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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

werter, uns Kinder tief ergreifender Darstellung eingeprägt wurde. Das erste
Erscheinen der Cimbern und Teutonen, Hermann der Cherusker, die Varusschlacht
im Teutoburger Walde, Chlodwig und Karl Martell, Pipin von Heristal und Pipin
der Kleine, Karl der Große und die Bekämpfung der Sachsen, seine Krönung in
Rom, seine Verdienste um die Schule, Karls Söhne, der Vertrag von Verdun
und die Gestaltung Deutschlands unter Ludwig dem Deutschen, aber auch die Ge¬
schichte der spätem deutschen Kaiser, insbesondre die des Städtegründers Heinrich,
seine Kämpfe wider die Ungarn, seine Verdienste um die Städte und das Bürger¬
tum, natürlich auch seine und Ottos des Großen Beziehungen zu Stadt und Stift
Quedlinburg, die Hohenstnnfen, Rudolf von Habsburg und später Maximilian der
Erste und viele andre, kurz die bedeutendsten Gestalten der deutschen Geschichte
stehn mir in der Hauptsache noch heute so vor Augen, wie sie uns vor länger als
fünfzig Jnhreu zwar in einfacher, aber Geist und Gemüt der Kinder fesselnder
Form dargestellt worden sind. Heinrich den Vierten, seine Kämpfe gegen Gregor,
die Kreuzzüge, die Grundzüge der Reformationsgeschichte und die Geschichte der Ent¬
deckungen im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, das alles habe ich damals im
wesentlichen so gelernt und in mich aufgenommen, wie ich es -- unbeschadet späterer
Ergänzung und Ausgestaltung -- in den Grundgedanken noch heute festhalte.

Mir selbst ist das oft wunderbar erschienen, und ich habe es nicht an wieder¬
holter, eingehender Prüfung fehlen lassen, ob das psychologisch möglich sei, und ob
uicht vielleicht der poetische Zunder jugendlicher Erinnerung dabei eine gewisse
Selbsttäuschung herbeigeführt habe. Aber ich bin, je älter ich geworden bin, desto
mehr zu der Gewißheit gelangt, daß ich mich nicht täusche. Ich sehe darin viel¬
mehr auch bei der nüchternsten Erwägung deu untrüglichen Beweis dafür, daß uus
die vaterländische Geschichte von unserm trefflichen Lehrer nicht bloß mit beredten
Lippen, sondern aus einem warmen, begeisterten Herzen heraus gelehrt worden ist.
Das war der gesunde, deutsche Idealismus, der den schlichten, einfachen Volksschul-
lehrer in der Ausübung seines Berufs über die elenden Nöte, unter denen er zu
leiden hatte, weit hinaushob und ihn befähigte, Geist und Gemüt der Kinder zu
Packen und ihnen unvergeßliche, für ihr Leben wirksame Eindrücke zu vermitteln.
Ich bin dafür um so dankbarer, als gerade diese wichtigsten Zeiten deutscher Ge¬
schichte mir während meiner ganzen Gymnasialzeit -- kaum glaublich, aber wahr --
niemals wieder im Zusammenhang gelehrt worden sind. Welche Macht übt ein
rechter Lehrer, auch der Lehrer der Volksschule, ja gerade er auf unser Volk aus'
Wie unberechenbar weit wirkt er in die Zukunft hinein! Welche Kurzsichtigkeit,
das acht zu würdigen! -" ^ '

Eine besondre Vorschule für das Gymnasium gab es damals noch nicht. Die
Kunden, die später das Gymnasium besuchen sollten, wurden in die einfache Volks¬
schule geschickt und blieben dort so lange, bis sie für die Sexta des Gymnasiums
reif waren. Ich habe das immer als einen wahren Segen empfunden, daß wir
dort mit Jungen aus alle" Schichten der Bevölkerung auf derselben Bank saßen
und mit ihnen auf gleichem Fuß verkehrten, mit den Kindern der armen Familien
so gut wie mit denen der wohlhabenden.

Mit einigen Jungen aus Arbeiter- und Haudwerkerfnmilieu hatten wir much
außer der Schule vollkommen freundschaftlichen Umgang. Ich weiß keinen einzigen
Nachteil zu nennen, der mir daraus erwachsen wäre. Wohl aber habe ich ans
diesem Verkehr manche reine Freude und manchen Einblick in die häuslichen und
Erwerbsverhältnisse vou Arbeiter-, Handwerker- und kleinen Beamtenfamilien ge¬
wonnen, der mir sonst entgangen wäre.

" Ich kann die Nachwirkungen dieses Verkehrs und der dabei empfangner Ein¬
drucke durch mein ganzes Leben verfolgen. Mau muß die Verhältnisse der ärmern
su i v ""^ eigner Anschauung kennen, daß man sie ganz verstehn und für die
I^Micr und wirtschaftlichen Anschauungen, Wünsche und Bestrebungen dieser Klassen
s rechte Interesse und einen sachlich zutreffenden Maßstab gewinnen lernt.


