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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Rußland in vorderasicn

Rede. Tiefer wirkend aber und weit über die Grenzen Rußlands hinaus be¬
deutungsvoll ist die Stellung, die der Staat der mohammedanischen Religion
gegenüber einnimmt. Den größten politischen Fehler, den die Engländer in
Indien machen, sieht der Russe darin, daß sie zu den Mohammedanern Missionare
schicken. Abgesehen davon, daß die Mohammednnermissivn gar keine Erfolge
hat, erbittert sie die Moslim und nährt fortwährend den Haß gegen die
Leute, die trotzdem uicht von ihren Propagandaversuchen ablassen. Die russische
Negierung hat kein Bedenken getragen, ihrer Geistlichkeit die Mohammedancr-
mission ganz zu verbieten. Die russische Kirche ist Staatsanstalt, politische
Rücksichten und Bestrebungen geben ihrer Haltung gegen fremde Religionen und
Konfessionen die Richtung. Dieses Entgegenkommen gegen die Mohammedaner
geht bis in das kleine Leben des Tages hinein. Es geht so weit, daß vor
Gericht und in allen öffentlichen Angelegenheiten der Eingeborne gelegentlich
sogar Russen gegenüber begünstigt wird -- um des Eindrucks willen, den das
in den Nachbarstaaten, in Persien und Afghanistan, machen muß.

Dieser Eindruck von der günstigen Lage, die der Eingeborne unter russischer
Herrschaft hat, ist denn auch bei den Nachbarvölkern in hohem Maße einge¬
treten. Um ihn ganz zu würdigen, muß mau immer berücksichtige", auf welcher
tiefen Stufe der Kultur diese Länder stehn, denn in Afghanistan und in Persien
ist tatsächlich kein Mensch heute Abend sicher, daß er Leben und Habe auch
morgen früh noch hat. Kein Recht und keine Staatsgewalt schützt ihn;
auf jedem Schritte begegnet dem Reisenden in diesen Ländern eine tiefe Ver¬
bitterung des Volkes über die bestehenden Verhältnisse. Das Volk sieht in
dein Übergang unter russische Herrschaft eine Erlösung. Nur wenn man dort
im Laude selbst mit den Leuten über ihr Dasein gesprochen hat, wenn mau
Zeuge der Angst und der Bitterkeit geworden ist, mit der sie von ihren
Machthabern sprechen, der Sehnsucht, mit der sie geordneter Verhältnisse ge¬
denken, dann erst kann man ganz ermessen, welchem Segen Rußland diesen
Völkern bringt, indem es ihnen die einfachsten Grundlagen menschlicher Kultur
schafft.

Ich habe schon kurz angedeutet, wie die wirtschaftliche Entwicklung
Turkestans auf der Erweiterung der Baumwollkultur beruht. Auf diese Frage,
auf die wirtschaftlichen Ziele und Bemühungen Rußlands, werde ich nun näher
einzugehn haben.

In Turkestan herrschte seit dem Altertum eine hohe Kultur, bis hier am
Beginne des dreizehnten Jahrhunderts die buddhistischen Schwärme Dschingis
Khans eine Katastrophe brachten, wie die Menschheit kaum eine zweite er¬
lebt hat; die furchtbare Flutwelle, die die normannischen Fürstentümer der
Waräger am Dujepr und an der Oka überschwemmte und sich erst am Fuße
der schlesischen Berge brach, hat hier ihr schrecklichstes Werk getan, und das
geschah darum, weil diesem Lande durch den Feind genommen werden konnte,
was jedem andern unter der furchtbarsten Verwüstung doch bleiben muß: d:e
Ertragsfähigkeit des Ackers.

Die Erde ist hier nur an ganz wenig Stellen imstande, auch nur einen
Halm zu tragen, wo ihr nicht während des ganzen Sommers künstlich das


Rußland in vorderasicn

Rede. Tiefer wirkend aber und weit über die Grenzen Rußlands hinaus be¬
deutungsvoll ist die Stellung, die der Staat der mohammedanischen Religion
gegenüber einnimmt. Den größten politischen Fehler, den die Engländer in
Indien machen, sieht der Russe darin, daß sie zu den Mohammedanern Missionare
schicken. Abgesehen davon, daß die Mohammednnermissivn gar keine Erfolge
hat, erbittert sie die Moslim und nährt fortwährend den Haß gegen die
Leute, die trotzdem uicht von ihren Propagandaversuchen ablassen. Die russische
Negierung hat kein Bedenken getragen, ihrer Geistlichkeit die Mohammedancr-
mission ganz zu verbieten. Die russische Kirche ist Staatsanstalt, politische
Rücksichten und Bestrebungen geben ihrer Haltung gegen fremde Religionen und
Konfessionen die Richtung. Dieses Entgegenkommen gegen die Mohammedaner
geht bis in das kleine Leben des Tages hinein. Es geht so weit, daß vor
Gericht und in allen öffentlichen Angelegenheiten der Eingeborne gelegentlich
sogar Russen gegenüber begünstigt wird — um des Eindrucks willen, den das
in den Nachbarstaaten, in Persien und Afghanistan, machen muß.

