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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

anzuerkennen, Urfehde zu schwören und die Mauern der Stadt durch die Er¬
bauung von sieben Türmen zu verbessern. Diese Türme stehn der Mehrzahl nach,
wenn nicht alle, noch heute, und der alte Kasten, worin der Graf geschmachtet
hatte, ist noch jetzt auf dem Rathansboden. Mau kann sich denken, welchen Zauber
die Erinnerung ein jene Zeit auf die Quedlinburger Jugend ausübte. Wie oft
haben wir als Jungen auf dem alten Rathausboden mit den Söhnen des Markt¬
meisters, der zugleich Nathauskastcllan war, oder auch draußen an der Bockshorn-
schanze und am Hackelteich "Albert von Reinstein" gespielt! Mein Landsmann,
der Dichter Julius Wolff, hat diesen Grafen Albert von Reinstein zum Helden
seines bekannten historischen Romans "Der Ranbgraf" gemacht und damit dieser
Episode in der Geschichte unsrer Vaterstadt ein schönes und rühmliches Denkmal
gesetzt.

Dem Schlosse unmittelbar gegenüber, hart an der Stadt, liegt der Münzen¬
berg Mons Sion), ein schroff abfallender Bergkegel, auf dessen Spitze in alter
Zeit gleichfalls ein Frauenkloster, das Marienklvster, gestanden hat. Bis auf ganz
wenige dürftige Mauerresie ist dieses Kloster längst verschwunden. Jetzt ist an
seine Stelle ein Komplex kleiner Wohnhäuser, eine Art Straße, zu der man in
meiner Jugendzeit auf eiuer steilen, wohl über hundert Stufen zählenden Treppe
hinaufstieg. Der Münzenberg war dazumal einigermaßen verrufen. Es wohnten
dort nur arme Leute, und wie man sagte, nicht ganz ehrliche. Man erzählte sich,
daß, wenn auf dem Münzenberge ein Kind geboren würde, der Vater es zum
Fenster hinaushalte und sage: Das alles, was du da unten stehst, gehört dir; nur
darfst du dich nicht fassen lassen. Das war eine Schnurre, die man erzählte, ohne
sie zu glauben. Richtig war nnr, daß dort oben auch eine Anzahl anrüchiger Leute
wohnte. Die Eltern sahen es deshalb nicht gern, daß wir ans den Münzenberg
gingen. Wir aber gingen gern hinauf; denn die kleinen Häuschen nahmen sich
oben ganz nett und ziemlich sauber ans, und die Aussicht von oben auf das
Schloß, die Stadt, deren nächste Umgebungen und weiter hinaus auf die lang¬
gestreckten, blauen Harzberge war unvergleichlich schön.

