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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die orientalische Frage

Haupt um der orientalischen Frage interessiert ist, und ob, wenn das der Fall
ist, sein Interesse sich mit dem Österreich-Ungarns deckt. Von den Gegnern
des deutsch-österreichischen Bündnisses wird gewöhnlich Bismarcks Wort von
den Knochen des pommerschen Grenadiers zitiert, jedoch herausgerissen aus
dem ganzen Zusammenhang seiner damaligen Rede. In der Tat hat Bis-
mnrck nie behauptet, daß es Deutschland völlig gleichgiltig sei, was da drunten
tief in der Türkei vorgehe, sondern nur erklärt, daß die konfessionellen Fragen
im Orient, die Interessen der "christlichen Brüder" auf der Balkanhnlbinsel
für Deutschland keine Sache seien, auch nur die Knochen eines pommerschen
Grenadiers darau zu setzen. Nicht gleichgiltig ist aber Deutschland die Ent¬
wicklung der Beziehungen der an der orientalischen Frage beteiligten Gro߬
mächte zu dem Auflösungsprozeß des türkischen Reiches. Wenn auch nur
mittelbar, nimmt es daran dasselbe Interesse, das schon im achtzehnten Jahr¬
hundert Friedrich deu Großen veranlaßte, das wachsende Übergewicht Ru߬
lands schwer zu empfinden, das Kaunitz veranlaßte, nach einer Einigung
aller Deutschen zu seufzen, und Felix Schwarzenberg von einem mitteleuro¬
päischen Siebzigmillionenreich zu träumen, das stark genug wäre, die beideu
großen revolutionären Mächte Europas, Frankreich und Rußland, in Schach
zu halten. Ans diesem, Deutschland und Österreich-Ungarn gemeinsamen
Interesse ist schließlich das deutsch-österreichische Bündnis erwachsen, das das
seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges erschütterte europäische Gleich¬
gewicht wiederhergestellt hat, und dessen Grundlage die Sicherung des großen
strategischen Dreiecks zwischen der Elbmündung, der Adrici und den Donau-
mündungen ist. Diese Basis fortgesetzt zu verstärken liegt im eignen Vorteil
Deutschlands, und deshalb ist es eine Torheit, zu glauben, Deutschland er¬
schwere Österreich-Ungarn die Wahrnehmung seiner Interessen im Orient.
Niemals konnte allerdings die Erweiterung der Machtstellung Österreich-
Ungarns im Südosten selbst der Gegenstand des deutsch-österreichischen Bünd¬
nisses sein, weil es seiner ganzen Natur nach ein Defensivbündnis war. Ebenso
wie der größte österreichische Staatsmann der letzten Jahrhunderte, Leopold
der Zweite, den mit Preußen geschlossenen Berliner Vertrag, der das euro¬
päische Gleichgewicht wieder herstellen sollte, nur als ein rein defensives
Bündnis auffaßte, und wie dieses in dein Augenblicke zerfiel, wo Preußen dein
Vertrag eine aggressive Absicht unterschob, so konnte der von Bismarck und
Andrassy gewallte Zweck des deutsch-österreichischen Bündnisses nur dann erreicht
werden, wenn es den Charakter eines reinen Verteidigungsbündnisses erhielt
und bewahrte. Ein Verzicht Österreich-Ungarns auf die Wahrnehmung seiner
orientalischen Interessen war damit keinswegs ausgesprochen, sondern die
Orientpolitik der Monarchie nur ans den viel aussichtsvollern Weg moralisch-
politischer Eroberungen verwiesen, deu sie umso eher hätte betreten können, als
das deutsch-österreichische Bündnis Rußland zwang, im Orient die Waffen aus
der Hand zu legen.

