angelegte Verfassung des Norddeutschen Bundes und auch Preußen an Libe¬ ralismus zu übertrumpfen. Das stimmte ganz gut mit der allgemein gehegten Nevancheidee für 1866. Es möge nur ein Beispiel herangezogen werden. Der berühmt gewordne Artikel 19 der Staatsgrundgesetze lautet: "Die Gleich¬ berechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schulen, Amt und öffentlichem Leben ist vom Staate anerkannt." Was ist Gleichberechtigung? Die Gleich¬ berechtigung ist ein rein negativer Grundsatz, der ebensogut gleiche Freiheit wie gleiche Knechtschaft bedeuten kaun und über die Natur nationaler Rechte gar nichts sagt. Kann die ruthenische oder die slowenische Sprache mit der deutschen Welt- und Kultursprache jemals gleichberechtigt sein oder werden? In abseh¬ barer Zeit gewiß nicht. Man vermag sich nur einen Fall wirklich folgerichtiger Durchführung des § 19 vorzustellen, etwa wenn Rußland Österreich annektierte: dann würde natürlich Russisch die Staatssprache, und alle in Österreich "landes¬ üblichen Sprachen" würden gleichberechtigt sein.
Die an sich nur wohlmeinenden, aber durchweg in privatrechtlichen An¬ schauungen befangnen Schöpfer solcher Bestimmungen hatten anch in zahlreichen Fällen das sichere Gefühl, daß die unbestimmten Ausdrücke aus der liberalen Phraseologie nicht ausreichen würden, und sie versuchten, durch kleine, oft advokatorische Bestimmungen den Slawen Hindernisse in den Weg zu legen. Verhängnisvoll ist von diesen Kniffen die Bestimmung geworden, nach der an Mittelschulen nur eine Landessprache obligater Unterrichtsgegenstand sein soll. Da man schon Galizien an die Polen ausgeliefert hatte, so waren diese damit einverstanden, und die Spitze richtete sich allein gegen die Tschechen, denen man damit die Beamtenkarriere zu erschweren, im übrigen das deutsche Mittelschul¬ wesen zu heben hoffte. Der Zweck wurde ungefähr erreicht, solange sich die Deutschen in der Regierung erhielten. Aber seit 1879, wo man das letzte deutsche Ministerium unmöglich gemacht hatte, ist gerade diese Bestimmung eine der Hauptursachen der tschechischen Beamteneinwcmdrung in deutsche Bezirke geworden, denn der tschechische Beamte kann Deutsch, wenn auch häufig nur dürftig, er muß es lernen, wenn er fortkommen will; dann ist er aber auch übernll verwendbar, während der Deutsche nur in seltnen Fällen Tschechisch kann und darum nur im ungemischten Sprachgebiet zu gebrauchen ist. Nun ist unter den Deutschösterreichern die Erkenntnis schon weit verbreitet, daß die Deutschen zur Erhaltung ihrer Stellung die zweite Landessprache erlernen müssen, daß man auch in den Geist dieser Sprache eindringen müsse, wenn man sie richtig erlernen will, daß man sich ihm aber nicht hinzugeben braucht; aber der Verwirklichung steht gerade die erwähnte Schulgesetzgebung entgegen, wonach die zweite Landessprache kein obligater Lehrgegenstand ist. So lange aber die tschechische Sprache an deutschböhmischen Mittelschulen nicht Zwangs¬ fach und Prüfungsgegenstand ist, wird die deutsche Jugend darin immer wenig leisten, der Nachteil für die deutschen Beamten bleibt also bestehn. Dieselben Erfahrungen hatten vor dreißig Jahren schon tschechische Städte an ihren Mittel¬ schulen mit dem Deutschen gemacht. Einige wollten damals, daß ihre Schüler Deutsch lernen sollten, aber sie konnten bei dem deutschen Unterrichtsminister Stremayr nicht durchsetzen, daß Deutsch bei ihnen obligat würde, weil er es
Böhmen
angelegte Verfassung des Norddeutschen Bundes und auch Preußen an Libe¬ ralismus zu übertrumpfen. Das stimmte ganz gut mit der allgemein gehegten Nevancheidee für 1866. Es möge nur ein Beispiel herangezogen werden. Der berühmt gewordne Artikel 19 der Staatsgrundgesetze lautet: „Die Gleich¬ berechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schulen, Amt und öffentlichem Leben ist vom Staate anerkannt." Was ist Gleichberechtigung? Die Gleich¬ berechtigung ist ein rein negativer Grundsatz, der ebensogut gleiche Freiheit wie gleiche Knechtschaft bedeuten kaun und über die Natur nationaler Rechte gar nichts sagt. Kann die ruthenische oder die slowenische Sprache mit der deutschen Welt- und Kultursprache jemals gleichberechtigt sein oder werden? In abseh¬ barer Zeit gewiß nicht. Man vermag sich nur einen Fall wirklich folgerichtiger Durchführung des § 19 vorzustellen, etwa wenn Rußland Österreich annektierte: dann würde natürlich Russisch die Staatssprache, und alle in Österreich „landes¬ üblichen Sprachen" würden gleichberechtigt sein.