Die Umgebung der Stadt ist von großer landschaftlicher Schönheit. An den
Münzenberg schließt sich im Südwesten der Osterberg, auf dessen Gipfel die Oster-
und die Johannisfeuer abgebrannt wurden, und um diesen langgestreckt in der Richtung
nach dem Negensteine zu der Laugeberg. Auch im Norden war die Stadt von
Bergen umgeben. Da lagen der Galgenberg, offenbar die frühere Richtstätte, und
der Kanonenberg, auf dem bis zum Ende der stiftischen Zeit die Lärmkanone ge¬
standen hatte. Sie wurde gelöst, wenn von der preußischen Garnison Soldaten
desertiert waren. Die Ärmsten mußten, wenn sie eingefangen wurden, zur Strafe
Spießruten laufen. Mein Vater hatte auch diese entsetzliche Prozedur noch gesehen,
bei der der Delinquent, bevor er seinen Marsch durch die Gasse seiner spalier¬
bildenden und mit Weidengerten auf seinen entblößten Rücken schlagenden Kameraden
antrat, eine Bleikugel in den Mund gesteckt erhielt, um darauf seinen Schmerz zu
verbeißen. Der Knuonenberg wurde hoch überragt durch die Kuppe der Hamwarte,
und hinter dieser lag der poetische Kncknckswinkel, ein einsamer mit Schlchdorn-
büschen und wilden Rosen bestandner, blumenreicher Nasenfleck mitten im Felde.
Mein Vater besaß dort oben ein Ackerstück, und an schönen Sonntngnachmittagen
wanderten wir im Frühling oder Sommer mit ihm hinauf in diesen Winkel
idhllischer Feldeinsamkeit, um uns am Stande der Saaten und an der schönen
Aussicht zu erfreuen. Im Osten der Stadt schloß sich an die Bockshornschanze der
Bleicheberg, ans dem jetzt inmitten schöner Anlagen ein Bismarckturm steht. Jen¬
seits der Bode hinter dem kleinen Lustwäldchen der frühern Äbtissinnen, der Brühl
genannt, erhob sich die jetzt mit Wald nngeschonte Altenburg, ein mit einem Wart¬
turm gekrönter, mächtiger Sandsteinhügel mit einer Reihe großer und tiefer, saal¬
artiger Höhlen. Für uns Jungen die erwünschtesten Spielplätze, namentlich wenn
wir mit Fackeln in die geheimnisvolle Tiefe der Gänge und Sandsteinhöhlen ein-


Aus der Jugendzeit

anzuerkennen, Urfehde zu schwören und die Mauern der Stadt durch die Er¬
bauung von sieben Türmen zu verbessern. Diese Türme stehn der Mehrzahl nach,
wenn nicht alle, noch heute, und der alte Kasten, worin der Graf geschmachtet
hatte, ist noch jetzt auf dem Rathansboden. Mau kann sich denken, welchen Zauber
die Erinnerung ein jene Zeit auf die Quedlinburger Jugend ausübte. Wie oft
haben wir als Jungen auf dem alten Rathausboden mit den Söhnen des Markt¬
meisters, der zugleich Nathauskastcllan war, oder auch draußen an der Bockshorn-
schanze und am Hackelteich „Albert von Reinstein" gespielt! Mein Landsmann,
der Dichter Julius Wolff, hat diesen Grafen Albert von Reinstein zum Helden
seines bekannten historischen Romans „Der Ranbgraf" gemacht und damit dieser
Episode in der Geschichte unsrer Vaterstadt ein schönes und rühmliches Denkmal
gesetzt.

Dem Schlosse unmittelbar gegenüber, hart an der Stadt, liegt der Münzen¬
berg Mons Sion), ein schroff abfallender Bergkegel, auf dessen Spitze in alter
Zeit gleichfalls ein Frauenkloster, das Marienklvster, gestanden hat. Bis auf ganz
wenige dürftige Mauerresie ist dieses Kloster längst verschwunden. Jetzt ist an
seine Stelle ein Komplex kleiner Wohnhäuser, eine Art Straße, zu der man in
meiner Jugendzeit auf eiuer steilen, wohl über hundert Stufen zählenden Treppe
hinaufstieg. Der Münzenberg war dazumal einigermaßen verrufen. Es wohnten
dort nur arme Leute, und wie man sagte, nicht ganz ehrliche. Man erzählte sich,
daß, wenn auf dem Münzenberge ein Kind geboren würde, der Vater es zum
Fenster hinaushalte und sage: Das alles, was du da unten stehst, gehört dir; nur
darfst du dich nicht fassen lassen. Das war eine Schnurre, die man erzählte, ohne
sie zu glauben. Richtig war nnr, daß dort oben auch eine Anzahl anrüchiger Leute
wohnte. Die Eltern sahen es deshalb nicht gern, daß wir ans den Münzenberg
gingen. Wir aber gingen gern hinauf; denn die kleinen Häuschen nahmen sich
oben ganz nett und ziemlich sauber ans, und die Aussicht von oben auf das
Schloß, die Stadt, deren nächste Umgebungen und weiter hinaus auf die lang¬
gestreckten, blauen Harzberge war unvergleichlich schön.

