn in die Gefahr der Veräußerlichung. Namentlich unsre schönen Weihnachtslieder gehören unbedingt in ein christliches Hans, besonders in ein kinderreiches, und ohne sie fehlt der häuslichen Weihnachts¬ feier eins der wirksamsten, freudenreichsten und gesegnetsten Ausdrucksmittel. Das ist später anders und besser geworden. Doch darf ich gleichwohl bezeugen, daß Wir bei unsrer Weihnachtsbescherung sehr glücklich waren. Die Liebe der Eltern leuchtete uns dabei hell ins Herz hinein, und unsre Kinderherzen waren für diese Liebe voll tiefen Danks. Wir Kinder hatten zu Weihnachten auch füreinander und für die Mutter immer irgend ein kleines Geschenk. Mit uns erhielten auch die Dienstboten eine reichliche Weihnachtsbescherung. Nur mein Vater kam regelmäßig zu kurz. Er war gar zu bedürfnislos. Nur zwei Weihnachtsgeschenke erhielt er jedes Jahr, einen neuen Kalender für das kommende neue Jahr und ein schlichtes Taschennotizbuch mit einem Bleistift. Während der Weihnachtsbescherung wurde es draußen allmählich Tag. Durch die Fenster sahen wir in den Nachbarhäusern die Christbäume glänzen, und in hoher Feststimmung begrüßten wir das helle Tageslicht, vor dem die Wachskerzen am Christbaume erloschen. Mein Vater schickte mich dann noch zu einigen armen Familien am Klinge oder in der nahen Stobenstrnße, hier einen Taler und dort einen als Weihnachtsgabe bei armen Leuten abzugeben. Das brachte ihm viel warmen Dank ein. Dann aber wurde es Zeit, die neuen „Weihnachtssachen," Rock Weste, Hose oder Stiefel anzuziehn. Denn fünf Minuten vor neun Uhr ging es unweigerlich zur Kirche. Schon während der Bescherung hatte mein Vater, mochte es noch so kalt sein, ein Fenster geöffnet, damit wir hören konnten, wie schön und feierlich der von der Stadtmusik vom Turme der Marktkirche geblasene Choral „Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich" durch den stillen Festmorgen schallte.üler In der Kirche gehörte ich, fast solange ich denken kann, schon als Sch

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/552>, abgerufen am 27.07.2024.