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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die mittelalterliche Religionsanschaunng und ihre Beziehungen zur Gegenwart

Leben isoliert sich von dem religiösen und kündigt der Kirche Treue und Ge¬
horsam. Und diese Lvstrennung ist die gerechte Reaktion gegen die Anschauung,
die dem "Humaner" keine selbständige Geltung zuerkennen wollte. Nun glaubte
man in der Antike das Ideal gefunden zu haben. Ein neues Heidentum
macht sich als Fortschritt geltend. Apollo, Venus, Pan finden mehr Ver¬
ehrung als der Christus des Mittelalters, als die Madonna und der Gott
des Mittelalters. Klarer konnte im Gang der Geschichte gar nicht aus¬
gesprochen werdeu, daß dem Mittelalter die Lösung der Frage: Wie läßt sich
eine Einigung zustande bringen zwischen dem religiösen Leben und all den
übrigen Gebieten des menschlichen Lebens? vollständig mißlungen war.

Warum konnte das Mittelalter diese Frage nicht lösen? Zunächst des¬
halb, weil die mittelalterliche Religiosität nicht geeignet war, sich als be¬
herrschende Macht des Lebens zu behaupten; und weil sie auf die Länge weder
für das menschliche Gewissen und das menschliche Rechtsbewußtsein, noch für
das menschliche Wahrheitsgefühl, ja nicht einmal für das christliche Glaubens¬
bewußtsein die zeutrcilc und allbeherrschende Macht zu sein empfehlenswert
erschien. Ein weiterer Grund liegt darin, daß man die humanen Lebens¬
formen geistig nicht zu durchdringen vermochte, weil man sie nicht von innen
zu beherrschen versuchte, sondern sie nur unterwerfe!? wollte. Und von innen
konnte mau sie uicht beherrschen, weil man ihnen nicht Freiheit und Selb¬
ständigkeit, die ihnen als von Gott gegebnen Naturordnungen gebühren, zu¬
erkennen wollte.

Das Mittelalter hat keineswegs nur historisches Interesse; dein: seine
Anschauungen erstrecken sich in ihren Nachwirkungen bis in unsre Zeit. Wir
dürfen nicht vergessen, daß die sogenannte "Neuzeit" ein gar kurzer Zeitraum
ist, und vom Standpunkt der Weltgeschichte liegt das Mittelalter gar nicht
so lange hinter uns. Ja wir können mit Fug und Recht sagen, wenn wir
an die römische Kirche denken: Das Mittelalter ist noch nicht tot. Übrigens
ist der Zusammenhang der Geschichte derart, daß wenn man auch mit der
Denkweise des Mittelalters gebrochen zu haben glaubt, dessen Ideen doch in
der Tiefe wirken, wenn auch durch neuere Einflüsse der Form nach ver¬
ändert.

Die Frage selbst über das Verhalten zwischen Religion und Humanität
ist unstreitig jederzeit von großem Interesse. Und betrachten wir die ver-
schiednen Versuche, die zu ihrer Lösung unternommen wurden, so erkennen
wir leicht wieder die verschiednen Richtungen des Mittelalters. So haben sich
in neuerer Zeit auch innerhalb des Protestantismus kulturscheue Tendenzen
gezeigt. Verschiedne sektiererische Anschauungen sind hervorgetreten, denen zu¬
folge z. B. das Staatsleben und die Teilnahme an der Arbeit für menschliche
Kulturinteressen als unvereinbar zu betrachten seien mit den Forderungen
wahrer Frömmigkeit, Anschauungen, die augenscheinlich Kinder des mittel¬
alterlichen Asketismus sind. Und die puritanischen und pietistischer Strö¬
mungen, die zeitweise auftreten und die Neigung mit sich bringen, Wissen¬
schaft und Kunst als "weltliche," für das Reich Gottes hinderliche Machte zu
verurteilen, enthalten die Erneuerung des mittelalterlichen Dualismus, der