Die Umgebung der Stadt ist von großer landschaftlicher Schönheit. An den
Münzenberg schließt sich im Südwesten der Osterberg, auf dessen Gipfel die Oster-
und die Johannisfeuer abgebrannt wurden, und um diesen langgestreckt in der Richtung
nach dem Negensteine zu der Laugeberg. Auch im Norden war die Stadt von
Bergen umgeben. Da lagen der Galgenberg, offenbar die frühere Richtstätte, und
der Kanonenberg, auf dem bis zum Ende der stiftischen Zeit die Lärmkanone ge¬
standen hatte. Sie wurde gelöst, wenn von der preußischen Garnison Soldaten
desertiert waren. Die Ärmsten mußten, wenn sie eingefangen wurden, zur Strafe
Spießruten laufen. Mein Vater hatte auch diese entsetzliche Prozedur noch gesehen,
bei der der Delinquent, bevor er seinen Marsch durch die Gasse seiner spalier¬
bildenden und mit Weidengerten auf seinen entblößten Rücken schlagenden Kameraden
antrat, eine Bleikugel in den Mund gesteckt erhielt, um darauf seinen Schmerz zu
verbeißen. Der Knuonenberg wurde hoch überragt durch die Kuppe der Hamwarte,
und hinter dieser lag der poetische Kncknckswinkel, ein einsamer mit Schlchdorn-
büschen und wilden Rosen bestandner, blumenreicher Nasenfleck mitten im Felde.
Mein Vater besaß dort oben ein Ackerstück, und an schönen Sonntngnachmittagen
wanderten wir im Frühling oder Sommer mit ihm hinauf in diesen Winkel
idhllischer Feldeinsamkeit, um uns am Stande der Saaten und an der schönen
Aussicht zu erfreuen. Im Osten der Stadt schloß sich an die Bockshornschanze der
Bleicheberg, ans dem jetzt inmitten schöner Anlagen ein Bismarckturm steht. Jen¬
seits der Bode hinter dem kleinen Lustwäldchen der frühern Äbtissinnen, der Brühl
genannt, erhob sich die jetzt mit Wald nngeschonte Altenburg, ein mit einem Wart¬
turm gekrönter, mächtiger Sandsteinhügel mit einer Reihe großer und tiefer, saal¬
artiger Höhlen. Für uns Jungen die erwünschtesten Spielplätze, namentlich wenn
wir mit Fackeln in die geheimnisvolle Tiefe der Gänge und Sandsteinhöhlen ein-