Dieser Eindruck von der günstigen Lage, die der Eingeborne unter russischer
Herrschaft hat, ist denn auch bei den Nachbarvölkern in hohem Maße einge¬
treten. Um ihn ganz zu würdigen, muß mau immer berücksichtige», auf welcher
tiefen Stufe der Kultur diese Länder stehn, denn in Afghanistan und in Persien
ist tatsächlich kein Mensch heute Abend sicher, daß er Leben und Habe auch
morgen früh noch hat. Kein Recht und keine Staatsgewalt schützt ihn;
auf jedem Schritte begegnet dem Reisenden in diesen Ländern eine tiefe Ver¬
bitterung des Volkes über die bestehenden Verhältnisse. Das Volk sieht in
dein Übergang unter russische Herrschaft eine Erlösung. Nur wenn man dort
im Laude selbst mit den Leuten über ihr Dasein gesprochen hat, wenn mau
Zeuge der Angst und der Bitterkeit geworden ist, mit der sie von ihren
Machthabern sprechen, der Sehnsucht, mit der sie geordneter Verhältnisse ge¬
denken, dann erst kann man ganz ermessen, welchem Segen Rußland diesen
Völkern bringt, indem es ihnen die einfachsten Grundlagen menschlicher Kultur
schafft.

Ich habe schon kurz angedeutet, wie die wirtschaftliche Entwicklung
Turkestans auf der Erweiterung der Baumwollkultur beruht. Auf diese Frage,
auf die wirtschaftlichen Ziele und Bemühungen Rußlands, werde ich nun näher
einzugehn haben.

In Turkestan herrschte seit dem Altertum eine hohe Kultur, bis hier am
Beginne des dreizehnten Jahrhunderts die buddhistischen Schwärme Dschingis
Khans eine Katastrophe brachten, wie die Menschheit kaum eine zweite er¬
lebt hat; die furchtbare Flutwelle, die die normannischen Fürstentümer der
Waräger am Dujepr und an der Oka überschwemmte und sich erst am Fuße
der schlesischen Berge brach, hat hier ihr schrecklichstes Werk getan, und das
geschah darum, weil diesem Lande durch den Feind genommen werden konnte,
was jedem andern unter der furchtbarsten Verwüstung doch bleiben muß: d:e
Ertragsfähigkeit des Ackers.

Die Erde ist hier nur an ganz wenig Stellen imstande, auch nur einen
Halm zu tragen, wo ihr nicht während des ganzen Sommers künstlich das


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[0524] Rußland in vorderasicn Rede. Tiefer wirkend aber und weit über die Grenzen Rußlands hinaus be¬ deutungsvoll ist die Stellung, die der Staat der mohammedanischen Religion gegenüber einnimmt. Den größten politischen Fehler, den die Engländer in Indien machen, sieht der Russe darin, daß sie zu den Mohammedanern Missionare schicken. Abgesehen davon, daß die Mohammednnermissivn gar keine Erfolge hat, erbittert sie die Moslim und nährt fortwährend den Haß gegen die Leute, die trotzdem uicht von ihren Propagandaversuchen ablassen. Die russische Negierung hat kein Bedenken getragen, ihrer Geistlichkeit die Mohammedancr- mission ganz zu verbieten. Die russische Kirche ist Staatsanstalt, politische Rücksichten und Bestrebungen geben ihrer Haltung gegen fremde Religionen und Konfessionen die Richtung. Dieses Entgegenkommen gegen die Mohammedaner geht bis in das kleine Leben des Tages hinein. Es geht so weit, daß vor Gericht und in allen öffentlichen Angelegenheiten der Eingeborne gelegentlich sogar Russen gegenüber begünstigt wird — um des Eindrucks willen, den das in den Nachbarstaaten, in Persien und Afghanistan, machen muß. Dieser Eindruck von der günstigen Lage, die der Eingeborne unter russischer Herrschaft hat, ist denn auch bei den Nachbarvölkern in hohem Maße einge¬ treten. Um ihn ganz zu würdigen, muß mau immer berücksichtige», auf welcher tiefen Stufe der Kultur diese Länder stehn, denn in Afghanistan und in Persien ist tatsächlich kein Mensch heute Abend sicher, daß er Leben und Habe auch morgen früh noch hat. Kein Recht und keine Staatsgewalt schützt ihn; auf jedem Schritte begegnet dem Reisenden in diesen Ländern eine tiefe Ver¬ bitterung des Volkes über die bestehenden Verhältnisse. Das Volk sieht in dein Übergang unter russische Herrschaft eine Erlösung. Nur wenn man dort im Laude selbst mit den Leuten über ihr Dasein gesprochen hat, wenn mau Zeuge der Angst und der Bitterkeit geworden ist, mit der sie von ihren Machthabern sprechen, der Sehnsucht, mit der sie geordneter Verhältnisse ge¬ denken, dann erst kann man ganz ermessen, welchem Segen Rußland diesen Völkern bringt, indem es ihnen die einfachsten Grundlagen menschlicher Kultur schafft. Ich habe schon kurz angedeutet, wie die wirtschaftliche Entwicklung Turkestans auf der Erweiterung der Baumwollkultur beruht. Auf diese Frage, auf die wirtschaftlichen Ziele und Bemühungen Rußlands, werde ich nun näher einzugehn haben. In Turkestan herrschte seit dem Altertum eine hohe Kultur, bis hier am Beginne des dreizehnten Jahrhunderts die buddhistischen Schwärme Dschingis Khans eine Katastrophe brachten, wie die Menschheit kaum eine zweite er¬ lebt hat; die furchtbare Flutwelle, die die normannischen Fürstentümer der Waräger am Dujepr und an der Oka überschwemmte und sich erst am Fuße der schlesischen Berge brach, hat hier ihr schrecklichstes Werk getan, und das geschah darum, weil diesem Lande durch den Feind genommen werden konnte, was jedem andern unter der furchtbarsten Verwüstung doch bleiben muß: d:e Ertragsfähigkeit des Ackers. Die Erde ist hier nur an ganz wenig Stellen imstande, auch nur einen Halm zu tragen, wo ihr nicht während des ganzen Sommers künstlich das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/524>, abgerufen am 01.09.2024.