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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Als er beim trüben Schein eines Talglichts den Koffer auspackte und seinen
letzten Habseligkeiten in dem schmalen Gelasse ihren Platz anwies, fiel sein Blick
auf die Ansicht des Schlosses zu Aigremont, die Marguerite während seiner Ab¬
wesenheit über dem schmalen Bette an die schmucklose getünchte Wand befestigt
hatte. Er griff nach dem Leuchter und hielt ihn dicht unter das Bild.

Es hatte doch eine stattliche Front, dieses Schloß! sagte er nachdenklich. Ein-
hundertuudachtzehn Pariser Ellen ohne den Seitenflügel -- das will schon etwas
heißen! Hier wohne ich nicht ganz so geräumig. Wenn ich die Arme klaftere,
kann ich mich rechts und links an der Wand festhalten. Das hat bei meinen Jahren
ja freilich auch etwas für sich.

Aber Marguerite hat ganz Recht: wenn man von seinem Enkel abhängig ist,
muß man in seinen Ansprüchen so bescheiden wie möglich sein!

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die Reichstagswahlcn in Elsaß-Lothringen.

Die Wahlergebnisse in
Elsaß-Lothringen gehören in keiner Richtung zu den besonders in die Augen fallenden
Erscheinnnc.er. wie etwa die in Sachsen, sie verdienen aber nicht runder die Auf¬
merksamkeit aller, die sich nicht mit dem nackten Gegenwartsresnltat begnügen, sondern
dieses ans der geschichtlichen Entwicklung zu verstehn und als vorübergehende die
Keime der Zukunft in sich enthaltende Erscheinung zu deuten wünschen. Bei solcher
Betrachtung gewinnt freilich manches ein andres Aussehen, und Zahlen, die nichts
ungewöhnliches zu enthalten scheinen, beginnen plötzlich, eine ernste Sprache zu reden.
"

"Der Protest ist tot, das Protestlertum ist ausgestorben! das war der ^ubelrnf,
der schon gleich nach den Hauptwnhlen in einem sehr großen Teile der dentschen
Presse erklang und das wichtigste Ergebnis einer Gesamtbetrachtung der Wahlen
auszudrücken 'schien Die Tatsache ist an sich ja unleugbar; sie ist aber zu selbst¬
verständlich, als daß man ihr eine große Bedeutung beizulegen berechtigt wäre. Das
Protestlertum stirbt an Altersschwäche; es verschwindet, weil seine Träger, nämlich
Leute, die zur Zeit des Krieges schon Männer waren, das Los aller Sterblichen
teilen, abzutreten vom Kampfplatz oder wenigstens ermüdet die Waffen sinken zu
lassen. Der Protest war seiner Natur uach notgedrungen an die Generationen
geknüpft, deren jüngste zur Zeit der Losreißung eben zum Waffendienste reif ge¬
worden war; er mag sich in einzelnen Familien, in einzelnen Gemeinden aus
Gründen besondrer, individueller Art noch weiter fortpflanzen, seine Bedeutung als
Massenerscheiuuug mußte vou Jahr zu Jahr immer mehr verschwinden, und wenn
jetzt kein Vertreter des Protestlertums mehr in den Reichstag einzieht, so ist das
sehr erklärlich, wir möchten fast sagen selbstverständlich. Tot ist der Protest zwar
noch nicht, aber er ist zu altersschwach, als daß er sich noch in einer zu greifbaren
Wahlerfolgen führenden Weise betätigen könnte. Er lebt noch und zeigt auch vou
Zeit zu Zeit, daß er noch lebt, und die Regierung der Reichslnnde versäumt nicht,
dein alten Herrn hin und wieder unklugerweise einen Entrüstungsschrei abzupressen,
wie z. B. jüngst, als sie dem französischen General Farny die Erlaubnis veringte,
seinem in Straßburg wohnenden zweiundneunzigjährigen Vater einen -öesuch zu
"lachen. Sie hat ihm diese Erlaubnis einige Wochen später doch gegebei^weil der
alte Herr lebensgefährlich erkrankt war, aber sie hatte durch ihre vorherige Weigerung,
die natürlich in der Presse besprochen wurde, bewirkt, daß unter den Stimmzetteln
für die Neichstagswahlen verschiedne waren, die den Namen des Generals Farnh
trugen. Ob sich der Protest auch in sozinldemokratischen Wahlzettelu kundgegeben
hat? Nein, bei diesen Wahlen nicht mehr; der Protest wählt entweder klerikal


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Als er beim trüben Schein eines Talglichts den Koffer auspackte und seinen
letzten Habseligkeiten in dem schmalen Gelasse ihren Platz anwies, fiel sein Blick
auf die Ansicht des Schlosses zu Aigremont, die Marguerite während seiner Ab¬
wesenheit über dem schmalen Bette an die schmucklose getünchte Wand befestigt
hatte. Er griff nach dem Leuchter und hielt ihn dicht unter das Bild.