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[0170] Aus der Jugendzeit anzuerkennen, Urfehde zu schwören und die Mauern der Stadt durch die Er¬ bauung von sieben Türmen zu verbessern. Diese Türme stehn der Mehrzahl nach, wenn nicht alle, noch heute, und der alte Kasten, worin der Graf geschmachtet hatte, ist noch jetzt auf dem Rathansboden. Mau kann sich denken, welchen Zauber die Erinnerung ein jene Zeit auf die Quedlinburger Jugend ausübte. Wie oft haben wir als Jungen auf dem alten Rathausboden mit den Söhnen des Markt¬ meisters, der zugleich Nathauskastcllan war, oder auch draußen an der Bockshorn- schanze und am Hackelteich „Albert von Reinstein" gespielt! Mein Landsmann, der Dichter Julius Wolff, hat diesen Grafen Albert von Reinstein zum Helden seines bekannten historischen Romans „Der Ranbgraf" gemacht und damit dieser Episode in der Geschichte unsrer Vaterstadt ein schönes und rühmliches Denkmal gesetzt. Dem Schlosse unmittelbar gegenüber, hart an der Stadt, liegt der Münzen¬ berg Mons Sion), ein schroff abfallender Bergkegel, auf dessen Spitze in alter Zeit gleichfalls ein Frauenkloster, das Marienklvster, gestanden hat. Bis auf ganz wenige dürftige Mauerresie ist dieses Kloster längst verschwunden. Jetzt ist an seine Stelle ein Komplex kleiner Wohnhäuser, eine Art Straße, zu der man in meiner Jugendzeit auf eiuer steilen, wohl über hundert Stufen zählenden Treppe hinaufstieg. Der Münzenberg war dazumal einigermaßen verrufen. Es wohnten dort nur arme Leute, und wie man sagte, nicht ganz ehrliche. Man erzählte sich, daß, wenn auf dem Münzenberge ein Kind geboren würde, der Vater es zum Fenster hinaushalte und sage: Das alles, was du da unten stehst, gehört dir; nur darfst du dich nicht fassen lassen. Das war eine Schnurre, die man erzählte, ohne sie zu glauben. Richtig war nnr, daß dort oben auch eine Anzahl anrüchiger Leute wohnte. Die Eltern sahen es deshalb nicht gern, daß wir ans den Münzenberg gingen. Wir aber gingen gern hinauf; denn die kleinen Häuschen nahmen sich oben ganz nett und ziemlich sauber ans, und die Aussicht von oben auf das Schloß, die Stadt, deren nächste Umgebungen und weiter hinaus auf die lang¬ gestreckten, blauen Harzberge war unvergleichlich schön. Die Umgebung der Stadt ist von großer landschaftlicher Schönheit. An den Münzenberg schließt sich im Südwesten der Osterberg, auf dessen Gipfel die Oster- und die Johannisfeuer abgebrannt wurden, und um diesen langgestreckt in der Richtung nach dem Negensteine zu der Laugeberg. Auch im Norden war die Stadt von Bergen umgeben. Da lagen der Galgenberg, offenbar die frühere Richtstätte, und der Kanonenberg, auf dem bis zum Ende der stiftischen Zeit die Lärmkanone ge¬ standen hatte. Sie wurde gelöst, wenn von der preußischen Garnison Soldaten desertiert waren. Die Ärmsten mußten, wenn sie eingefangen wurden, zur Strafe Spießruten laufen. Mein Vater hatte auch diese entsetzliche Prozedur noch gesehen, bei der der Delinquent, bevor er seinen Marsch durch die Gasse seiner spalier¬ bildenden und mit Weidengerten auf seinen entblößten Rücken schlagenden Kameraden antrat, eine Bleikugel in den Mund gesteckt erhielt, um darauf seinen Schmerz zu verbeißen. Der Knuonenberg wurde hoch überragt durch die Kuppe der Hamwarte, und hinter dieser lag der poetische Kncknckswinkel, ein einsamer mit Schlchdorn- büschen und wilden Rosen bestandner, blumenreicher Nasenfleck mitten im Felde. Mein Vater besaß dort oben ein Ackerstück, und an schönen Sonntngnachmittagen wanderten wir im Frühling oder Sommer mit ihm hinauf in diesen Winkel idhllischer Feldeinsamkeit, um uns am Stande der Saaten und an der schönen Aussicht zu erfreuen. Im Osten der Stadt schloß sich an die Bockshornschanze der Bleicheberg, ans dem jetzt inmitten schöner Anlagen ein Bismarckturm steht. Jen¬ seits der Bode hinter dem kleinen Lustwäldchen der frühern Äbtissinnen, der Brühl genannt, erhob sich die jetzt mit Wald nngeschonte Altenburg, ein mit einem Wart¬ turm gekrönter, mächtiger Sandsteinhügel mit einer Reihe großer und tiefer, saal¬ artiger Höhlen. Für uns Jungen die erwünschtesten Spielplätze, namentlich wenn wir mit Fackeln in die geheimnisvolle Tiefe der Gänge und Sandsteinhöhlen ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/170>, abgerufen am 24.11.2024.