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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die orientalische Frage
v Julius Patzelt i onn
(Fortsetzung)

und den andern Mächten konnten diese Vorteile natürlich kein
Geheimnis sein; man war bestürzt, vergaß aber sich selbst
und den eignen Mangel an Voraussicht anzuklagen. Nichts¬
destoweniger mußte der Adrianopler Friede, "weil er das
europäische Gleichgewicht in empfindlicher Weise störte," die
Keime neuer Verwicklungen enthalten. Vorläufig hatte die diplomatische
Siegeslaufbahn Rußlands ihren Höhepunkt noch nicht einmal erreicht. Die
griechische Frage war ganz im Sinne Rußlands durch Errichtung eines selb¬
ständigen Königreichs gelöst, dessen Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit man
auch fürsorglich sofort durch Verleihung einer möglichst demokratischen Ver¬
fassung unterband; dank der Indolenz Frankreichs und Englands hatte das
Jahr 1830 für Rußland in Polen keine gefährlichen Verwicklungen gebracht,
und die kopflose Politik der verbündeten Kabinette von Paris und London in
der Sache Mehmet Alis zwang die Pforte, bei Rußland Schutz vor dem re¬
bellischen Vizekönig von Ägypten zu suchen. Nußland sah sich dafür mit dem
Vertrage von Hunkiar Skelessi (1833) belohnt. Rußland und die Pforte
kamen überein, sich gegenseitig Ruhe und Sicherheit zu gewähren -- wobei
natürlich von vornherein der Stärkere im Vorteil war; damit aber die Pforte
durch die Last dieser Verpflichtung nicht allzuschwer gedrückt werde, begnügte
sich Rußland damit, daß die Pforte gegebnenfalls zugunsten Rußlands die
Dardanellen fremden Kriegsschiffen verschließe. -- Rußland betrachtete das
Schwarze Meer danach schon als einen russischen Binnensee, was England
auch sehr bald erfuhr. Als dann Europa die Türkei nach der Schlacht von
Nisib (1839) nochmals vor Mehmet Ali "gerettet" hatte, wurden in einer
Konvention vom 13. Februar 1841 die erwähnten Bestimmungen über die
Meerengen dahin abgeändert, daß die Pforte, solange sie im Frieden wäre,
keine fremden Kriegsschiffe in die Dardanellen und in den Bosporus ein¬
lasse, mit Ausnahme der für den Dienst der Gesandten bestimmten leichten
Stationsschiffe.

Der Zeitraum von 1833 bis 1841 ist zweifellos der, wo Nußland den
Höhepunkt seiner Machtstellung im europäischen Orient erklommen hatte. In
Konstantinopel gebot es fast unumschränkt, die Donanfürstentümer standen,
wenn auch nicht formell, unter seiner Botmäßigkeit, und ein 1840 zwischen
Österreich und Nußland abgeschlossener Vertrag belehrt darüber, daß Nußland
auch das Recht zuerkannt worden war, jeder Macht -- auch der Türkei --




Die orientalische Frage
v Julius Patzelt i onn
(Fortsetzung)

und den andern Mächten konnten diese Vorteile natürlich kein
Geheimnis sein; man war bestürzt, vergaß aber sich selbst
und den eignen Mangel an Voraussicht anzuklagen. Nichts¬
destoweniger mußte der Adrianopler Friede, „weil er das
europäische Gleichgewicht in empfindlicher Weise störte," die
Keime neuer Verwicklungen enthalten. Vorläufig hatte die diplomatische
Siegeslaufbahn Rußlands ihren Höhepunkt noch nicht einmal erreicht. Die
griechische Frage war ganz im Sinne Rußlands durch Errichtung eines selb¬
ständigen Königreichs gelöst, dessen Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit man
auch fürsorglich sofort durch Verleihung einer möglichst demokratischen Ver¬
fassung unterband; dank der Indolenz Frankreichs und Englands hatte das
Jahr 1830 für Rußland in Polen keine gefährlichen Verwicklungen gebracht,
und die kopflose Politik der verbündeten Kabinette von Paris und London in
der Sache Mehmet Alis zwang die Pforte, bei Rußland Schutz vor dem re¬
bellischen Vizekönig von Ägypten zu suchen. Nußland sah sich dafür mit dem
Vertrage von Hunkiar Skelessi (1833) belohnt. Rußland und die Pforte
kamen überein, sich gegenseitig Ruhe und Sicherheit zu gewähren — wobei
natürlich von vornherein der Stärkere im Vorteil war; damit aber die Pforte
durch die Last dieser Verpflichtung nicht allzuschwer gedrückt werde, begnügte
sich Rußland damit, daß die Pforte gegebnenfalls zugunsten Rußlands die
Dardanellen fremden Kriegsschiffen verschließe. — Rußland betrachtete das
Schwarze Meer danach schon als einen russischen Binnensee, was England
auch sehr bald erfuhr. Als dann Europa die Türkei nach der Schlacht von
Nisib (1839) nochmals vor Mehmet Ali „gerettet" hatte, wurden in einer
Konvention vom 13. Februar 1841 die erwähnten Bestimmungen über die
Meerengen dahin abgeändert, daß die Pforte, solange sie im Frieden wäre,
keine fremden Kriegsschiffe in die Dardanellen und in den Bosporus ein¬
lasse, mit Ausnahme der für den Dienst der Gesandten bestimmten leichten
Stationsschiffe.