Aus der Jugendzeit

werter, uns Kinder tief ergreifender Darstellung eingeprägt wurde. Das erste
Erscheinen der Cimbern und Teutonen, Hermann der Cherusker, die Varusschlacht
im Teutoburger Walde, Chlodwig und Karl Martell, Pipin von Heristal und Pipin
der Kleine, Karl der Große und die Bekämpfung der Sachsen, seine Krönung in
Rom, seine Verdienste um die Schule, Karls Söhne, der Vertrag von Verdun
und die Gestaltung Deutschlands unter Ludwig dem Deutschen, aber auch die Ge¬
schichte der spätem deutschen Kaiser, insbesondre die des Städtegründers Heinrich,
seine Kämpfe wider die Ungarn, seine Verdienste um die Städte und das Bürger¬
tum, natürlich auch seine und Ottos des Großen Beziehungen zu Stadt und Stift
Quedlinburg, die Hohenstnnfen, Rudolf von Habsburg und später Maximilian der
Erste und viele andre, kurz die bedeutendsten Gestalten der deutschen Geschichte
stehn mir in der Hauptsache noch heute so vor Augen, wie sie uns vor länger als
fünfzig Jnhreu zwar in einfacher, aber Geist und Gemüt der Kinder fesselnder
Form dargestellt worden sind. Heinrich den Vierten, seine Kämpfe gegen Gregor,
die Kreuzzüge, die Grundzüge der Reformationsgeschichte und die Geschichte der Ent¬
deckungen im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, das alles habe ich damals im
wesentlichen so gelernt und in mich aufgenommen, wie ich es — unbeschadet späterer
Ergänzung und Ausgestaltung — in den Grundgedanken noch heute festhalte.

Mir selbst ist das oft wunderbar erschienen, und ich habe es nicht an wieder¬
holter, eingehender Prüfung fehlen lassen, ob das psychologisch möglich sei, und ob
uicht vielleicht der poetische Zunder jugendlicher Erinnerung dabei eine gewisse
Selbsttäuschung herbeigeführt habe. Aber ich bin, je älter ich geworden bin, desto
mehr zu der Gewißheit gelangt, daß ich mich nicht täusche. Ich sehe darin viel¬
mehr auch bei der nüchternsten Erwägung deu untrüglichen Beweis dafür, daß uus
die vaterländische Geschichte von unserm trefflichen Lehrer nicht bloß mit beredten
Lippen, sondern aus einem warmen, begeisterten Herzen heraus gelehrt worden ist.
Das war der gesunde, deutsche Idealismus, der den schlichten, einfachen Volksschul-
lehrer in der Ausübung seines Berufs über die elenden Nöte, unter denen er zu
leiden hatte, weit hinaushob und ihn befähigte, Geist und Gemüt der Kinder zu
Packen und ihnen unvergeßliche, für ihr Leben wirksame Eindrücke zu vermitteln.
Ich bin dafür um so dankbarer, als gerade diese wichtigsten Zeiten deutscher Ge¬
schichte mir während meiner ganzen Gymnasialzeit — kaum glaublich, aber wahr —
niemals wieder im Zusammenhang gelehrt worden sind. Welche Macht übt ein
rechter Lehrer, auch der Lehrer der Volksschule, ja gerade er auf unser Volk aus'
Wie unberechenbar weit wirkt er in die Zukunft hinein! Welche Kurzsichtigkeit,
das acht zu würdigen! -» ^ '

Eine besondre Vorschule für das Gymnasium gab es damals noch nicht. Die
Kunden, die später das Gymnasium besuchen sollten, wurden in die einfache Volks¬
schule geschickt und blieben dort so lange, bis sie für die Sexta des Gymnasiums
reif waren. Ich habe das immer als einen wahren Segen empfunden, daß wir
dort mit Jungen aus alle» Schichten der Bevölkerung auf derselben Bank saßen
und mit ihnen auf gleichem Fuß verkehrten, mit den Kindern der armen Familien
so gut wie mit denen der wohlhabenden.

Mit einigen Jungen aus Arbeiter- und Haudwerkerfnmilieu hatten wir much
außer der Schule vollkommen freundschaftlichen Umgang. Ich weiß keinen einzigen
Nachteil zu nennen, der mir daraus erwachsen wäre. Wohl aber habe ich ans
diesem Verkehr manche reine Freude und manchen Einblick in die häuslichen und
Erwerbsverhältnisse vou Arbeiter-, Handwerker- und kleinen Beamtenfamilien ge¬
wonnen, der mir sonst entgangen wäre.

„ Ich kann die Nachwirkungen dieses Verkehrs und der dabei empfangner Ein¬
drucke durch mein ganzes Leben verfolgen. Mau muß die Verhältnisse der ärmern
su i v ""^ eigner Anschauung kennen, daß man sie ganz verstehn und für die
I^Micr und wirtschaftlichen Anschauungen, Wünsche und Bestrebungen dieser Klassen
s rechte Interesse und einen sachlich zutreffenden Maßstab gewinnen lernt.


