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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Tolstoi

sogleich, daß derselbe Ofen ja auch das Zimmer unsrer alten Haushälterin er¬
wärmt, die nicht Zeit dazu hat, ihn selbst zu heizen; um ihretwillen muß ge¬
heizt werden, und uuter ihrer Firma wärmt sich auch der Faulpelz." "Es ist
wahr, fährt er fort, daß die Interessen aller miteinander verflochten sind, aber
das Gewissen sagt uns ohne lange Berechnungen, auf wessen Teil die Arbeit
und auf wessen Teil der Müßiggang kommt, und noch klarer sagt es unser
Geld und unser Wirtschaftsbuch: je mehr Geld einer verbraucht, umso mehr
läßt er andre für sich arbeiten, je weniger, umso mehr arbeitet er selbst." Nun wendet
sich Tolstoi zu einer weit ausholenden, von der Kritik der Soziologie Comtes aus¬
gehenden Zergliederung des öffentlichen Lebens mit seiner Arbeitsteilung und
Standesscheidung, der Staatsordnung, den Wirtschaftseinrichtungeu, den Wissen¬
schaften und Künsten. Wir sehen und versteh" die Übel, die er aufdeckt, denn
wir kennen sie ja alle anch ohne seine Führung, aber am Ende jeder Be-
trachtnngsreihe fragen wir uns: Wozu das alles? Wir finden in der ganzen
Menge von Anklagen auch nicht eine einzige Stelle, an der dieser festgefügte
Bau von Übeln dnrch einen kritischen Keil zerteilt und ius Wanken ge¬
bracht werde" konnte. Praktisch genommen ist all dieses Gerede wertlos. Daß
jeder nach seinen Kräften arbeite, fordert von dem einen die Sittlichkeit und
von dem andern die Not der Verhältnisse; wo beide Triebfedern versagen, läßt
sich in der Regel kein äußerer Zwang ausüben. Daß das Eigentum die Wurzel
alles Übels sei, meinen ja auch die Sozialdemokraten; daß sie ausgerissen
werden könne, halten wenigstens alle andern für Unsinn. Daß körperliche Arbeit
ebenso ehrenhaft ist wie jede höhere Beschäftigung, hat Carlyle viel schöner
gesagt. Daß aber alles, was in den Bauten, Ministerien, Universitäten, Aka¬
demien und Ateliers getan wird, bloß Scheinarbeit sei, vorgenommen, um uuter
dem Deckmantel des Prinzips der Arbeitsteilung die Arbeit andrer auszubeuten
und das eigne Leben zu genießen, das ist nicht nnr vor den Ansprüchen der
höhern Kultur, sondern schon nach den einfachen Bedingungen des wirtschaft¬
lichen Lebens eine so große Torheit, daß nnr um des Zusammenhangs willen,
worin sie Tolstoi vorbringt, noch mit einem Worte dabei zu verweilen fein
wird. Die Frau der modernen Bewegung, sagt er, die sich in das Gebiet der
Münnerarbeit eindrängt, wird niemals verlangen, mit ihrem Gatten ins Berg¬
werk einzufahren, aber ans den Ansprüchen auf die scheiubnre Arbeit der
Männer zieht die sogenannte Frauenfrage in den bessern Ständen ihre haupt¬
sächliche Nahrung. Was er über die Frauenemanzipation sagt, ist durchweg
vernünftig und ohne Übertreibung das einzige Praktischgreifbare in diesen zwei
Bänden, aber den Namen eines Weisen von Jasnaja Pvljana verdient er
darum doch uicht, und mit einem wirklichen Sozinlpolitiker, wie Carlyle einer
war, kann er nicht von ferne verglichen werden.