Die an sich nur wohlmeinenden, aber durchweg in privatrechtlichen An¬ schauungen befangnen Schöpfer solcher Bestimmungen hatten anch in zahlreichen Fällen das sichere Gefühl, daß die unbestimmten Ausdrücke aus der liberalen Phraseologie nicht ausreichen würden, und sie versuchten, durch kleine, oft advokatorische Bestimmungen den Slawen Hindernisse in den Weg zu legen. Verhängnisvoll ist von diesen Kniffen die Bestimmung geworden, nach der an Mittelschulen nur eine Landessprache obligater Unterrichtsgegenstand sein soll. Da man schon Galizien an die Polen ausgeliefert hatte, so waren diese damit einverstanden, und die Spitze richtete sich allein gegen die Tschechen, denen man damit die Beamtenkarriere zu erschweren, im übrigen das deutsche Mittelschul¬ wesen zu heben hoffte. Der Zweck wurde ungefähr erreicht, solange sich die Deutschen in der Regierung erhielten. Aber seit 1879, wo man das letzte deutsche Ministerium unmöglich gemacht hatte, ist gerade diese Bestimmung eine der Hauptursachen der tschechischen Beamteneinwcmdrung in deutsche Bezirke geworden, denn der tschechische Beamte kann Deutsch, wenn auch häufig nur dürftig, er muß es lernen, wenn er fortkommen will; dann ist er aber auch übernll verwendbar, während der Deutsche nur in seltnen Fällen Tschechisch kann und darum nur im ungemischten Sprachgebiet zu gebrauchen ist. Nun ist unter den Deutschösterreichern die Erkenntnis schon weit verbreitet, daß die Deutschen zur Erhaltung ihrer Stellung die zweite Landessprache erlernen müssen, daß man auch in den Geist dieser Sprache eindringen müsse, wenn man sie richtig erlernen will, daß man sich ihm aber nicht hinzugeben braucht; aber der Verwirklichung steht gerade die erwähnte Schulgesetzgebung entgegen, wonach die zweite Landessprache kein obligater Lehrgegenstand ist. So lange aber die tschechische Sprache an deutschböhmischen Mittelschulen nicht Zwangs¬ fach und Prüfungsgegenstand ist, wird die deutsche Jugend darin immer wenig leisten, der Nachteil für die deutschen Beamten bleibt also bestehn. Dieselben Erfahrungen hatten vor dreißig Jahren schon tschechische Städte an ihren Mittel¬ schulen mit dem Deutschen gemacht. Einige wollten damals, daß ihre Schüler Deutsch lernen sollten, aber sie konnten bei dem deutschen Unterrichtsminister Stremayr nicht durchsetzen, daß Deutsch bei ihnen obligat würde, weil er es
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angelegte Verfassung des Norddeutschen Bundes und auch Preußen an Libe¬
ralismus zu übertrumpfen. Das stimmte ganz gut mit der allgemein gehegten
Nevancheidee für 1866. Es möge nur ein Beispiel herangezogen werden.
