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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

Ihnen lassen: ordentlich sind Sie immer gewesen. Und den Vogel soll ich auch
bekommen?

Gewiß! Schaffen Sie den Plunder möglichst bald aus meinen Augen. Er
behindert mich beim Packen.

Soll geschehn, Herr Marquis, soll geschehn! Nein die schönen Röcke und
Hosen! Nichts verschlissen und nichts geflickt! Wenn das mein Seliger erlebt
hätte! Wissen Sie, der hatte Ihre Statur, dem hätte das alles gepaßt wie an¬
gegossen. Er hatte überhaupt viel von Ihnen. Den Gang und die seinen
Manieren -- er war doch lange in Holland gewesen --, nur das Gesicht war ein
bißchen anders. Oft, wenn ich Sie so über den Vorsaal gehn sah, hab ich schon
gedacht: der leibhaftige Hnßlacher! und nachher bin ich immer ganz melancholisch
geworden. Und als Sie vergangnen Donnerstag des Nachts so spät aus dem
Klub kamen und im Stichdüstern die Treppe hinaufgingen, da hörte sichs genau
so an, wie wenn mein Mann selig mal eine lange Sitzung im Schützenhof ge¬
habt hatte.

Sie begann unter dem ihr zugewiesenen Nachlaß ihres Mieters zu kramen
und jeden Gegenstand, der ihr dabei in die Hände kam, mit kritischen Blicken zu
Prüfen.

An diesem Schuh fehlt die Schnalle, sagte sie, indem sie ihn in das Gesichts¬
feld des Marquis brachte.

Schon möglich, erwiderte dieser, ich vermute jedoch, es ist niemals eine darauf
gewesen.

O bitte sehr! Hier ist der andre. Der hat eine. Haben Sie keine Ahnung,
wo das Ding sein könnte?

Nicht die geringste.

Das ist recht fatal. Was soll man nun mit den Schuhe" macheu? Zwei
Schuhe und eine Schnalle! Ich wette, man findet in ganz Koblenz keine dazu
passende.

Der Marquis nahm ihr den Gegenstand ihres Mißvergnügens ans der Hand,
riß die Schnalle mit einem kräftigen Ruck ab und schleuderte sie ans dem Fenster
über die Dächer der Nachbarhäuser.

So, Madame, ich denke, nun ist der Schade geheilt. Sind Sie um zu¬
frieden?

Die Wittib mochte einsehen, daß tadelnde Ausstellungen an den Geschenken
den Spender verstimmen mußten, und da ihr daran lag, ihn bei guter Laune zu
erhalten, so beschloß sie dem Gespräch eine Wendung zu geben, von der sie sich
eine versöhnende Wirkung versprach.

Wenn ich mirs so durch den Kopf gehn lasse, begann sie, dann muß ich
sagen: Es ist recht schön von Ihnen, daß Sie Ihren guten, armen König einmal
besuchen wollen. Er muß sich doch in dem langweiligen Turm recht einsam fühlen.
Nie einen Menschen zu scheu bekommen, gegen den man sich mal ordentlich aus-
sprechen kann, das muß schrecklich sein. Ich hielts nicht aus. Und dabei soll der
Turm nicht einmal ein Fenster nach der Gasse zu haben. Bloß nach dem Hofe.
Da kann draußen alles mögliche passieren, und der arme König merkt keine Bohne
davon. Und daß sie ihn so scharf bewachen, und daß immer einer mit dem blanken
Säbel vor ihm hergeht, wenn er Mittags im Hofe ein wenig promeniert, das ist
doch auch nicht recht. Und zu essen werden sie ihm gewiß auch nicht allzuviel
geben.

Da sie während dieser Rede den Berg der ihr geschenkten Habseligkeiten unter¬
wühlt hatte, neigte sich der Käfig mit dem Kakadu zur Seite und drohte hinunter¬
zustürzen. Die Wittib fing ihn jedoch noch rechtzeitig auf und stellte ihn auf den
Fußboden. Marigny, der eifrig mit der Durchsicht seiner Papiere beschäftigt war,
hatte von diesem Vorgange nichts bemerkt und glaubte daher, die Alte rede nochvon dem Gefangnen im Temple, als sie jetzt die Frage stellte:


Grenzboten III 1903 81
Der Marquis von Marigny

Ihnen lassen: ordentlich sind Sie immer gewesen. Und den Vogel soll ich auch
bekommen?

