Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.John Ruskin und Walter Pater das Ganze verloren ging. Jedes Kapitel der "Steine von Venedig" oder Als er die ersten beiden Abteilungen, die bis jetzt allein in der Ausgabe Versuchen wir nun von dem Inhalt des Buchs eine Vorstellung zu geben, John Ruskin und Walter Pater das Ganze verloren ging. Jedes Kapitel der „Steine von Venedig" oder Als er die ersten beiden Abteilungen, die bis jetzt allein in der Ausgabe Versuchen wir nun von dem Inhalt des Buchs eine Vorstellung zu geben, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0495" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241709"/> <fw type="header" place="top"> John Ruskin und Walter Pater</fw><lb/> <p xml:id="ID_1968" prev="#ID_1967"> das Ganze verloren ging. Jedes Kapitel der „Steine von Venedig" oder<lb/> der „Morgen in Florenz" gibt dazu die Beispiele. Mit einem Worte, zum<lb/> Kunsthistoriker und Erklärer'der vergangnen Kunst fehlt ihm so gut wie alles;<lb/> wenn er aber der lebenden Kunst gegenübersteht und Unterrichtszwecke verfolgt,<lb/> so wird er der praktische und für England auch wichtige Mann, und seine<lb/> „Modernen Maler," denen wir uns um zuwenden, sind als ein Lehrbuch für<lb/> die Praxis aufzufassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1969"> Als er die ersten beiden Abteilungen, die bis jetzt allein in der Ausgabe<lb/> des Diederichsscheu Verlags veröffentlicht sind, schrieb, war er vierundzwanzig<lb/> Jahre alt (1843). Er wollte die Überlegenheit der modernen Landschafts-<lb/> malerei über die Kunst aller alten Meister an den Gemälden seines Lands¬<lb/> manns Turner dartun und verarbeitete seine Einzelbeobachtungen in ein wort¬<lb/> reiches Lehrgebäude, das die Herausgeberin verständig und geschickt gekürzt hat;<lb/> diese Arbeit ist sehr viel besser als ihr Buch über Ruskin, vou dem früher die<lb/> Rede war. Rnslin hatte die Marotte, seine theoretischen Auseinandersetzungen<lb/> in die Terminologie des Lockischen Sensualismus einzuwickeln, und wenn sich<lb/> ein ungeordneter Geist für seine Ausdrücke bei einem Philosophen Rat holt,<lb/> so kann das schlimm werden. Dieses verdunkelnde Beiwerk hat Charlotte<lb/> Broicher weggelassen oder verständlich umschrieben. Sie hätte nnr noch weiter<lb/> gehen und uns z. B. die unfruchtbare Haarspalterei, die die künstlerische Phan¬<lb/> tasie in k-in<Z7 und lag.Ziu^ion zerlegt, erlassen sollen, und ihr hilfreicher philo¬<lb/> sophischer Schutzpatron, auf den sie sich mehrfach mit Emphase beruft, hätte<lb/> seine Zeit leicht nützlicher anwenden können.</p><lb/> <p xml:id="ID_1970" next="#ID_1971"> Versuchen wir nun von dem Inhalt des Buchs eine Vorstellung zu geben,<lb/> so dürfen wir die einschachtelnden „Ideen" oder Rubriken des Könnens, der<lb/> Nachahmung, Wahrheit, Schönheit usw. sowie den ganzen Apparat der Rus-<lb/> kinschcn Begriffsbestimmungen außer acht lassen, da sie den Wert des Ganzen<lb/> mehr verdunkeln als ins Licht stellen: dieser beruht ausschließlich auf den tat¬<lb/> sächlichen Beobachtungen, die oftmals die Form von praktischen Anweisungen<lb/> eines Akademieprofessors annehmen und ausübenden Künstlern sehr nützlich<lb/> sein können. Es werden die Unterschiede zwischen Ton und Lokalfarbe be¬<lb/> handelt, die Veränderungen der Farben dnrch die stärkern, überwiegenden Ein¬<lb/> drücke von Licht und Schatten, die Abstände und Fehler der Nachbildungen<lb/> gegenüber dem Naturbilde: die alten Meister bleiben in der Darstellung des<lb/> Raums zurück, sie haben kein richtiges Himmelsblau, unterscheiden nicht die<lb/> Struktur der Wolken nach den Höhenregionen, malen Regenwolken, Wasser<lb/> und Wasserfälle schlecht, legen Nachdruck auf Bäume und vernachlässigen den<lb/> Aufbau des Terrains, berücksichtigen am Gebüsch nicht die Schatten der Blätter,<lb/> vernachlässigen die Spiegelungen der Gegenstünde im Wasser, die in Form<lb/> und Dimension unendlich verschieden sind je nach dem Grade der Bewegung<lb/> der Wasseroberfläche, sodaß sie in jedem Falle neu beobachtet werden müssen.<lb/> Die Holländer sehen zu viel, die Italiener zu wenig. Turner steht in der<lb/> richtigen, erreichbaren Mitte. Er hat, wie an zahlreichen Beispielen gezeigt<lb/> wird, eine Naturwahrheit im einzelnen, in der Stoffbezeichnung, in Licht und<lb/> Farbe, wie sie die alten Meister nicht ausdrücken konnten oder wollten. Die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0495]
John Ruskin und Walter Pater
das Ganze verloren ging. Jedes Kapitel der „Steine von Venedig" oder
der „Morgen in Florenz" gibt dazu die Beispiele. Mit einem Worte, zum
Kunsthistoriker und Erklärer'der vergangnen Kunst fehlt ihm so gut wie alles;
wenn er aber der lebenden Kunst gegenübersteht und Unterrichtszwecke verfolgt,
so wird er der praktische und für England auch wichtige Mann, und seine
„Modernen Maler," denen wir uns um zuwenden, sind als ein Lehrbuch für
die Praxis aufzufassen.
