Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus der Jugendzeit

sonnenhellen Herbsttage durch den schönen Schloßgarten hinauf nach der Schloßkirche
bewegte, der Bräutigam in großer Galauniform mit hohen Stiefeln und weißen
ledernen Beinkleidern, neben ihm meine ungewöhnlich hübsche Schwester Julie im
weißen Brautkleide und Myrtenschmuck, und hinter ihnen der lange, festliche Hoch¬
zeitszug. Damals habe ich zum erstenmal die Ahnung eines poetischen Eindrucks
von einer lebensvollen Festfeier bekommen. Freilich stach dagegen die Prosa des
von den: unruhigen, alltäglichen Geschäftsverkehr durchfluteten Vaterhauses in Quedlin¬
burg grell genug ab.

In meinen spätern Jugendjahren habe ich während der Schulferien im grünen
Hause vor Ballenstedt oft sehr glückliche Tage verlebt. Wenn Onkel und Tante
Bornemann mich für einige Tage zu sich einluden, dann wanderte ich mutterseelen¬
allein, aber fröhlich durch die stillen Felder von Quedlinburg über den Bicklinger
Turm nach dem Zehling. So hieß eine Fasanerie und große Obstplantage unter
dem Gegensteine, einem Stück der Teufelsmauer. Vou der Höhe des Zehlings
konnte ich dann das grüne Haus schon liegen sehen. Das Nachtzeug brachte mir
die Botenfrau mit, die an zwei Tagen der Woche regelmäßig von Ballenstedt nach
Quedlinburg und zurück ging. Das grüne Haus war für mich das Ideal einer
mit Geschmack eingerichteten, harmonischen und poetischen Wohnung. Meine Ver¬
wandten waren wohlhabend, der Onkel ein schöner, geistvoller und gebildeter Mann
mit weltmännischen Manieren, die Tante etwas peinlich, aber gegen mich voll
liebenswürdiger Freundlichkeit, ihr ganzer Haushalt ein Muster sauberer Akkuratesse
und eleganter Behaglichkeit. Der Onkel nahm mich dann mit durch die ihm unter¬
stellten herzoglichen Gärten und Obstplantagcn und erzählte dabei von seinen Reisen
-- er hatte zu seiner Ausbildung einige Jahre in Holland und Frankreich ge¬
lebt --, und die Tante suchte mich äußerlich ein wenig mehr zuzustutzen, als es
zuhause üblich war. Ich ließ mir das gern gefallen und fühlte mich dort immer
ungemein Wohl. Wenn ich nach Quedlinburg zurück mußte, so hatte ich regelmäßig
einige Tage laug förmliches Heimweh nach Ballenstedt. Davon durfte ich mir
freilich zuhause nichts merken lassen. Aber ich habe, so schnell nach der Art der
Jugend und bei meinem lebhaften Temperament diese Heimwehstimmung auch wieder
verflog, damals oft das klare Bewußtsein gehabt, daß ich mich im grünen Hause
glücklicher fühlte als im väterlichen. Gewiß hätte es nicht so sein sollen. Die
Schuld lag aber doch nicht bloß auf meiner Seite. Das unruhige, geschäftliche
Treiben und Haften im Elternhause trat so stark in den Vordergrund, daß wir
kaum jemals traulich zu deu Eltern flüchte" und unsre kleinen Anliege" vor ihnen
ausschütten konnten. Die schöne, stille, idyllische Harmonie des Zusammenlebens,
die ich im grünen Hause fand, suchte ich daheim nur zu oft vergebens.