Wenn uns dieses umfangreiche Werk wenigstens durch Stoffmenge und
konkrete Einzelschilderung unterhält und zum Nachdenken anregt, so enthält die
Schrift über "Die sexuelle Frage" (1890 niedergeschrieben) aus ihren 134 Seiten
auch nicht einen einzigen besonder" Gedanken, lauter selbstverständliche Dinge,
um die lange Tirade" gesponnen werden, keine eigentümliche Probe, die sich
dein Leser mitteilen ließe. Bei dem Titel: "Das einzige Mittel" (1901^


Tolstoi

sogleich, daß derselbe Ofen ja auch das Zimmer unsrer alten Haushälterin er¬
wärmt, die nicht Zeit dazu hat, ihn selbst zu heizen; um ihretwillen muß ge¬
heizt werden, und uuter ihrer Firma wärmt sich auch der Faulpelz." „Es ist
wahr, fährt er fort, daß die Interessen aller miteinander verflochten sind, aber
das Gewissen sagt uns ohne lange Berechnungen, auf wessen Teil die Arbeit
und auf wessen Teil der Müßiggang kommt, und noch klarer sagt es unser
Geld und unser Wirtschaftsbuch: je mehr Geld einer verbraucht, umso mehr
läßt er andre für sich arbeiten, je weniger, umso mehr arbeitet er selbst." Nun wendet
sich Tolstoi zu einer weit ausholenden, von der Kritik der Soziologie Comtes aus¬
gehenden Zergliederung des öffentlichen Lebens mit seiner Arbeitsteilung und
Standesscheidung, der Staatsordnung, den Wirtschaftseinrichtungeu, den Wissen¬
schaften und Künsten. Wir sehen und versteh» die Übel, die er aufdeckt, denn
wir kennen sie ja alle anch ohne seine Führung, aber am Ende jeder Be-
trachtnngsreihe fragen wir uns: Wozu das alles? Wir finden in der ganzen
Menge von Anklagen auch nicht eine einzige Stelle, an der dieser festgefügte
Bau von Übeln dnrch einen kritischen Keil zerteilt und ius Wanken ge¬
bracht werde» konnte. Praktisch genommen ist all dieses Gerede wertlos. Daß
jeder nach seinen Kräften arbeite, fordert von dem einen die Sittlichkeit und
von dem andern die Not der Verhältnisse; wo beide Triebfedern versagen, läßt
sich in der Regel kein äußerer Zwang ausüben. Daß das Eigentum die Wurzel
alles Übels sei, meinen ja auch die Sozialdemokraten; daß sie ausgerissen
werden könne, halten wenigstens alle andern für Unsinn. Daß körperliche Arbeit
ebenso ehrenhaft ist wie jede höhere Beschäftigung, hat Carlyle viel schöner
gesagt. Daß aber alles, was in den Bauten, Ministerien, Universitäten, Aka¬
demien und Ateliers getan wird, bloß Scheinarbeit sei, vorgenommen, um uuter
dem Deckmantel des Prinzips der Arbeitsteilung die Arbeit andrer auszubeuten
und das eigne Leben zu genießen, das ist nicht nnr vor den Ansprüchen der
höhern Kultur, sondern schon nach den einfachen Bedingungen des wirtschaft¬
lichen Lebens eine so große Torheit, daß nnr um des Zusammenhangs willen,
worin sie Tolstoi vorbringt, noch mit einem Worte dabei zu verweilen fein
wird. Die Frau der modernen Bewegung, sagt er, die sich in das Gebiet der
Münnerarbeit eindrängt, wird niemals verlangen, mit ihrem Gatten ins Berg¬
werk einzufahren, aber ans den Ansprüchen auf die scheiubnre Arbeit der
Männer zieht die sogenannte Frauenfrage in den bessern Ständen ihre haupt¬
sächliche Nahrung. Was er über die Frauenemanzipation sagt, ist durchweg
vernünftig und ohne Übertreibung das einzige Praktischgreifbare in diesen zwei
Bänden, aber den Namen eines Weisen von Jasnaja Pvljana verdient er
darum doch uicht, und mit einem wirklichen Sozinlpolitiker, wie Carlyle einer
war, kann er nicht von ferne verglichen werden.