Es hatte doch eine stattliche Front, dieses Schloß! sagte er nachdenklich. Ein-
hundertuudachtzehn Pariser Ellen ohne den Seitenflügel — das will schon etwas
heißen! Hier wohne ich nicht ganz so geräumig. Wenn ich die Arme klaftere,
kann ich mich rechts und links an der Wand festhalten. Das hat bei meinen Jahren
ja freilich auch etwas für sich.

Aber Marguerite hat ganz Recht: wenn man von seinem Enkel abhängig ist,
muß man in seinen Ansprüchen so bescheiden wie möglich sein!

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die Reichstagswahlcn in Elsaß-Lothringen.

Die Wahlergebnisse in
Elsaß-Lothringen gehören in keiner Richtung zu den besonders in die Augen fallenden
Erscheinnnc.er. wie etwa die in Sachsen, sie verdienen aber nicht runder die Auf¬
merksamkeit aller, die sich nicht mit dem nackten Gegenwartsresnltat begnügen, sondern
dieses ans der geschichtlichen Entwicklung zu verstehn und als vorübergehende die
Keime der Zukunft in sich enthaltende Erscheinung zu deuten wünschen. Bei solcher
Betrachtung gewinnt freilich manches ein andres Aussehen, und Zahlen, die nichts
ungewöhnliches zu enthalten scheinen, beginnen plötzlich, eine ernste Sprache zu reden.
"

„Der Protest ist tot, das Protestlertum ist ausgestorben! das war der ^ubelrnf,
der schon gleich nach den Hauptwnhlen in einem sehr großen Teile der dentschen
Presse erklang und das wichtigste Ergebnis einer Gesamtbetrachtung der Wahlen
auszudrücken 'schien Die Tatsache ist an sich ja unleugbar; sie ist aber zu selbst¬
verständlich, als daß man ihr eine große Bedeutung beizulegen berechtigt wäre. Das
Protestlertum stirbt an Altersschwäche; es verschwindet, weil seine Träger, nämlich
Leute, die zur Zeit des Krieges schon Männer waren, das Los aller Sterblichen
teilen, abzutreten vom Kampfplatz oder wenigstens ermüdet die Waffen sinken zu
lassen. Der Protest war seiner Natur uach notgedrungen an die Generationen
geknüpft, deren jüngste zur Zeit der Losreißung eben zum Waffendienste reif ge¬
worden war; er mag sich in einzelnen Familien, in einzelnen Gemeinden aus
Gründen besondrer, individueller Art noch weiter fortpflanzen, seine Bedeutung als
Massenerscheiuuug mußte vou Jahr zu Jahr immer mehr verschwinden, und wenn
jetzt kein Vertreter des Protestlertums mehr in den Reichstag einzieht, so ist das
sehr erklärlich, wir möchten fast sagen selbstverständlich. Tot ist der Protest zwar
noch nicht, aber er ist zu altersschwach, als daß er sich noch in einer zu greifbaren
Wahlerfolgen führenden Weise betätigen könnte. Er lebt noch und zeigt auch vou
Zeit zu Zeit, daß er noch lebt, und die Regierung der Reichslnnde versäumt nicht,
dein alten Herrn hin und wieder unklugerweise einen Entrüstungsschrei abzupressen,
wie z. B. jüngst, als sie dem französischen General Farny die Erlaubnis veringte,
seinem in Straßburg wohnenden zweiundneunzigjährigen Vater einen -öesuch zu
"lachen. Sie hat ihm diese Erlaubnis einige Wochen später doch gegebei^weil der
alte Herr lebensgefährlich erkrankt war, aber sie hatte durch ihre vorherige Weigerung,
die natürlich in der Presse besprochen wurde, bewirkt, daß unter den Stimmzetteln
für die Neichstagswahlen verschiedne waren, die den Namen des Generals Farnh
trugen. Ob sich der Protest auch in sozinldemokratischen Wahlzettelu kundgegeben
hat? Nein, bei diesen Wahlen nicht mehr; der Protest wählt entweder klerikal