Zuweilen durfte ich die Ferien auch in Gernrode im Hanse der überaus lieb¬
reichen jüngern Schwester meiner verstorbnen Mutter verleben. Onkel Sobbe, ihr
Mann, war Bürgermeister und besaß dort ein schön gelegnes, großes, ertragreiches
Landgut, das er selbst bewirtschaftete. Auch dort habe ich mich als Kind immer
sehr wohl gefühlt. Das Leben war hier freier, ungezwungner und in gewisser
Hinsicht großartiger als in Ballenstedt. Der große, überaus wohlhäbige Sobbische
Haushalt war ungemein gastlich. Das Haus wurde kaum leer von Besuch. In
dem viele Morgen großen Garten konnten wir uns nach Herzenslust austoben,
auf die Bäume klettern, von dem im Überfluß vorhandnen Obst aller Art soviel
essen, wie wir Lust hatten. Vor den Fenstern des Wohnhauses lag der Wiesen¬
hof, eine mit Hecken und Bäumen eingefaßte, von Bewässerungsgräben durchschnittne,
große Wiese, die ebenfalls zum Gute gehörte. Da wurden von uns Dämme gebaut
und Wasserrilleu gegraben, Vögel in Sprenkeln gefangen, Schalmeien ans frisch
abgeschälter Weidenriude hergestellt, kurz alle für einen Jungen erdenkliche Kurz¬
weil getrieben. Nachmittags gab es gemeinsame Spaziergänge in den nahen Wald,
bei denen draußen das mitgenommene Abendessen verzehrt, auch gesungen und ge¬
tanzt wurde. Der lebhafte Verkehr von Gästen aller Art im Sobbischen Hanse,


Aus der Jugendzeit

sonnenhellen Herbsttage durch den schönen Schloßgarten hinauf nach der Schloßkirche
bewegte, der Bräutigam in großer Galauniform mit hohen Stiefeln und weißen
ledernen Beinkleidern, neben ihm meine ungewöhnlich hübsche Schwester Julie im
weißen Brautkleide und Myrtenschmuck, und hinter ihnen der lange, festliche Hoch¬
zeitszug. Damals habe ich zum erstenmal die Ahnung eines poetischen Eindrucks
von einer lebensvollen Festfeier bekommen. Freilich stach dagegen die Prosa des
von den: unruhigen, alltäglichen Geschäftsverkehr durchfluteten Vaterhauses in Quedlin¬
burg grell genug ab.

In meinen spätern Jugendjahren habe ich während der Schulferien im grünen
Hause vor Ballenstedt oft sehr glückliche Tage verlebt. Wenn Onkel und Tante
Bornemann mich für einige Tage zu sich einluden, dann wanderte ich mutterseelen¬
allein, aber fröhlich durch die stillen Felder von Quedlinburg über den Bicklinger
Turm nach dem Zehling. So hieß eine Fasanerie und große Obstplantage unter
dem Gegensteine, einem Stück der Teufelsmauer. Vou der Höhe des Zehlings
konnte ich dann das grüne Haus schon liegen sehen. Das Nachtzeug brachte mir
die Botenfrau mit, die an zwei Tagen der Woche regelmäßig von Ballenstedt nach
Quedlinburg und zurück ging. Das grüne Haus war für mich das Ideal einer
mit Geschmack eingerichteten, harmonischen und poetischen Wohnung. Meine Ver¬
wandten waren wohlhabend, der Onkel ein schöner, geistvoller und gebildeter Mann
mit weltmännischen Manieren, die Tante etwas peinlich, aber gegen mich voll
liebenswürdiger Freundlichkeit, ihr ganzer Haushalt ein Muster sauberer Akkuratesse
und eleganter Behaglichkeit. Der Onkel nahm mich dann mit durch die ihm unter¬
stellten herzoglichen Gärten und Obstplantagcn und erzählte dabei von seinen Reisen
— er hatte zu seiner Ausbildung einige Jahre in Holland und Frankreich ge¬
lebt —, und die Tante suchte mich äußerlich ein wenig mehr zuzustutzen, als es
zuhause üblich war. Ich ließ mir das gern gefallen und fühlte mich dort immer
ungemein Wohl. Wenn ich nach Quedlinburg zurück mußte, so hatte ich regelmäßig
einige Tage laug förmliches Heimweh nach Ballenstedt. Davon durfte ich mir
freilich zuhause nichts merken lassen. Aber ich habe, so schnell nach der Art der
Jugend und bei meinem lebhaften Temperament diese Heimwehstimmung auch wieder
verflog, damals oft das klare Bewußtsein gehabt, daß ich mich im grünen Hause
glücklicher fühlte als im väterlichen. Gewiß hätte es nicht so sein sollen. Die
Schuld lag aber doch nicht bloß auf meiner Seite. Das unruhige, geschäftliche
Treiben und Haften im Elternhause trat so stark in den Vordergrund, daß wir
kaum jemals traulich zu deu Eltern flüchte» und unsre kleinen Anliege» vor ihnen
ausschütten konnten. Die schöne, stille, idyllische Harmonie des Zusammenlebens,
die ich im grünen Hause fand, suchte ich daheim nur zu oft vergebens.

