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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Tolstoi

Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken. Auch Graf Bülow
ist mit den größern Aufgaben, als ihm in der schönen Behaglichkeit des
Palazzo Cnffarelli gestellt waren, gewachsen, er ist als Reichskanzler zum ge¬
wandten Debatter geworden, und Nur zweifeln nicht, daß die folgenden Bände
seiner Reden das noch in Höheren Grade zeigen werden. Möge sich die Zahl
dieser Bände noch in stattlicher Jahresreihe verlängern. Bei dein wahren
Staatsmann soll jede Rede eine Handlung, nicht jedes Handeln eine Rede
sein. Graf Bülow hat eher zu wenig und zu selten als zu viel und zu oft
gesprochen, man empfand wiederholt die Notwendigkeit, er solle nicht nur den
nationalen Gedanken, sondern auch den Reichskanzler etwas mehr vor Europa
leuchten lassen. Den vorliegenden Band wird somit auch der mit Befriedigung
in die Bücherei stellen, der an kanzlcrische Reden den strengen Schillerschen
Maßstab legt:

Wilh er weise verschweigt, zeigt mir den Meister des Stils.




Tolstoi

co N. Tolstoi gilt gegenwärtig als der am meisten gelesene Schrift¬
steller; man hat ausgerechnet, daß seine Werke über Rußland in
reichlich sechs Millionen Bänden verbreitet sind, wozu noch min¬
destens 600000 Bünde an Übersetzungen komme". Die von Eugen
Diederichs in Leipzig begonnene gut übersetzte und ansprechend
ausgestattete Gesamtausgabe wird 13 Bunde sozialethischer, 4 theologischer und
19 rvmanartiger Schriften, in allein 86 Bände umfassen, also eine ganze
Bibliothek. Fragt man, worauf der beispiellose Erfolg beruht, so hat daran
jedenfalls die zweite Abteilung den geringsten Anteil, denn den frommen Heiden
über die Evangelien und die christliche Glaubenslehre reden zu höre", kaun
schwerlich noch einen eigentümlichen Reiz gewähren, da die Menge ähnlicher
Literatur schier unübersehbar ist. Ohnehin ist die Abhandlung, namentlich wenn
sie die wissenschaftliche Form hervorkehrt, seine schwächste Seite, er bleibt immer
Autodidakt, das Dilettantische hängt ihm an, er bringt keine neuen Gesichts¬
punkte und ermüdet durch weitschweifende Wiederholungen. Überhaupt darf
wohl einmal ausgesprochen werden, daß unter allen bedeutenden Schriftstellern
Tolstoi am wenigsten die Gabe hat, sich konzentriert auszudrücken, auf die man
doch sonst gerade in unsrer Zeit einen so großen Wert legt. Hiervon machen
allein eine Ausnahme seine kleinen Volkszählungen wie der Tod des Iwan
Jlitsch oder der Morgen des Gutsherrn, die ohne Frage, künstlerisch angesehen,
seine besten Leistungen sind; von den größern zeichnet sich selbstverständlich
Anna Karenina durch kräftige Schilderung ans, wogegen die vielgepriesene
"Auferstehung" nur noch in ihren ersten Partien lesbar, durch den Zusatz von
Selbsterlebtem pikant, sittengeschichtlich merkwürdig, aber als Ganzes verunglückt
und durchaus unkünstlerisch ist, ein Alterswerk abnehmender Kräfte, wie man


Tolstoi

Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken. Auch Graf Bülow
ist mit den größern Aufgaben, als ihm in der schönen Behaglichkeit des
Palazzo Cnffarelli gestellt waren, gewachsen, er ist als Reichskanzler zum ge¬
wandten Debatter geworden, und Nur zweifeln nicht, daß die folgenden Bände
seiner Reden das noch in Höheren Grade zeigen werden. Möge sich die Zahl
dieser Bände noch in stattlicher Jahresreihe verlängern. Bei dein wahren
Staatsmann soll jede Rede eine Handlung, nicht jedes Handeln eine Rede
sein. Graf Bülow hat eher zu wenig und zu selten als zu viel und zu oft
gesprochen, man empfand wiederholt die Notwendigkeit, er solle nicht nur den
nationalen Gedanken, sondern auch den Reichskanzler etwas mehr vor Europa
leuchten lassen. Den vorliegenden Band wird somit auch der mit Befriedigung
in die Bücherei stellen, der an kanzlcrische Reden den strengen Schillerschen
Maßstab legt:

Wilh er weise verschweigt, zeigt mir den Meister des Stils.