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[0383] Maßgebliches und Unmaßgebliches Als er beim trüben Schein eines Talglichts den Koffer auspackte und seinen letzten Habseligkeiten in dem schmalen Gelasse ihren Platz anwies, fiel sein Blick auf die Ansicht des Schlosses zu Aigremont, die Marguerite während seiner Ab¬ wesenheit über dem schmalen Bette an die schmucklose getünchte Wand befestigt hatte. Er griff nach dem Leuchter und hielt ihn dicht unter das Bild. Es hatte doch eine stattliche Front, dieses Schloß! sagte er nachdenklich. Ein- hundertuudachtzehn Pariser Ellen ohne den Seitenflügel — das will schon etwas heißen! Hier wohne ich nicht ganz so geräumig. Wenn ich die Arme klaftere, kann ich mich rechts und links an der Wand festhalten. Das hat bei meinen Jahren ja freilich auch etwas für sich. Aber Marguerite hat ganz Recht: wenn man von seinem Enkel abhängig ist, muß man in seinen Ansprüchen so bescheiden wie möglich sein! (Schluß folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Die Reichstagswahlcn in Elsaß-Lothringen. Die Wahlergebnisse in Elsaß-Lothringen gehören in keiner Richtung zu den besonders in die Augen fallenden Erscheinnnc.er. wie etwa die in Sachsen, sie verdienen aber nicht runder die Auf¬ merksamkeit aller, die sich nicht mit dem nackten Gegenwartsresnltat begnügen, sondern dieses ans der geschichtlichen Entwicklung zu verstehn und als vorübergehende die Keime der Zukunft in sich enthaltende Erscheinung zu deuten wünschen. Bei solcher Betrachtung gewinnt freilich manches ein andres Aussehen, und Zahlen, die nichts ungewöhnliches zu enthalten scheinen, beginnen plötzlich, eine ernste Sprache zu reden. " „Der Protest ist tot, das Protestlertum ist ausgestorben! das war der ^ubelrnf, der schon gleich nach den Hauptwnhlen in einem sehr großen Teile der dentschen Presse erklang und das wichtigste Ergebnis einer Gesamtbetrachtung der Wahlen auszudrücken 'schien Die Tatsache ist an sich ja unleugbar; sie ist aber zu selbst¬ verständlich, als daß man ihr eine große Bedeutung beizulegen berechtigt wäre. Das Protestlertum stirbt an Altersschwäche; es verschwindet, weil seine Träger, nämlich Leute, die zur Zeit des Krieges schon Männer waren, das Los aller Sterblichen teilen, abzutreten vom Kampfplatz oder wenigstens ermüdet die Waffen sinken zu lassen. Der Protest war seiner Natur uach notgedrungen an die Generationen geknüpft, deren jüngste zur Zeit der Losreißung eben zum Waffendienste reif ge¬ worden war; er mag sich in einzelnen Familien, in einzelnen Gemeinden aus Gründen besondrer, individueller Art noch weiter fortpflanzen, seine Bedeutung als Massenerscheiuuug mußte vou Jahr zu Jahr immer mehr verschwinden, und wenn jetzt kein Vertreter des Protestlertums mehr in den Reichstag einzieht, so ist das sehr erklärlich, wir möchten fast sagen selbstverständlich. Tot ist der Protest zwar noch nicht, aber er ist zu altersschwach, als daß er sich noch in einer zu greifbaren Wahlerfolgen führenden Weise betätigen könnte. Er lebt noch und zeigt auch vou Zeit zu Zeit, daß er noch lebt, und die Regierung der Reichslnnde versäumt nicht, dein alten Herrn hin und wieder unklugerweise einen Entrüstungsschrei abzupressen, wie z. B. jüngst, als sie dem französischen General Farny die Erlaubnis veringte, seinem in Straßburg wohnenden zweiundneunzigjährigen Vater einen -öesuch zu "lachen. Sie hat ihm diese Erlaubnis einige Wochen später doch gegebei^weil der alte Herr lebensgefährlich erkrankt war, aber sie hatte durch ihre vorherige Weigerung, die natürlich in der Presse besprochen wurde, bewirkt, daß unter den Stimmzetteln für die Neichstagswahlen verschiedne waren, die den Namen des Generals Farnh trugen. Ob sich der Protest auch in sozinldemokratischen Wahlzettelu kundgegeben hat? Nein, bei diesen Wahlen nicht mehr; der Protest wählt entweder klerikal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/383>, abgerufen am 22.11.2024.