Woher es kam, daß Österreich-Ungarn diesen Weg friedlicher Eroberungen
nicht betrat, ist schon vorher erläutert lvorden; daß es so kam, ist jedoch nicht
die Schuld Deutschlands, das es im Gegenteil tief bedauern muß, daß die


Die orientalische Frage

Haupt um der orientalischen Frage interessiert ist, und ob, wenn das der Fall
ist, sein Interesse sich mit dem Österreich-Ungarns deckt. Von den Gegnern
des deutsch-österreichischen Bündnisses wird gewöhnlich Bismarcks Wort von
den Knochen des pommerschen Grenadiers zitiert, jedoch herausgerissen aus
dem ganzen Zusammenhang seiner damaligen Rede. In der Tat hat Bis-
mnrck nie behauptet, daß es Deutschland völlig gleichgiltig sei, was da drunten
tief in der Türkei vorgehe, sondern nur erklärt, daß die konfessionellen Fragen
im Orient, die Interessen der „christlichen Brüder" auf der Balkanhnlbinsel
für Deutschland keine Sache seien, auch nur die Knochen eines pommerschen
Grenadiers darau zu setzen. Nicht gleichgiltig ist aber Deutschland die Ent¬
wicklung der Beziehungen der an der orientalischen Frage beteiligten Gro߬
mächte zu dem Auflösungsprozeß des türkischen Reiches. Wenn auch nur
mittelbar, nimmt es daran dasselbe Interesse, das schon im achtzehnten Jahr¬
hundert Friedrich deu Großen veranlaßte, das wachsende Übergewicht Ru߬
lands schwer zu empfinden, das Kaunitz veranlaßte, nach einer Einigung
aller Deutschen zu seufzen, und Felix Schwarzenberg von einem mitteleuro¬
päischen Siebzigmillionenreich zu träumen, das stark genug wäre, die beideu
großen revolutionären Mächte Europas, Frankreich und Rußland, in Schach
zu halten. Ans diesem, Deutschland und Österreich-Ungarn gemeinsamen
Interesse ist schließlich das deutsch-österreichische Bündnis erwachsen, das das
seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges erschütterte europäische Gleich¬
gewicht wiederhergestellt hat, und dessen Grundlage die Sicherung des großen
strategischen Dreiecks zwischen der Elbmündung, der Adrici und den Donau-
mündungen ist. Diese Basis fortgesetzt zu verstärken liegt im eignen Vorteil
Deutschlands, und deshalb ist es eine Torheit, zu glauben, Deutschland er¬
schwere Österreich-Ungarn die Wahrnehmung seiner Interessen im Orient.
Niemals konnte allerdings die Erweiterung der Machtstellung Österreich-
Ungarns im Südosten selbst der Gegenstand des deutsch-österreichischen Bünd¬
nisses sein, weil es seiner ganzen Natur nach ein Defensivbündnis war. Ebenso
wie der größte österreichische Staatsmann der letzten Jahrhunderte, Leopold
der Zweite, den mit Preußen geschlossenen Berliner Vertrag, der das euro¬
päische Gleichgewicht wieder herstellen sollte, nur als ein rein defensives
Bündnis auffaßte, und wie dieses in dein Augenblicke zerfiel, wo Preußen dein
Vertrag eine aggressive Absicht unterschob, so konnte der von Bismarck und
Andrassy gewallte Zweck des deutsch-österreichischen Bündnisses nur dann erreicht
werden, wenn es den Charakter eines reinen Verteidigungsbündnisses erhielt
und bewahrte. Ein Verzicht Österreich-Ungarns auf die Wahrnehmung seiner
orientalischen Interessen war damit keinswegs ausgesprochen, sondern die
Orientpolitik der Monarchie nur ans den viel aussichtsvollern Weg moralisch-
politischer Eroberungen verwiesen, deu sie umso eher hätte betreten können, als
das deutsch-österreichische Bündnis Rußland zwang, im Orient die Waffen aus
der Hand zu legen.