Zuweilen durfte ich die Ferien auch in Gernrode im Hanse der überaus lieb¬
reichen jüngern Schwester meiner verstorbnen Mutter verleben. Onkel Sobbe, ihr
Mann, war Bürgermeister und besaß dort ein schön gelegnes, großes, ertragreiches
Landgut, das er selbst bewirtschaftete. Auch dort habe ich mich als Kind immer
sehr wohl gefühlt. Das Leben war hier freier, ungezwungner und in gewisser
Hinsicht großartiger als in Ballenstedt. Der große, überaus wohlhäbige Sobbische
Haushalt war ungemein gastlich. Das Haus wurde kaum leer von Besuch. In
dem viele Morgen großen Garten konnten wir uns nach Herzenslust austoben,
auf die Bäume klettern, von dem im Überfluß vorhandnen Obst aller Art soviel
essen, wie wir Lust hatten. Vor den Fenstern des Wohnhauses lag der Wiesen¬
hof, eine mit Hecken und Bäumen eingefaßte, von Bewässerungsgräben durchschnittne,
große Wiese, die ebenfalls zum Gute gehörte. Da wurden von uns Dämme gebaut
und Wasserrilleu gegraben, Vögel in Sprenkeln gefangen, Schalmeien ans frisch
abgeschälter Weidenriude hergestellt, kurz alle für einen Jungen erdenkliche Kurz¬
weil getrieben. Nachmittags gab es gemeinsame Spaziergänge in den nahen Wald,
bei denen draußen das mitgenommene Abendessen verzehrt, auch gesungen und ge¬
tanzt wurde. Der lebhafte Verkehr von Gästen aller Art im Sobbischen Hanse,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0302" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241516"/>
            <fw type="header" place="top"> Aus der Jugendzeit</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1188" prev="#ID_1187"> sonnenhellen Herbsttage durch den schönen Schloßgarten hinauf nach der Schloßkirche<lb/>
bewegte, der Bräutigam in großer Galauniform mit hohen Stiefeln und weißen<lb/>
ledernen Beinkleidern, neben ihm meine ungewöhnlich hübsche Schwester Julie im<lb/>
weißen Brautkleide und Myrtenschmuck, und hinter ihnen der lange, festliche Hoch¬<lb/>
zeitszug. Damals habe ich zum erstenmal die Ahnung eines poetischen Eindrucks<lb/>
von einer lebensvollen Festfeier bekommen. Freilich stach dagegen die Prosa des<lb/>
von den: unruhigen, alltäglichen Geschäftsverkehr durchfluteten Vaterhauses in Quedlin¬<lb/>
burg grell genug ab.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1189"> In meinen spätern Jugendjahren habe ich während der Schulferien im grünen<lb/>
Hause vor Ballenstedt oft sehr glückliche Tage verlebt. Wenn Onkel und Tante<lb/>
Bornemann mich für einige Tage zu sich einluden, dann wanderte ich mutterseelen¬<lb/>
allein, aber fröhlich durch die stillen Felder von Quedlinburg über den Bicklinger<lb/>
Turm nach dem Zehling. So hieß eine Fasanerie und große Obstplantage unter<lb/>
dem Gegensteine, einem Stück der Teufelsmauer. Vou der Höhe des Zehlings<lb/>
konnte ich dann das grüne Haus schon liegen sehen. Das Nachtzeug brachte mir<lb/>
die Botenfrau mit, die an zwei Tagen der Woche regelmäßig von Ballenstedt nach<lb/>
Quedlinburg und zurück ging. Das grüne Haus war für mich das Ideal einer<lb/>
mit Geschmack eingerichteten, harmonischen und poetischen Wohnung. Meine Ver¬<lb/>
wandten waren wohlhabend, der Onkel ein schöner, geistvoller und gebildeter Mann<lb/>
mit weltmännischen Manieren, die Tante etwas peinlich, aber gegen mich voll<lb/>
liebenswürdiger Freundlichkeit, ihr ganzer Haushalt ein Muster sauberer Akkuratesse<lb/>
und eleganter Behaglichkeit. Der Onkel nahm mich dann mit durch die ihm unter¬<lb/>
stellten herzoglichen Gärten und Obstplantagcn und erzählte dabei von seinen Reisen<lb/>
