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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Böhmon

lautern Flamiilen das Gemüt der Deutschen, bis sie sich wieder eins fühlten
und dadurch gehärtet wurden zu dem Kampf um ihre nationale Einheit und
Selbständigkeit. Auch aus Österreich kamen fast zu derselben Zeit neubelebte
Regungen der Kunst, und es ergoß sich von dn aus über die Welt eine unend¬
liche Fülle von Melodien, ein schier unerschöpflicher Reichtum der Musik, der
Kunst der leidenden Völker. Erst viel später trat anch in Österreich ein Auf¬
schwung der Literatur ein.

Auch in Böhmen gingen die Wiederbevölkerung und die Entwicklung äußerst
langsam vor sich. Die Deutschen waren dabei im Vorteil, denn ihnen kam
aus dem wieder erstarkenden Reich Zuschuß an aufstrebenden Kräften, die Tschechen
waren auf sich selbst augewiesen, der neue Adel und das Beamtentum standen
fremd zu ihnen, aus den stammverwandten, aber in der Kultur zurückgebliebnen
Slowaken konnte ihnen kein fördernder Zuwachs erblühen. Daraus allein
erklärt es sich, daß bis zur Mitte des vergangnen Jahrhunderts die Zunahme des
echten und germanisierten Deutschtums ein rascheres Wachstum zeigte, als die des
Tschechentums; wohl haben die wirtschaftlichen Maßnahmen Josephs des Zweiten
hie und da deutscher Kolonisation nochmals Raum geschafft, doch blieben die
Erfolge für die nationale Entwicklung ziemlich unbedeutend, weil es sich nur
um vorübergehende und nicht nachhaltige Maßnahmen handelte. Bestimmte
zahlenmüßige Angaben liegen darüber nicht vor, auch die spätern Mitteilungen von
Schafarzik und Czörnig aus den vierziger Jahren widersprechen sich und können
nnr als ziemlich willkürliche Schätzungen gelten. Der Grundstock des deutschen
Landes in Böhmen ist aber immer das alte Kolonisten land geblieben, das der
Schweiß deutscher Bauern und Bürger in vielen Jahrhunderten erkauft, redlich
und ehrlich für die deutsche Sprache erworben hat. Wie die Tschechen freudig
verkünden, hat das Jahr 1848 dieser Entwicklung einen Riegel vorgeschoben.

Die neue tschechische Partei hat sehr klein angefangen. Angeregt durch den
Aufschwung der neuen deutschen Literatur und durch den Eifer, mit dem unter der
Napoleonischen Herrschaft die Gebrüder Grimm und andre deutsche Gelehrte
die ruhmwürdigen Erinnerungen der deutschen Vorzeit sammelten, fiel es
tschechischen Forschern ein, die alte tschechische Volksgeschichte anch wieder aufleben
zu lassen. Ihr größter Erfolg und Aufschwung kam von der Veröffentlichung
der sogenannten Königinhofer Handschrift, die Wenzel Hmcka am 16. September
1817 in einem Gewölbe des Kirchturms der Stadt Königinhof gefunden
haben wollte und herausgab. Charakteristisch für die ganze neuere literarische
Bewegung der Tschechen ist, daß sich dieses älteste tschechische Literaturdenkmal,
angeblich aus dein dreizehnten Jahrhundert, als eine Fälschung oder im
günstigsten Falle, wie dies nach den Feststellungen des Professors L. Dvlcmsky
wohl jetzt gelten mag, als ein Scherz in der Manier des Magisters Knips in
G. Freytags "Verlorner Handschrift" herausgestellt hat, den Hcmka selbst nicht
mehr aufklären mochte, nachdem das Erzeugnis seiner Laune zum tschechisch-
nationalen Eigentum erklärt worden war. Die vierzehn Gesänge epischen und
lyrischen Inhalts, die sich als Bruchstück einer größern, verloren gegangnen
Sammluug darstellten, schildern u. a. die Stadt Prag, wie sie erst in späterer
christlicher Zeit gebaut war, sie enthalten grobe Verstöße gegen Sitte und