Gewiß! Schaffen Sie den Plunder möglichst bald aus meinen Augen. Er
behindert mich beim Packen.

Soll geschehn, Herr Marquis, soll geschehn! Nein die schönen Röcke und
Hosen! Nichts verschlissen und nichts geflickt! Wenn das mein Seliger erlebt
hätte! Wissen Sie, der hatte Ihre Statur, dem hätte das alles gepaßt wie an¬
gegossen. Er hatte überhaupt viel von Ihnen. Den Gang und die seinen
Manieren — er war doch lange in Holland gewesen —, nur das Gesicht war ein
bißchen anders. Oft, wenn ich Sie so über den Vorsaal gehn sah, hab ich schon
gedacht: der leibhaftige Hnßlacher! und nachher bin ich immer ganz melancholisch
geworden. Und als Sie vergangnen Donnerstag des Nachts so spät aus dem
Klub kamen und im Stichdüstern die Treppe hinaufgingen, da hörte sichs genau
so an, wie wenn mein Mann selig mal eine lange Sitzung im Schützenhof ge¬
habt hatte.

Sie begann unter dem ihr zugewiesenen Nachlaß ihres Mieters zu kramen
und jeden Gegenstand, der ihr dabei in die Hände kam, mit kritischen Blicken zu
Prüfen.

An diesem Schuh fehlt die Schnalle, sagte sie, indem sie ihn in das Gesichts¬
feld des Marquis brachte.

Schon möglich, erwiderte dieser, ich vermute jedoch, es ist niemals eine darauf
gewesen.

O bitte sehr! Hier ist der andre. Der hat eine. Haben Sie keine Ahnung,
wo das Ding sein könnte?

Nicht die geringste.

Das ist recht fatal. Was soll man nun mit den Schuhe» macheu? Zwei
Schuhe und eine Schnalle! Ich wette, man findet in ganz Koblenz keine dazu
passende.

Der Marquis nahm ihr den Gegenstand ihres Mißvergnügens ans der Hand,
riß die Schnalle mit einem kräftigen Ruck ab und schleuderte sie ans dem Fenster
über die Dächer der Nachbarhäuser.

So, Madame, ich denke, nun ist der Schade geheilt. Sind Sie um zu¬
frieden?

Die Wittib mochte einsehen, daß tadelnde Ausstellungen an den Geschenken
den Spender verstimmen mußten, und da ihr daran lag, ihn bei guter Laune zu
erhalten, so beschloß sie dem Gespräch eine Wendung zu geben, von der sie sich
eine versöhnende Wirkung versprach.

Wenn ich mirs so durch den Kopf gehn lasse, begann sie, dann muß ich
sagen: Es ist recht schön von Ihnen, daß Sie Ihren guten, armen König einmal
besuchen wollen. Er muß sich doch in dem langweiligen Turm recht einsam fühlen.
Nie einen Menschen zu scheu bekommen, gegen den man sich mal ordentlich aus-
sprechen kann, das muß schrecklich sein. Ich hielts nicht aus. Und dabei soll der
Turm nicht einmal ein Fenster nach der Gasse zu haben. Bloß nach dem Hofe.
Da kann draußen alles mögliche passieren, und der arme König merkt keine Bohne
davon. Und daß sie ihn so scharf bewachen, und daß immer einer mit dem blanken
Säbel vor ihm hergeht, wenn er Mittags im Hofe ein wenig promeniert, das ist
doch auch nicht recht. Und zu essen werden sie ihm gewiß auch nicht allzuviel
geben.