&#x2014; er hatte zu seiner Ausbildung einige Jahre in Holland und Frankreich ge¬<lb/>
lebt &#x2014;, und die Tante suchte mich äußerlich ein wenig mehr zuzustutzen, als es<lb/>
zuhause üblich war. Ich ließ mir das gern gefallen und fühlte mich dort immer<lb/>
ungemein Wohl. Wenn ich nach Quedlinburg zurück mußte, so hatte ich regelmäßig<lb/>
einige Tage laug förmliches Heimweh nach Ballenstedt. Davon durfte ich mir<lb/>
freilich zuhause nichts merken lassen. Aber ich habe, so schnell nach der Art der<lb/>
Jugend und bei meinem lebhaften Temperament diese Heimwehstimmung auch wieder<lb/>
verflog, damals oft das klare Bewußtsein gehabt, daß ich mich im grünen Hause<lb/>
glücklicher fühlte als im väterlichen. Gewiß hätte es nicht so sein sollen. Die<lb/>
Schuld lag aber doch nicht bloß auf meiner Seite. Das unruhige, geschäftliche<lb/>
Treiben und Haften im Elternhause trat so stark in den Vordergrund, daß wir<lb/>
kaum jemals traulich zu deu Eltern flüchte» und unsre kleinen Anliege» vor ihnen<lb/>
ausschütten konnten. Die schöne, stille, idyllische Harmonie des Zusammenlebens,<lb/>
die ich im grünen Hause fand, suchte ich daheim nur zu oft vergebens.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1190" next="#ID_1191"> Zuweilen durfte ich die Ferien auch in Gernrode im Hanse der überaus lieb¬<lb/>
reichen jüngern Schwester meiner verstorbnen Mutter verleben. Onkel Sobbe, ihr<lb/>
Mann, war Bürgermeister und besaß dort ein schön gelegnes, großes, ertragreiches<lb/>
Landgut, das er selbst bewirtschaftete. Auch dort habe ich mich als Kind immer<lb/>
sehr wohl gefühlt. Das Leben war hier freier, ungezwungner und in gewisser<lb/>
Hinsicht großartiger als in Ballenstedt. Der große, überaus wohlhäbige Sobbische<lb/>
Haushalt war ungemein gastlich. Das Haus wurde kaum leer von Besuch. In<lb/>
dem viele Morgen großen Garten konnten wir uns nach Herzenslust austoben,<lb/>
auf die Bäume klettern, von dem im Überfluß vorhandnen Obst aller Art soviel<lb/>
essen, wie wir Lust hatten. Vor den Fenstern des Wohnhauses lag der Wiesen¬<lb/>
hof, eine mit Hecken und Bäumen eingefaßte, von Bewässerungsgräben durchschnittne,<lb/>
große Wiese, die ebenfalls zum Gute gehörte. Da wurden von uns Dämme gebaut<lb/>
und Wasserrilleu gegraben, Vögel in Sprenkeln gefangen, Schalmeien ans frisch<lb/>
abgeschälter Weidenriude hergestellt, kurz alle für einen Jungen erdenkliche Kurz¬<lb/>
weil getrieben. Nachmittags gab es gemeinsame Spaziergänge in den nahen Wald,<lb/>
bei denen draußen das mitgenommene Abendessen verzehrt, auch gesungen und ge¬<lb/>
tanzt wurde.  Der lebhafte Verkehr von Gästen aller Art im Sobbischen Hanse,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0302] Aus der Jugendzeit sonnenhellen Herbsttage durch den schönen Schloßgarten hinauf nach der Schloßkirche bewegte, der Bräutigam in großer Galauniform mit hohen Stiefeln und weißen ledernen Beinkleidern, neben ihm meine ungewöhnlich hübsche Schwester Julie im weißen Brautkleide und Myrtenschmuck, und hinter ihnen der lange, festliche Hoch¬ zeitszug. Damals habe ich zum erstenmal die Ahnung eines poetischen Eindrucks von einer lebensvollen Festfeier bekommen. Freilich stach dagegen die Prosa des von den: unruhigen, alltäglichen Geschäftsverkehr durchfluteten Vaterhauses in Quedlin¬ burg grell genug ab. In meinen spätern Jugendjahren habe ich während der Schulferien im grünen Hause vor Ballenstedt oft sehr glückliche Tage verlebt. Wenn Onkel und Tante Bornemann mich für einige Tage zu sich einluden, dann wanderte