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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen deutschen Sprache

und damit sind die "Humanität," des freien Menschen Eigentümlichkeit Aett die
Selbständigkeit der menschlichen Lebensformen nicht uur geduldet, solider"? im
vollen Sinne begründet. Laß den Menschen sich frei entwickeln -- aber predige
ihm das Evangelium! Laß den Menschen frei denken, frei forschen, aber predige
das Evangelium in Wort und Handlungen! Laß den Menschen Kunstwerke
schaffen, Gesetze stiften, freie Staaten gründen -- aber predige das Evangelium!
Predige Besserung vor Fürsten und Volk, vor Gelehrten und allem Kindern und
Dienern der Kultur! -- so könnte man Luthers Programm kurz aussprechen.

Das Unterscheidende der lutherischen Anschauung im Gegensatz zur mittel¬
alterlichen und römischen kann man schon darin erkennen, daß die lutherische
Anschauung eine mehr ethische Anschauung ist. Das Mittelalter dachte durch¬
aus mehr "magisch." Das Göttliche ist für das Mittelalter gleichsam eine
überirdische Natur, die Physisch in die Welt gekommen ist. Die Kirche allein
ist der irdische Träger dieser himmlischen Macht und der irdische Besitzer ihrer
geheimnisvollen Machtmittel. Für das mittelalterliche Denken war ja auch
der Begriff Mensch, sittliche Persönlichkeit mit Verantwortung und Freiheit
etwas Ullbegreifliches. Es ist vor allem Luther, der das Gewissen wieder ent¬
deckt hat, das das unveräußerliche Eigentum der sittlichen Persönlichkeit ist und
nicht beleidigt werdeu darf. In der römischen Kirche ist das Gewissen von
übergeordneter Bedeutung; denn es ist ja z. B. ein verdienstliches, Gott wohl¬
gefälliges Opfer, um der Kirche willen eine wissenschaftliche Überzeugung auf¬
zugeben. Die Kirche ist eben die Herrin des Gewissens. Gegen die Kirche
hat das Gewissen keine Beweiskraft, ebensowenig haben es die Zeugnisse wissen¬
schaftlicher Forschung oder irgend ein menschliches Bewußtsein. Für die römische
Kirche sind mithin alle hierher gehörenden Fragen heute wie vor Jahrhunderten
"himmlische Machtfragen," für Luther sind es sittliche Lebensfragen, Gewissens-
fragen. Bei ihm handelt es sich nicht um "Weltverachtung" im mittelalter¬
lichen Sinne, sondern um innere Erhebung über die Welt im Bewußtsein des
V Anton Weis-Ulmenricd erhältnisses zu Gott.




Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen
deutschen Sprache
L. Günther von in
(Fortsetzung)
2. Privatrecht (Allgemeine Lehren; Familienrecht: Verwandtschaft, Vormund¬
schaft, Eherecht; Erbrecht)

me weit größere Anzahl von Ausdrücken, als unsre Umgangs¬
sprache dem sich auf Staats- und Gemeindeverfassung beziehenden
ältern Rechte entnommen hat, sind ihr aus den einzelnen Zweigen
des bisher nur mehr gelegentlich gestreiften Privatrechts zuge¬
flossen, d. h. wohl zu beachten aus dem ältern deutschen Pnvat-
recht, das bei uns vor der sogenannten "Rezeption" des römischen
Zivilrechts allein in Geltung war, nach diesem Zeitpunkt aber nur eine be¬
scheidnere, mehr subsidiäre Stellung einnahm, bis es heute mit den fremdenW


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und damit sind die „Humanität," des freien Menschen Eigentümlichkeit Aett die
Selbständigkeit der menschlichen Lebensformen nicht uur geduldet, solider«? im
vollen Sinne begründet. Laß den Menschen sich frei entwickeln — aber predige
ihm das Evangelium! Laß den Menschen frei denken, frei forschen, aber predige
das Evangelium in Wort und Handlungen! Laß den Menschen Kunstwerke
schaffen, Gesetze stiften, freie Staaten gründen — aber predige das Evangelium!
Predige Besserung vor Fürsten und Volk, vor Gelehrten und allem Kindern und
Dienern der Kultur! — so könnte man Luthers Programm kurz aussprechen.

Das Unterscheidende der lutherischen Anschauung im Gegensatz zur mittel¬
alterlichen und römischen kann man schon darin erkennen, daß die lutherische
Anschauung eine mehr ethische Anschauung ist. Das Mittelalter dachte durch¬
aus mehr „magisch." Das Göttliche ist für das Mittelalter gleichsam eine
überirdische Natur, die Physisch in die Welt gekommen ist. Die Kirche allein
ist der irdische Träger dieser himmlischen Macht und der irdische Besitzer ihrer
geheimnisvollen Machtmittel. Für das mittelalterliche Denken war ja auch
der Begriff Mensch, sittliche Persönlichkeit mit Verantwortung und Freiheit
etwas Ullbegreifliches. Es ist vor allem Luther, der das Gewissen wieder ent¬
deckt hat, das das unveräußerliche Eigentum der sittlichen Persönlichkeit ist und
nicht beleidigt werdeu darf. In der römischen Kirche ist das Gewissen von
übergeordneter Bedeutung; denn es ist ja z. B. ein verdienstliches, Gott wohl¬
gefälliges Opfer, um der Kirche willen eine wissenschaftliche Überzeugung auf¬
zugeben. Die Kirche ist eben die Herrin des Gewissens. Gegen die Kirche
hat das Gewissen keine Beweiskraft, ebensowenig haben es die Zeugnisse wissen¬
schaftlicher Forschung oder irgend ein menschliches Bewußtsein. Für die römische
Kirche sind mithin alle hierher gehörenden Fragen heute wie vor Jahrhunderten
„himmlische Machtfragen," für Luther sind es sittliche Lebensfragen, Gewissens-
fragen. Bei ihm handelt es sich nicht um „Weltverachtung" im mittelalter¬
lichen Sinne, sondern um innere Erhebung über die Welt im Bewußtsein des
V Anton Weis-Ulmenricd erhältnisses zu Gott.




Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen
deutschen Sprache
L. Günther von in
(Fortsetzung)
2. Privatrecht (Allgemeine Lehren; Familienrecht: Verwandtschaft, Vormund¬
schaft, Eherecht; Erbrecht)

me weit größere Anzahl von Ausdrücken, als unsre Umgangs¬
sprache dem sich auf Staats- und Gemeindeverfassung beziehenden
ältern Rechte entnommen hat, sind ihr aus den einzelnen Zweigen
des bisher nur mehr gelegentlich gestreiften Privatrechts zuge¬
flossen, d. h. wohl zu beachten aus dem ältern deutschen Pnvat-
recht, das bei uns vor der sogenannten „Rezeption" des römischen
Zivilrechts allein in Geltung war, nach diesem Zeitpunkt aber nur eine be¬
scheidnere, mehr subsidiäre Stellung einnahm, bis es heute mit den fremdenW


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[0234] Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen deutschen Sprache und damit sind die „Humanität," des freien Menschen Eigentümlichkeit Aett die Selbständigkeit der menschlichen Lebensformen nicht uur geduldet, solider«? im vollen Sinne begründet. Laß den Menschen sich frei entwickeln — aber predige ihm das Evangelium! Laß den Menschen frei denken, frei forschen, aber predige das Evangelium in Wort und Handlungen! Laß den Menschen Kunstwerke schaffen, Gesetze stiften, freie Staaten gründen — aber predige das Evangelium! Predige Besserung vor Fürsten und Volk, vor Gelehrten und allem Kindern und Dienern der Kultur! — so könnte man Luthers Programm kurz aussprechen. Das Unterscheidende der lutherischen Anschauung im Gegensatz zur mittel¬ alterlichen und römischen kann man schon darin erkennen, daß die lutherische Anschauung eine mehr ethische Anschauung ist. Das Mittelalter dachte durch¬ aus mehr „magisch." Das Göttliche ist für das Mittelalter gleichsam eine überirdische Natur, die Physisch in die Welt gekommen ist. Die Kirche allein ist der irdische Träger dieser himmlischen Macht und der irdische Besitzer ihrer geheimnisvollen Machtmittel. Für das mittelalterliche Denken war ja auch der Begriff Mensch, sittliche Persönlichkeit mit Verantwortung und Freiheit etwas Ullbegreifliches. Es ist vor allem Luther, der das Gewissen wieder ent¬ deckt hat, das das unveräußerliche Eigentum der sittlichen Persönlichkeit ist und nicht beleidigt werdeu darf. In der römischen Kirche ist das Gewissen von übergeordneter Bedeutung; denn es ist ja z. B. ein verdienstliches, Gott wohl¬ gefälliges Opfer, um der Kirche willen eine wissenschaftliche Überzeugung auf¬ zugeben. Die Kirche ist eben die Herrin des Gewissens. Gegen die Kirche hat das Gewissen keine Beweiskraft, ebensowenig haben es die Zeugnisse wissen¬ schaftlicher Forschung oder irgend ein menschliches Bewußtsein. Für die römische Kirche sind mithin alle hierher gehörenden Fragen heute wie vor Jahrhunderten „himmlische Machtfragen," für Luther sind es sittliche Lebensfragen, Gewissens- fragen. Bei ihm handelt es sich nicht um „Weltverachtung" im mittelalter¬ lichen Sinne, sondern um innere Erhebung über die Welt im Bewußtsein des V Anton Weis-Ulmenricd erhältnisses zu Gott. Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen deutschen Sprache L. Günther von in (Fortsetzung) 2. Privatrecht (Allgemeine Lehren; Familienrecht: Verwandtschaft, Vormund¬ schaft, Eherecht; Erbrecht) me weit größere Anzahl von Ausdrücken, als unsre Umgangs¬ sprache dem sich auf Staats- und Gemeindeverfassung beziehenden ältern Rechte entnommen hat, sind ihr aus den einzelnen Zweigen des bisher nur mehr gelegentlich gestreiften Privatrechts zuge¬ flossen, d. h. wohl zu beachten aus dem ältern deutschen Pnvat- recht, das bei uns vor der sogenannten „Rezeption" des römischen Zivilrechts allein in Geltung war, nach diesem Zeitpunkt aber nur eine be¬ scheidnere, mehr subsidiäre Stellung einnahm, bis es heute mit den fremdenW

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/234>, abgerufen am 24.11.2024.