Wenn uns dieses umfangreiche Werk wenigstens durch Stoffmenge und
konkrete Einzelschilderung unterhält und zum Nachdenken anregt, so enthält die
Schrift über „Die sexuelle Frage" (1890 niedergeschrieben) aus ihren 134 Seiten
auch nicht einen einzigen besonder» Gedanken, lauter selbstverständliche Dinge,
um die lange Tirade» gesponnen werden, keine eigentümliche Probe, die sich
dein Leser mitteilen ließe. Bei dem Titel: „Das einzige Mittel" (1901^


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[0036] Tolstoi sogleich, daß derselbe Ofen ja auch das Zimmer unsrer alten Haushälterin er¬ wärmt, die nicht Zeit dazu hat, ihn selbst zu heizen; um ihretwillen muß ge¬ heizt werden, und uuter ihrer Firma wärmt sich auch der Faulpelz." „Es ist wahr, fährt er fort, daß die Interessen aller miteinander verflochten sind, aber das Gewissen sagt uns ohne lange Berechnungen, auf wessen Teil die Arbeit und auf wessen Teil der Müßiggang kommt, und noch klarer sagt es unser Geld und unser Wirtschaftsbuch: je mehr Geld einer verbraucht, umso mehr läßt er andre für sich arbeiten, je weniger, umso mehr arbeitet er selbst." Nun wendet sich Tolstoi zu einer weit ausholenden, von der Kritik der Soziologie Comtes aus¬ gehenden Zergliederung des öffentlichen Lebens mit seiner Arbeitsteilung und Standesscheidung, der Staatsordnung, den Wirtschaftseinrichtungeu, den Wissen¬ schaften und Künsten. Wir sehen und versteh» die Übel, die er aufdeckt, denn wir kennen sie ja alle anch ohne seine Führung, aber am Ende jeder Be- trachtnngsreihe fragen wir uns: Wozu das alles? Wir finden in der ganzen Menge von Anklagen auch nicht eine einzige Stelle, an der dieser festgefügte Bau von Übeln dnrch einen kritischen Keil zerteilt und ius Wanken ge¬ bracht werde» konnte. Praktisch genommen ist all dieses Gerede wertlos. Daß jeder nach seinen Kräften arbeite, fordert von dem einen die Sittlichkeit und von dem andern die Not der Verhältnisse; wo beide Triebfedern versagen, läßt sich in der Regel kein äußerer Zwang ausüben. Daß das Eigentum die Wurzel alles Übels sei, meinen ja auch die Sozialdemokraten; daß sie ausgerissen werden könne, halten wenigstens alle andern für Unsinn. Daß körperliche Arbeit ebenso ehrenhaft ist wie jede höhere Beschäftigung, hat Carlyle viel schöner gesagt. Daß aber alles, was in den Bauten, Ministerien, Universitäten, Aka¬ demien und Ateliers getan wird, bloß Scheinarbeit sei, vorgenommen, um uuter dem Deckmantel des Prinzips der Arbeitsteilung die Arbeit andrer auszubeuten und das eigne Leben zu genießen, das ist nicht nnr vor den Ansprüchen der höhern Kultur, sondern schon nach den einfachen Bedingungen des wirtschaft¬ lichen Lebens eine so große Torheit, daß nnr um des Zusammenhangs willen, worin sie Tolstoi vorbringt, noch mit einem Worte dabei zu verweilen fein wird. Die Frau der modernen Bewegung, sagt er, die sich in das Gebiet der Münnerarbeit eindrängt, wird niemals verlangen, mit ihrem Gatten ins Berg¬ werk einzufahren, aber ans den Ansprüchen auf die scheiubnre Arbeit der Männer zieht die sogenannte Frauenfrage in den bessern Ständen ihre haupt¬ sächliche Nahrung. Was er über die Frauenemanzipation sagt, ist durchweg vernünftig und ohne Übertreibung das einzige Praktischgreifbare in diesen zwei Bänden, aber den Namen eines Weisen von Jasnaja Pvljana verdient er darum doch uicht, und mit einem wirklichen Sozinlpolitiker, wie Carlyle einer war, kann er nicht von ferne verglichen werden. Wenn uns dieses umfangreiche Werk wenigstens durch Stoffmenge und konkrete Einzelschilderung unterhält und zum Nachdenken anregt, so enthält die Schrift über „Die sexuelle Frage" (1890 niedergeschrieben) aus ihren 134 Seiten auch nicht einen einzigen besonder» Gedanken, lauter selbstverständliche Dinge, um die lange Tirade» gesponnen werden, keine eigentümliche Probe, die sich dein Leser mitteilen ließe. Bei dem Titel: „Das einzige Mittel" (1901^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/36>, abgerufen am 25.11.2024.