ich mutterseelen¬ allein, aber fröhlich durch die stillen Felder von Quedlinburg über den Bicklinger Turm nach dem Zehling. So hieß eine Fasanerie und große Obstplantage unter dem Gegensteine, einem Stück der Teufelsmauer. Vou der Höhe des Zehlings konnte ich dann das grüne Haus schon liegen sehen. Das Nachtzeug brachte mir die Botenfrau mit, die an zwei Tagen der Woche regelmäßig von Ballenstedt nach Quedlinburg und zurück ging. Das grüne Haus war für mich das Ideal einer mit Geschmack eingerichteten, harmonischen und poetischen Wohnung. Meine Ver¬ wandten waren wohlhabend, der Onkel ein schöner, geistvoller und gebildeter Mann mit weltmännischen Manieren, die Tante etwas peinlich, aber gegen mich voll liebenswürdiger Freundlichkeit, ihr ganzer Haushalt ein Muster sauberer Akkuratesse und eleganter Behaglichkeit. Der Onkel nahm mich dann mit durch die ihm unter¬ stellten herzoglichen Gärten und Obstplantagcn und erzählte dabei von seinen Reisen — er hatte zu seiner Ausbildung einige Jahre in Holland und Frankreich ge¬ lebt —, und die Tante suchte mich äußerlich ein wenig mehr zuzustutzen, als es zuhause üblich war. Ich ließ mir das gern gefallen und fühlte mich dort immer ungemein Wohl. Wenn ich nach Quedlinburg zurück mußte, so hatte ich regelmäßig einige Tage laug förmliches Heimweh nach Ballenstedt. Davon durfte ich mir freilich zuhause nichts merken lassen. Aber ich habe, so schnell nach der Art der Jugend und bei meinem lebhaften Temperament diese Heimwehstimmung auch wieder verflog, damals oft das klare Bewußtsein gehabt, daß ich mich im grünen Hause glücklicher fühlte als im väterlichen. Gewiß hätte es nicht so sein sollen. Die Schuld lag aber doch nicht bloß auf meiner Seite. Das unruhige, geschäftliche Treiben und Haften im Elternhause trat so stark in den Vordergrund, daß wir kaum jemals traulich zu deu Eltern flüchte» und unsre kleinen Anliege» vor ihnen ausschütten konnten. Die schöne, stille, idyllische Harmonie des Zusammenlebens, die ich im grünen Hause fand, suchte ich daheim nur zu oft vergebens. Zuweilen durfte ich die Ferien auch in Gernrode im Hanse der überaus lieb¬ reichen jüngern Schwester meiner verstorbnen Mutter verleben. Onkel Sobbe, ihr Mann, war Bürgermeister und besaß dort ein schön gelegnes, großes, ertragreiches Landgut, das er selbst bewirtschaftete. Auch dort habe ich mich als Kind immer sehr wohl gefühlt. Das Leben war hier freier, ungezwungner und in gewisser Hinsicht großartiger als in Ballenstedt. Der große, überaus wohlhäbige Sobbische Haushalt war ungemein gastlich. Das Haus wurde kaum leer von Besuch. In dem viele Morgen großen Garten konnten wir uns nach Herzenslust austoben, auf die Bäume klettern, von dem im Überfluß vorhandnen Obst aller Art soviel essen, wie wir Lust hatten. Vor den Fenstern des Wohnhauses lag der Wiesen¬ hof, eine mit Hecken und Bäumen eingefaßte, von Bewässerungsgräben durchschnittne, große Wiese, die ebenfalls zum Gute gehörte. Da wurden von uns Dämme gebaut und Wasserrilleu gegraben, Vögel in Sprenkeln gefangen, Schalmeien ans frisch abgeschälter Weidenriude hergestellt, kurz alle für einen Jungen erdenkliche Kurz¬ weil getrieben. Nachmittags gab es gemeinsame Spaziergänge in den nahen Wald, bei denen draußen das mitgenommene Abendessen verzehrt, auch gesungen und ge¬ tanzt wurde. Der lebhafte Verkehr von Gästen aller Art im Sobbischen Hanse,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/302
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/302>, abgerufen am 25.11.2024.