Da sie während dieser Rede den Berg der ihr geschenkten Habseligkeiten unter¬
wühlt hatte, neigte sich der Käfig mit dem Kakadu zur Seite und drohte hinunter¬
zustürzen. Die Wittib fing ihn jedoch noch rechtzeitig auf und stellte ihn auf den
Fußboden. Marigny, der eifrig mit der Durchsicht seiner Papiere beschäftigt war,
hatte von diesem Vorgange nichts bemerkt und glaubte daher, die Alte rede nochvon dem Gefangnen im Temple, als sie jetzt die Frage stellte:


Grenzboten III 1903 81
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[0249] Der Marquis von Marigny Ihnen lassen: ordentlich sind Sie immer gewesen. Und den Vogel soll ich auch bekommen? Gewiß! Schaffen Sie den Plunder möglichst bald aus meinen Augen. Er behindert mich beim Packen. Soll geschehn, Herr Marquis, soll geschehn! Nein die schönen Röcke und Hosen! Nichts verschlissen und nichts geflickt! Wenn das mein Seliger erlebt hätte! Wissen Sie, der hatte Ihre Statur, dem hätte das alles gepaßt wie an¬ gegossen. Er hatte überhaupt viel von Ihnen. Den Gang und die seinen Manieren — er war doch lange in Holland gewesen —, nur das Gesicht war ein bißchen anders. Oft, wenn ich Sie so über den Vorsaal gehn sah, hab ich schon gedacht: der leibhaftige Hnßlacher! und nachher bin ich immer ganz melancholisch geworden. Und als Sie vergangnen Donnerstag des Nachts so spät aus dem Klub kamen und im Stichdüstern die Treppe hinaufgingen, da hörte sichs genau so an, wie wenn mein Mann selig mal eine lange Sitzung im Schützenhof ge¬ habt hatte. Sie begann unter dem ihr zugewiesenen Nachlaß ihres Mieters zu kramen und jeden Gegenstand, der ihr dabei in die Hände kam, mit kritischen Blicken zu Prüfen. An diesem Schuh fehlt die Schnalle, sagte sie, indem sie ihn in das Gesichts¬ feld des Marquis brachte. Schon möglich, erwiderte dieser, ich vermute jedoch, es ist niemals eine darauf gewesen. O bitte sehr! Hier ist der andre. Der hat eine. Haben Sie keine Ahnung, wo das Ding sein könnte? Nicht die geringste. Das ist recht fatal. Was soll man nun mit den Schuhe» macheu? Zwei Schuhe und eine Schnalle! Ich wette, man findet in ganz Koblenz keine dazu passende. Der Marquis nahm ihr den Gegenstand ihres Mißvergnügens ans der Hand, riß die Schnalle mit einem kräftigen Ruck ab und schleuderte sie ans dem Fenster über die Dächer der Nachbarhäuser. So, Madame, ich denke, nun ist der Schade geheilt. Sind Sie um zu¬ frieden? Die Wittib mochte einsehen, daß tadelnde Ausstellungen an den Geschenken den Spender verstimmen mußten, und da ihr daran lag, ihn bei guter Laune zu erhalten, so beschloß sie dem Gespräch eine Wendung zu geben, von der sie sich eine versöhnende Wirkung versprach. Wenn ich mirs so durch den Kopf gehn lasse, begann sie, dann muß ich sagen: Es ist recht schön von Ihnen, daß Sie Ihren guten, armen König einmal besuchen wollen. Er muß sich doch in dem langweiligen Turm recht einsam fühlen. Nie einen Menschen zu scheu bekommen, gegen den man sich mal ordentlich aus- sprechen kann, das muß schrecklich sein. Ich hielts nicht aus. Und dabei soll der Turm nicht einmal ein Fenster nach der Gasse zu haben. Bloß nach dem Hofe. Da kann draußen alles mögliche passieren, und der arme König merkt keine Bohne davon. Und daß sie ihn so scharf bewachen, und daß immer einer mit dem blanken Säbel vor ihm hergeht, wenn er Mittags im Hofe ein wenig promeniert, das ist doch auch nicht recht. Und zu essen werden sie ihm gewiß auch nicht allzuviel geben. Da sie während dieser Rede den Berg der ihr geschenkten Habseligkeiten unter¬ wühlt hatte, neigte sich der Käfig mit dem Kakadu zur Seite und drohte hinunter¬ zustürzen. Die Wittib fing ihn jedoch noch rechtzeitig auf und stellte ihn auf den Fußboden. Marigny, der eifrig mit der Durchsicht seiner Papiere beschäftigt war, hatte von diesem Vorgange nichts bemerkt und glaubte daher, die Alte rede nochvon dem Gefangnen im Temple, als sie jetzt die Frage stellte: Grenzboten III 1903 81

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/249>, abgerufen am 25.11.2024.