Der berühmt gewordne Artikel 19 der Staatsgrundgesetze lautet: „Die Gleich¬
berechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schulen, Amt und öffentlichem
Leben ist vom Staate anerkannt." Was ist Gleichberechtigung? Die Gleich¬
berechtigung ist ein rein negativer Grundsatz, der ebensogut gleiche Freiheit wie
gleiche Knechtschaft bedeuten kaun und über die Natur nationaler Rechte gar
nichts sagt. Kann die ruthenische oder die slowenische Sprache mit der deutschen
Welt- und Kultursprache jemals gleichberechtigt sein oder werden? In abseh¬
barer Zeit gewiß nicht. Man vermag sich nur einen Fall wirklich folgerichtiger
Durchführung des § 19 vorzustellen, etwa wenn Rußland Österreich annektierte:
dann würde natürlich Russisch die Staatssprache, und alle in Österreich „landes¬
üblichen Sprachen" würden gleichberechtigt sein.
Die an sich nur wohlmeinenden, aber durchweg in privatrechtlichen An¬
schauungen befangnen Schöpfer solcher Bestimmungen hatten anch in zahlreichen
Fällen das sichere Gefühl, daß die unbestimmten Ausdrücke aus der liberalen
Phraseologie nicht ausreichen würden, und sie versuchten, durch kleine, oft
advokatorische Bestimmungen den Slawen Hindernisse in den Weg zu legen.
Verhängnisvoll ist von diesen Kniffen die Bestimmung geworden, nach der an
Mittelschulen nur eine Landessprache obligater Unterrichtsgegenstand sein soll.
Da man schon Galizien an die Polen ausgeliefert hatte, so waren diese damit
einverstanden, und die Spitze richtete sich allein gegen die Tschechen, denen man
damit die Beamtenkarriere zu erschweren, im übrigen das deutsche Mittelschul¬
wesen zu heben hoffte. Der Zweck wurde ungefähr erreicht, solange sich die
Deutschen in der Regierung erhielten. Aber seit 1879, wo man das letzte
deutsche Ministerium unmöglich gemacht hatte, ist gerade diese Bestimmung eine
der Hauptursachen der tschechischen Beamteneinwcmdrung in deutsche Bezirke
geworden, denn der tschechische Beamte kann Deutsch, wenn auch häufig nur
dürftig, er muß es lernen, wenn er fortkommen will; dann ist er aber auch
übernll verwendbar, während der Deutsche nur in seltnen Fällen Tschechisch kann
und darum nur im ungemischten Sprachgebiet zu gebrauchen ist. Nun ist
unter den Deutschösterreichern die Erkenntnis schon weit verbreitet, daß die
Deutschen zur Erhaltung ihrer Stellung die zweite Landessprache erlernen
müssen, daß man auch in den Geist dieser Sprache eindringen müsse, wenn
man sie richtig erlernen will, daß man sich ihm aber nicht hinzugeben braucht;
aber der Verwirklichung steht gerade die erwähnte Schulgesetzgebung entgegen,
wonach die zweite Landessprache kein obligater Lehrgegenstand ist. So lange
aber die tschechische Sprache an deutschböhmischen Mittelschulen nicht Zwangs¬
fach und Prüfungsgegenstand ist, wird die deutsche Jugend darin immer wenig
leisten, der Nachteil für die deutschen Beamten bleibt also bestehn. Dieselben
Erfahrungen hatten vor dreißig Jahren schon tschechische Städte an ihren Mittel¬
schulen mit dem Deutschen gemacht. Einige wollten damals, daß ihre Schüler
Deutsch lernen sollten, aber sie konnten bei dem deutschen Unterrichtsminister
Stremayr nicht durchsetzen, daß Deutsch bei ihnen obligat würde, weil er es
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/352>, abgerufen am 25.11.2024.
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