Die mittelalterliche Religionsanschaunng und ihre Beziehungen zur Gegenwart

Leben isoliert sich von dem religiösen und kündigt der Kirche Treue und Ge¬
horsam. Und diese Lvstrennung ist die gerechte Reaktion gegen die Anschauung,
die dem „Humaner" keine selbständige Geltung zuerkennen wollte. Nun glaubte
man in der Antike das Ideal gefunden zu haben. Ein neues Heidentum
macht sich als Fortschritt geltend. Apollo, Venus, Pan finden mehr Ver¬
ehrung als der Christus des Mittelalters, als die Madonna und der Gott
des Mittelalters. Klarer konnte im Gang der Geschichte gar nicht aus¬
gesprochen werdeu, daß dem Mittelalter die Lösung der Frage: Wie läßt sich
eine Einigung zustande bringen zwischen dem religiösen Leben und all den
übrigen Gebieten des menschlichen Lebens? vollständig mißlungen war.

Warum konnte das Mittelalter diese Frage nicht lösen? Zunächst des¬
halb, weil die mittelalterliche Religiosität nicht geeignet war, sich als be¬
herrschende Macht des Lebens zu behaupten; und weil sie auf die Länge weder
für das menschliche Gewissen und das menschliche Rechtsbewußtsein, noch für
das menschliche Wahrheitsgefühl, ja nicht einmal für das christliche Glaubens¬
bewußtsein die zeutrcilc und allbeherrschende Macht zu sein empfehlenswert
erschien. Ein weiterer Grund liegt darin, daß man die humanen Lebens¬
formen geistig nicht zu durchdringen vermochte, weil man sie nicht von innen
zu beherrschen versuchte, sondern sie nur unterwerfe!? wollte. Und von innen
konnte mau sie uicht beherrschen, weil man ihnen nicht Freiheit und Selb¬
ständigkeit, die ihnen als von Gott gegebnen Naturordnungen gebühren, zu¬
erkennen wollte.

Das Mittelalter hat keineswegs nur historisches Interesse; dein: seine
Anschauungen erstrecken sich in ihren Nachwirkungen bis in unsre Zeit. Wir
dürfen nicht vergessen, daß die sogenannte „Neuzeit" ein gar kurzer Zeitraum
ist, und vom Standpunkt der Weltgeschichte liegt das Mittelalter gar nicht
so lange hinter uns. Ja wir können mit Fug und Recht sagen, wenn wir
an die römische Kirche denken: Das Mittelalter ist noch nicht tot. Übrigens
ist der Zusammenhang der Geschichte derart, daß wenn man auch mit der
Denkweise des Mittelalters gebrochen zu haben glaubt, dessen Ideen doch in
der Tiefe wirken, wenn auch durch neuere Einflüsse der Form nach ver¬
ändert.

Die Frage selbst über das Verhalten zwischen Religion und Humanität
ist unstreitig jederzeit von großem Interesse. Und betrachten wir die ver-
schiednen Versuche, die zu ihrer Lösung unternommen wurden, so erkennen
wir leicht wieder die verschiednen Richtungen des Mittelalters. So haben sich
in neuerer Zeit auch innerhalb des Protestantismus kulturscheue Tendenzen
gezeigt. Verschiedne sektiererische Anschauungen sind hervorgetreten, denen zu¬
folge z. B. das Staatsleben und die Teilnahme an der Arbeit für menschliche
Kulturinteressen als unvereinbar zu betrachten seien mit den Forderungen
wahrer Frömmigkeit, Anschauungen, die augenscheinlich Kinder des mittel¬
alterlichen Asketismus sind. Und die puritanischen und pietistischer Strö¬
mungen, die zeitweise auftreten und die Neigung mit sich bringen, Wissen¬
schaft und Kunst als „weltliche," für das Reich Gottes hinderliche Machte zu
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/230>, abgerufen am 24.11.2024.