Tolstoi

co N. Tolstoi gilt gegenwärtig als der am meisten gelesene Schrift¬
steller; man hat ausgerechnet, daß seine Werke über Rußland in
reichlich sechs Millionen Bänden verbreitet sind, wozu noch min¬
destens 600000 Bünde an Übersetzungen komme». Die von Eugen
Diederichs in Leipzig begonnene gut übersetzte und ansprechend
ausgestattete Gesamtausgabe wird 13 Bunde sozialethischer, 4 theologischer und
19 rvmanartiger Schriften, in allein 86 Bände umfassen, also eine ganze
Bibliothek. Fragt man, worauf der beispiellose Erfolg beruht, so hat daran
jedenfalls die zweite Abteilung den geringsten Anteil, denn den frommen Heiden
über die Evangelien und die christliche Glaubenslehre reden zu höre», kaun
schwerlich noch einen eigentümlichen Reiz gewähren, da die Menge ähnlicher
Literatur schier unübersehbar ist. Ohnehin ist die Abhandlung, namentlich wenn
sie die wissenschaftliche Form hervorkehrt, seine schwächste Seite, er bleibt immer
Autodidakt, das Dilettantische hängt ihm an, er bringt keine neuen Gesichts¬
punkte und ermüdet durch weitschweifende Wiederholungen. Überhaupt darf
wohl einmal ausgesprochen werden, daß unter allen bedeutenden Schriftstellern
Tolstoi am wenigsten die Gabe hat, sich konzentriert auszudrücken, auf die man
doch sonst gerade in unsrer Zeit einen so großen Wert legt. Hiervon machen
allein eine Ausnahme seine kleinen Volkszählungen wie der Tod des Iwan
Jlitsch oder der Morgen des Gutsherrn, die ohne Frage, künstlerisch angesehen,
seine besten Leistungen sind; von den größern zeichnet sich selbstverständlich
Anna Karenina durch kräftige Schilderung ans, wogegen die vielgepriesene
„Auferstehung" nur noch in ihren ersten Partien lesbar, durch den Zusatz von
Selbsterlebtem pikant, sittengeschichtlich merkwürdig, aber als Ganzes verunglückt
und durchaus unkünstlerisch ist, ein Alterswerk abnehmender Kräfte, wie man


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[0032] Tolstoi Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken. Auch Graf Bülow ist mit den größern Aufgaben, als ihm in der schönen Behaglichkeit des Palazzo Cnffarelli gestellt waren, gewachsen, er ist als Reichskanzler zum ge¬ wandten Debatter geworden, und Nur zweifeln nicht, daß die folgenden Bände seiner Reden das noch in Höheren Grade zeigen werden. Möge sich die Zahl dieser Bände noch in stattlicher Jahresreihe verlängern. Bei dein wahren Staatsmann soll jede Rede eine Handlung, nicht jedes Handeln eine Rede sein. Graf Bülow hat eher zu wenig und zu selten als zu viel und zu oft gesprochen, man empfand wiederholt die Notwendigkeit, er solle nicht nur den nationalen Gedanken, sondern auch den Reichskanzler etwas mehr vor Europa leuchten lassen. Den vorliegenden Band wird somit auch der mit Befriedigung in die Bücherei stellen, der an kanzlcrische Reden den strengen Schillerschen Maßstab legt: Wilh er weise verschweigt, zeigt mir den Meister des Stils. Tolstoi co N. Tolstoi gilt gegenwärtig als der am meisten gelesene Schrift¬ steller; man hat ausgerechnet, daß seine Werke über Rußland in reichlich sechs Millionen Bänden verbreitet sind, wozu noch min¬ destens 600000 Bünde an Übersetzungen komme». Die von Eugen Diederichs in Leipzig begonnene gut übersetzte und ansprechend ausgestattete Gesamtausgabe wird 13 Bunde sozialethischer, 4 theologischer und 19 rvmanartiger Schriften, in allein 86 Bände umfassen, also eine ganze Bibliothek. Fragt man, worauf der beispiellose Erfolg beruht, so hat daran jedenfalls die zweite Abteilung den geringsten Anteil, denn den frommen Heiden über die Evangelien und die christliche Glaubenslehre reden zu höre», kaun schwerlich noch einen eigentümlichen Reiz gewähren, da die Menge ähnlicher Literatur schier unübersehbar ist. Ohnehin ist die Abhandlung, namentlich wenn sie die wissenschaftliche Form hervorkehrt, seine schwächste Seite, er bleibt immer Autodidakt, das Dilettantische hängt ihm an, er bringt keine neuen Gesichts¬ punkte und ermüdet durch weitschweifende Wiederholungen. Überhaupt darf wohl einmal ausgesprochen werden, daß unter allen bedeutenden Schriftstellern Tolstoi am wenigsten die Gabe hat, sich konzentriert auszudrücken, auf die man doch sonst gerade in unsrer Zeit einen so großen Wert legt. Hiervon machen allein eine Ausnahme seine kleinen Volkszählungen wie der Tod des Iwan Jlitsch oder der Morgen des Gutsherrn, die ohne Frage, künstlerisch angesehen, seine besten Leistungen sind; von den größern zeichnet sich selbstverständlich Anna Karenina durch kräftige Schilderung ans, wogegen die vielgepriesene „Auferstehung" nur noch in ihren ersten Partien lesbar, durch den Zusatz von Selbsterlebtem pikant, sittengeschichtlich merkwürdig, aber als Ganzes verunglückt und durchaus unkünstlerisch ist, ein Alterswerk abnehmender Kräfte, wie man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/32>, abgerufen am 22.11.2024.