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[0307] Aus der Jugendzeit werter, uns Kinder tief ergreifender Darstellung eingeprägt wurde. Das erste Erscheinen der Cimbern und Teutonen, Hermann der Cherusker, die Varusschlacht im Teutoburger Walde, Chlodwig und Karl Martell, Pipin von Heristal und Pipin der Kleine, Karl der Große und die Bekämpfung der Sachsen, seine Krönung in Rom, seine Verdienste um die Schule, Karls Söhne, der Vertrag von Verdun und die Gestaltung Deutschlands unter Ludwig dem Deutschen, aber auch die Ge¬ schichte der spätem deutschen Kaiser, insbesondre die des Städtegründers Heinrich, seine Kämpfe wider die Ungarn, seine Verdienste um die Städte und das Bürger¬ tum, natürlich auch seine und Ottos des Großen Beziehungen zu Stadt und Stift Quedlinburg, die Hohenstnnfen, Rudolf von Habsburg und später Maximilian der Erste und viele andre, kurz die bedeutendsten Gestalten der deutschen Geschichte stehn mir in der Hauptsache noch heute so vor Augen, wie sie uns vor länger als fünfzig Jnhreu zwar in einfacher, aber Geist und Gemüt der Kinder fesselnder Form dargestellt worden sind. Heinrich den Vierten, seine Kämpfe gegen Gregor, die Kreuzzüge, die Grundzüge der Reformationsgeschichte und die Geschichte der Ent¬ deckungen im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, das alles habe ich damals im wesentlichen so gelernt und in mich aufgenommen, wie ich es — unbeschadet späterer Ergänzung und Ausgestaltung — in den Grundgedanken noch heute festhalte. Mir selbst ist das oft wunderbar erschienen, und ich habe es nicht an wieder¬ holter, eingehender Prüfung fehlen lassen, ob das psychologisch möglich sei, und ob uicht vielleicht der poetische Zunder jugendlicher Erinnerung dabei eine gewisse Selbsttäuschung herbeigeführt habe. Aber ich bin, je älter ich geworden bin, desto mehr zu der Gewißheit gelangt, daß ich mich nicht täusche. Ich sehe darin viel¬ mehr auch bei der nüchternsten Erwägung deu untrüglichen Beweis dafür, daß uus die vaterländische Geschichte von unserm trefflichen Lehrer nicht bloß mit beredten Lippen, sondern aus einem warmen, begeisterten Herzen heraus gelehrt worden ist. Das war der gesunde, deutsche Idealismus, der den schlichten, einfachen Volksschul- lehrer in der Ausübung seines Berufs über die elenden Nöte, unter denen er zu leiden hatte, weit hinaushob und ihn befähigte, Geist und Gemüt der Kinder zu Packen und ihnen unvergeßliche, für ihr Leben wirksame Eindrücke zu vermitteln. Ich bin dafür um so dankbarer, als gerade diese wichtigsten Zeiten deutscher Ge¬ schichte mir während meiner ganzen Gymnasialzeit — kaum glaublich, aber wahr — niemals wieder im Zusammenhang gelehrt worden sind. Welche Macht übt ein rechter Lehrer, auch der Lehrer der Volksschule, ja gerade er auf unser Volk aus' Wie unberechenbar weit wirkt er in die Zukunft hinein! Welche Kurzsichtigkeit, das acht zu würdigen! -» ^ ' Eine besondre Vorschule für das Gymnasium gab es damals noch nicht. Die Kunden, die später das Gymnasium besuchen sollten, wurden in die einfache Volks¬ schule geschickt und blieben dort so lange, bis sie für die Sexta des Gymnasiums reif waren. Ich habe das immer als einen wahren Segen empfunden, daß wir dort mit Jungen aus alle» Schichten der Bevölkerung auf derselben Bank saßen und mit ihnen auf gleichem Fuß verkehrten, mit den Kindern der armen Familien so gut wie mit denen der wohlhabenden. Mit einigen Jungen aus Arbeiter- und Haudwerkerfnmilieu hatten wir much außer der Schule vollkommen freundschaftlichen Umgang. Ich weiß keinen einzigen Nachteil zu nennen, der mir daraus erwachsen wäre. Wohl aber habe ich ans diesem Verkehr manche reine Freude und manchen Einblick in die häuslichen und Erwerbsverhältnisse vou Arbeiter-, Handwerker- und kleinen Beamtenfamilien ge¬ wonnen, der mir sonst entgangen wäre. „ Ich kann die Nachwirkungen dieses Verkehrs und der dabei empfangner Ein¬ drucke durch mein ganzes Leben verfolgen. Mau muß die Verhältnisse der ärmern su i v ""^ eigner Anschauung kennen, daß man sie ganz verstehn und für die I^Micr und wirtschaftlichen Anschauungen, Wünsche und Bestrebungen dieser Klassen s rechte Interesse und einen sachlich zutreffenden Maßstab gewinnen lernt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/307>, abgerufen am 24.11.2024.