Böhmon

lautern Flamiilen das Gemüt der Deutschen, bis sie sich wieder eins fühlten
und dadurch gehärtet wurden zu dem Kampf um ihre nationale Einheit und
Selbständigkeit. Auch aus Österreich kamen fast zu derselben Zeit neubelebte
Regungen der Kunst, und es ergoß sich von dn aus über die Welt eine unend¬
liche Fülle von Melodien, ein schier unerschöpflicher Reichtum der Musik, der
Kunst der leidenden Völker. Erst viel später trat anch in Österreich ein Auf¬
schwung der Literatur ein.

Auch in Böhmen gingen die Wiederbevölkerung und die Entwicklung äußerst
langsam vor sich. Die Deutschen waren dabei im Vorteil, denn ihnen kam
aus dem wieder erstarkenden Reich Zuschuß an aufstrebenden Kräften, die Tschechen
waren auf sich selbst augewiesen, der neue Adel und das Beamtentum standen
fremd zu ihnen, aus den stammverwandten, aber in der Kultur zurückgebliebnen
Slowaken konnte ihnen kein fördernder Zuwachs erblühen. Daraus allein
erklärt es sich, daß bis zur Mitte des vergangnen Jahrhunderts die Zunahme des
echten und germanisierten Deutschtums ein rascheres Wachstum zeigte, als die des
Tschechentums; wohl haben die wirtschaftlichen Maßnahmen Josephs des Zweiten
hie und da deutscher Kolonisation nochmals Raum geschafft, doch blieben die
Erfolge für die nationale Entwicklung ziemlich unbedeutend, weil es sich nur
um vorübergehende und nicht nachhaltige Maßnahmen handelte. Bestimmte
zahlenmüßige Angaben liegen darüber nicht vor, auch die spätern Mitteilungen von
Schafarzik und Czörnig aus den vierziger Jahren widersprechen sich und können
nnr als ziemlich willkürliche Schätzungen gelten. Der Grundstock des deutschen
Landes in Böhmen ist aber immer das alte Kolonisten land geblieben, das der
Schweiß deutscher Bauern und Bürger in vielen Jahrhunderten erkauft, redlich
und ehrlich für die deutsche Sprache erworben hat. Wie die Tschechen freudig
verkünden, hat das Jahr 1848 dieser Entwicklung einen Riegel vorgeschoben.

Die neue tschechische Partei hat sehr klein angefangen. Angeregt durch den
Aufschwung der neuen deutschen Literatur und durch den Eifer, mit dem unter der
Napoleonischen Herrschaft die Gebrüder Grimm und andre deutsche Gelehrte
die ruhmwürdigen Erinnerungen der deutschen Vorzeit sammelten, fiel es
tschechischen Forschern ein, die alte tschechische Volksgeschichte anch wieder aufleben
zu lassen. Ihr größter Erfolg und Aufschwung kam von der Veröffentlichung
der sogenannten Königinhofer Handschrift, die Wenzel Hmcka am 16. September
1817 in einem Gewölbe des Kirchturms der Stadt Königinhof gefunden
haben wollte und herausgab. Charakteristisch für die ganze neuere literarische
Bewegung der Tschechen ist, daß sich dieses älteste tschechische Literaturdenkmal,
angeblich aus dein dreizehnten Jahrhundert, als eine Fälschung oder im
günstigsten Falle, wie dies nach den Feststellungen des Professors L. Dvlcmsky
wohl jetzt gelten mag, als ein Scherz in der Manier des Magisters Knips in
G. Freytags „Verlorner Handschrift" herausgestellt hat, den Hcmka selbst nicht
mehr aufklären mochte, nachdem das Erzeugnis seiner Laune zum tschechisch-
nationalen Eigentum erklärt worden war. Die vierzehn Gesänge epischen und
lyrischen Inhalts, die sich als Bruchstück einer größern, verloren gegangnen
Sammluug darstellten, schildern u. a. die Stadt Prag, wie sie erst in späterer
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/274>, abgerufen am 22.11.2024.