Der Zeitraum von 1833 bis 1841 ist zweifellos der, wo Nußland den
Höhepunkt seiner Machtstellung im europäischen Orient erklommen hatte. In
Konstantinopel gebot es fast unumschränkt, die Donanfürstentümer standen,
wenn auch nicht formell, unter seiner Botmäßigkeit, und ein 1840 zwischen
Österreich und Nußland abgeschlossener Vertrag belehrt darüber, daß Nußland
auch das Recht zuerkannt worden war, jeder Macht — auch der Türkei —


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[0276] [Abbildung] Die orientalische Frage v Julius Patzelt i onn (Fortsetzung) und den andern Mächten konnten diese Vorteile natürlich kein Geheimnis sein; man war bestürzt, vergaß aber sich selbst und den eignen Mangel an Voraussicht anzuklagen. Nichts¬ destoweniger mußte der Adrianopler Friede, „weil er das europäische Gleichgewicht in empfindlicher Weise störte," die Keime neuer Verwicklungen enthalten. Vorläufig hatte die diplomatische Siegeslaufbahn Rußlands ihren Höhepunkt noch nicht einmal erreicht. Die griechische Frage war ganz im Sinne Rußlands durch Errichtung eines selb¬ ständigen Königreichs gelöst, dessen Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit man auch fürsorglich sofort durch Verleihung einer möglichst demokratischen Ver¬ fassung unterband; dank der Indolenz Frankreichs und Englands hatte das Jahr 1830 für Rußland in Polen keine gefährlichen Verwicklungen gebracht, und die kopflose Politik der verbündeten Kabinette von Paris und London in der Sache Mehmet Alis zwang die Pforte, bei Rußland Schutz vor dem re¬ bellischen Vizekönig von Ägypten zu suchen. Nußland sah sich dafür mit dem Vertrage von Hunkiar Skelessi (1833) belohnt. Rußland und die Pforte kamen überein, sich gegenseitig Ruhe und Sicherheit zu gewähren — wobei natürlich von vornherein der Stärkere im Vorteil war; damit aber die Pforte durch die Last dieser Verpflichtung nicht allzuschwer gedrückt werde, begnügte sich Rußland damit, daß die Pforte gegebnenfalls zugunsten Rußlands die Dardanellen fremden Kriegsschiffen verschließe. — Rußland betrachtete das Schwarze Meer danach schon als einen russischen Binnensee, was England auch sehr bald erfuhr. Als dann Europa die Türkei nach der Schlacht von Nisib (1839) nochmals vor Mehmet Ali „gerettet" hatte, wurden in einer Konvention vom 13. Februar 1841 die erwähnten Bestimmungen über die Meerengen dahin abgeändert, daß die Pforte, solange sie im Frieden wäre, keine fremden Kriegsschiffe in die Dardanellen und in den Bosporus ein¬ lasse, mit Ausnahme der für den Dienst der Gesandten bestimmten leichten Stationsschiffe. Der Zeitraum von 1833 bis 1841 ist zweifellos der, wo Nußland den Höhepunkt seiner Machtstellung im europäischen Orient erklommen hatte. In Konstantinopel gebot es fast unumschränkt, die Donanfürstentümer standen, wenn auch nicht formell, unter seiner Botmäßigkeit, und ein 1840 zwischen Österreich und Nußland abgeschlossener Vertrag belehrt darüber, daß Nußland auch das Recht zuerkannt worden war, jeder Macht — auch der Türkei —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/276>, abgerufen am 22.11.2024.