Woher es kam, daß Österreich-Ungarn diesen Weg friedlicher Eroberungen
nicht betrat, ist schon vorher erläutert lvorden; daß es so kam, ist jedoch nicht
die Schuld Deutschlands, das es im Gegenteil tief bedauern muß, daß die


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[0344] Die orientalische Frage Haupt um der orientalischen Frage interessiert ist, und ob, wenn das der Fall ist, sein Interesse sich mit dem Österreich-Ungarns deckt. Von den Gegnern des deutsch-österreichischen Bündnisses wird gewöhnlich Bismarcks Wort von den Knochen des pommerschen Grenadiers zitiert, jedoch herausgerissen aus dem ganzen Zusammenhang seiner damaligen Rede. In der Tat hat Bis- mnrck nie behauptet, daß es Deutschland völlig gleichgiltig sei, was da drunten tief in der Türkei vorgehe, sondern nur erklärt, daß die konfessionellen Fragen im Orient, die Interessen der „christlichen Brüder" auf der Balkanhnlbinsel für Deutschland keine Sache seien, auch nur die Knochen eines pommerschen Grenadiers darau zu setzen. Nicht gleichgiltig ist aber Deutschland die Ent¬ wicklung der Beziehungen der an der orientalischen Frage beteiligten Gro߬ mächte zu dem Auflösungsprozeß des türkischen Reiches. Wenn auch nur mittelbar, nimmt es daran dasselbe Interesse, das schon im achtzehnten Jahr¬ hundert Friedrich deu Großen veranlaßte, das wachsende Übergewicht Ru߬ lands schwer zu empfinden, das Kaunitz veranlaßte, nach einer Einigung aller Deutschen zu seufzen, und Felix Schwarzenberg von einem mitteleuro¬ päischen Siebzigmillionenreich zu träumen, das stark genug wäre, die beideu großen revolutionären Mächte Europas, Frankreich und Rußland, in Schach zu halten. Ans diesem, Deutschland und Österreich-Ungarn gemeinsamen Interesse ist schließlich das deutsch-österreichische Bündnis erwachsen, das das seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges erschütterte europäische Gleich¬ gewicht wiederhergestellt hat, und dessen Grundlage die Sicherung des großen strategischen Dreiecks zwischen der Elbmündung, der Adrici und den Donau- mündungen ist. Diese Basis fortgesetzt zu verstärken liegt im eignen Vorteil Deutschlands, und deshalb ist es eine Torheit, zu glauben, Deutschland er¬ schwere Österreich-Ungarn die Wahrnehmung seiner Interessen im Orient. Niemals konnte allerdings die Erweiterung der Machtstellung Österreich- Ungarns im Südosten selbst der Gegenstand des deutsch-österreichischen Bünd¬ nisses sein, weil es seiner ganzen Natur nach ein Defensivbündnis war. Ebenso wie der größte österreichische Staatsmann der letzten Jahrhunderte, Leopold der Zweite, den mit Preußen geschlossenen Berliner Vertrag, der das euro¬ päische Gleichgewicht wieder herstellen sollte, nur als ein rein defensives Bündnis auffaßte, und wie dieses in dein Augenblicke zerfiel, wo Preußen dein Vertrag eine aggressive Absicht unterschob, so konnte der von Bismarck und Andrassy gewallte Zweck des deutsch-österreichischen Bündnisses nur dann erreicht werden, wenn es den Charakter eines reinen Verteidigungsbündnisses erhielt und bewahrte. Ein Verzicht Österreich-Ungarns auf die Wahrnehmung seiner orientalischen Interessen war damit keinswegs ausgesprochen, sondern die Orientpolitik der Monarchie nur ans den viel aussichtsvollern Weg moralisch- politischer Eroberungen verwiesen, deu sie umso eher hätte betreten können, als das deutsch-österreichische Bündnis Rußland zwang, im Orient die Waffen aus der Hand zu legen. Woher es kam, daß Österreich-Ungarn diesen Weg friedlicher Eroberungen nicht betrat, ist schon vorher erläutert lvorden; daß es so kam, ist jedoch nicht die Schuld Deutschlands, das es im Gegenteil tief bedauern muß, daß die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/344>, abgerufen am 24.11.2024.