Als er die ersten beiden Abteilungen, die bis jetzt allein in der Ausgabe
des Diederichsscheu Verlags veröffentlicht sind, schrieb, war er vierundzwanzig
Jahre alt (1843). Er wollte die Überlegenheit der modernen Landschafts-
malerei über die Kunst aller alten Meister an den Gemälden seines Lands¬
manns Turner dartun und verarbeitete seine Einzelbeobachtungen in ein wort¬
reiches Lehrgebäude, das die Herausgeberin verständig und geschickt gekürzt hat;
diese Arbeit ist sehr viel besser als ihr Buch über Ruskin, vou dem früher die
Rede war. Rnslin hatte die Marotte, seine theoretischen Auseinandersetzungen
in die Terminologie des Lockischen Sensualismus einzuwickeln, und wenn sich
ein ungeordneter Geist für seine Ausdrücke bei einem Philosophen Rat holt,
so kann das schlimm werden. Dieses verdunkelnde Beiwerk hat Charlotte
Broicher weggelassen oder verständlich umschrieben. Sie hätte nnr noch weiter
gehen und uns z. B. die unfruchtbare Haarspalterei, die die künstlerische Phan¬
tasie in k-in<Z7 und lag.Ziu^ion zerlegt, erlassen sollen, und ihr hilfreicher philo¬
sophischer Schutzpatron, auf den sie sich mehrfach mit Emphase beruft, hätte
seine Zeit leicht nützlicher anwenden können.
Versuchen wir nun von dem Inhalt des Buchs eine Vorstellung zu geben,
so dürfen wir die einschachtelnden „Ideen" oder Rubriken des Könnens, der
Nachahmung, Wahrheit, Schönheit usw. sowie den ganzen Apparat der Rus-
kinschcn Begriffsbestimmungen außer acht lassen, da sie den Wert des Ganzen
mehr verdunkeln als ins Licht stellen: dieser beruht ausschließlich auf den tat¬
sächlichen Beobachtungen, die oftmals die Form von praktischen Anweisungen
eines Akademieprofessors annehmen und ausübenden Künstlern sehr nützlich
sein können. Es werden die Unterschiede zwischen Ton und Lokalfarbe be¬
handelt, die Veränderungen der Farben dnrch die stärkern, überwiegenden Ein¬
drücke von Licht und Schatten, die Abstände und Fehler der Nachbildungen
gegenüber dem Naturbilde: die alten Meister bleiben in der Darstellung des
Raums zurück, sie haben kein richtiges Himmelsblau, unterscheiden nicht die
Struktur der Wolken nach den Höhenregionen, malen Regenwolken, Wasser
und Wasserfälle schlecht, legen Nachdruck auf Bäume und vernachlässigen den
Aufbau des Terrains, berücksichtigen am Gebüsch nicht die Schatten der Blätter,
vernachlässigen die Spiegelungen der Gegenstünde im Wasser, die in Form
und Dimension unendlich verschieden sind je nach dem Grade der Bewegung
der Wasseroberfläche, sodaß sie in jedem Falle neu beobachtet werden müssen.
Die Holländer sehen zu viel, die Italiener zu wenig. Turner steht in der
richtigen, erreichbaren Mitte. Er hat, wie an zahlreichen Beispielen gezeigt
wird, eine Naturwahrheit im einzelnen, in der Stoffbezeichnung, in Licht und
Farbe, wie sie die alten Meister nicht ausdrücken konnten oder wollten. Die
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