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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Ans der Jugendzeit

allmählich das freie, weltliche Reichsstift Quedlinburg mit der vollen, mir dem
Kaiser unterworfnen Souveränität nicht nur über die Stadt, sondern auch über
das dazu gehörende, zu Zeiten recht beträchtliche Gebiet. So wurde aus dem
Stift ein -- zuletzt freilich nicht viel mehr als zwei Quadratmeilen umfassender --
deutscher Kleinstaat mit einer höchst eigentümlichen Verfassung und Entwicklung.
Das Stift gehörte, obwohl ursprünglich unzweifelhaft uiedersächsifch, zum ober-
sächsischen Kreise. Seine Äbtissin war eine unmittelbare Reichsfürstin und hatte
Sitz und Stimme auf dem Reichstage. Es hat bis zum Jahre 1803 bestanden.
Früher stand es unter kursächsischer, seit 1698 unter kurbrandenburgischer nud
sodnnn unter preußischer Schutzherrschaft, bis es infolge des Friedens von Luneville
(1801) und des Reichsdeputationshauptschlnsses (1803) seiue reichsunmittelbare
Selbständigkeit verlor und unter die unmittelbare Herrschaft Preußens kam. Mein
Vater hatte die letzte Äbtissin Sophie Albertine, eine königlich schwedische Prin¬
zessin aus dem Hause Wasa, uoch gekannt. Diese, eine Tochter der Prinzessin
Luise Ulrike von Preußen, einer Schwester Friedrichs des Großen, hatte sich in
Quedlinburg die Liebe ihrer Untertanen in hohem Grade erworben, und als sie
im Jahre 1803 Quedlinburg für immer verließ, um nach Stockholm zurückzukehren,
war der Abschied von ihr rührend und tränenreich gewesen. Sie ist im Jahre 1829
in Stockholm gestorben. Als ich mich im Jahre 1858 in Stockholm aufhielt, wurde
mir dort, nahe bei der Nordbrücke, ihr stattlicher Palast gezeigt, und nie bin ich
dort ohne das Gefühl eines gewissen heimatlichen Zusammenhangs mit diesem Hause
vorübergegangen. Merkwürdig, wie weit in die Welt hinaus solche heimatliche
Beziehungen reichen können. Zur Zeit der Chieagoer Weltausstellung im Jahre
1893 traf ein Bekannter von mir vor dem Eingange zum Uellowstonepark in
Wyoming, also im fernen Westen von Nordamerika, einen deutschen Mann, der
dort mit allerhand Naturmerkwürdigkeiten und Andenken aus dem berühmten
Nationalpark handelte und sich als einen Quedlinburger, namens Otto Schmidt, zu
erkennen gab. Das hatte zu einem Gespräch über Quedlinburg und auch über mich
und mein Ergehen geführt. Dieser Otto Schmidt, der Sohn eines ehrsamen Quedlin¬
burger Glasermeisters, war vor fast sechzig Jahren mit mir in unsrer Vaterstadt
in die Volksschule gegangen. Er sandte mir, feinem alten Schul- und Spielkame¬
raden, über das große Wasser hinüber herzliche Grüße

Natürlich spielte das stolze Kaiserschloß in Quedlinburg mit den sich daran
anknüpfenden geschichtlichen Erinnerungen, die in den Bürgerhäusern der Stadt
lebendig waren, anch bei der heranwachsenden Jngend eine große Rolle. Ebenso
vielleicht noch mehr die Zeit, in der die Stadt zum Bunde der Nansa geholt ut
sich durch die Mannhaftigkeit und den Unabhängigkeitssinn ihrer Bürger hervor
getan hatte. Namentlich aber war es die Fehde, oder wie sich die alten Chroniken
ausdrucken, der Krieg, deu die Quedlinburger Bürger im Bunde mit den Nachbar-
städten Halberstadt und Aschersleben im vierzehnten Jahrhundert gegen die von der
AbKsstn Jutta mit der Vogtei oder Schutzherrschaft über die'Stadt beliehenen
Grafen von Neinstein (Regenstein) geführt hatten. In diesem Kriege hatten die
tapfern Quedlinburger Bürger gegen den sein Schutzrecht arg mißbrauchender
Grafen Albert von Neinstein schließlich obgesiegt und den Grafen in dem sumpfigen
Terrain am Hackelteiche hinter der Bockshornschanze -- die Quedlinburger sprechen
diesen Namen aus: Boxohrenschanze -- auf dem Wege nach der ihm gehörenden
Gersdorfer Burg im Jahre 1336 gefangen, ihn in die Stadt geschleppt und dort
auf dem Rathause in einem aus starken eichnen Bohlen eigens dazu gezimmerten,
kleiderschrankartigen Kasten zwanzig Monate lang gefangen gehalten, ihm den
Prozeß gemacht und ihn zum Tode verurteilt. Dieses Todesurteil war vom Kaiser
bestätigt worden. Das Tuch war schon beschafft, auf dein der Graf gerichtet werden
sollte, und das Schafott im Felde vor der Stadt hergestellt, als am 20. März 1338,
wahrscheinlich dem zur Hinrichtung bestimmten Tage, der Graf in letzter Stunde
sich dazu verstand, in feierlichen Reversen die Rechte der Stadt und der Äbtissin


Grenzboten III 1903 21
Ans der Jugendzeit

allmählich das freie, weltliche Reichsstift Quedlinburg mit der vollen, mir dem
Kaiser unterworfnen Souveränität nicht nur über die Stadt, sondern auch über
das dazu gehörende, zu Zeiten recht beträchtliche Gebiet. So wurde aus dem
Stift ein — zuletzt freilich nicht viel mehr als zwei Quadratmeilen umfassender —
deutscher Kleinstaat mit einer höchst eigentümlichen Verfassung und Entwicklung.
Das Stift gehörte, obwohl ursprünglich unzweifelhaft uiedersächsifch, zum ober-
sächsischen Kreise. Seine Äbtissin war eine unmittelbare Reichsfürstin und hatte
Sitz und Stimme auf dem Reichstage. Es hat bis zum Jahre 1803 bestanden.
Früher stand es unter kursächsischer, seit 1698 unter kurbrandenburgischer nud
sodnnn unter preußischer Schutzherrschaft, bis es infolge des Friedens von Luneville
(1801) und des Reichsdeputationshauptschlnsses (1803) seiue reichsunmittelbare
Selbständigkeit verlor und unter die unmittelbare Herrschaft Preußens kam. Mein
Vater hatte die letzte Äbtissin Sophie Albertine, eine königlich schwedische Prin¬
zessin aus dem Hause Wasa, uoch gekannt. Diese, eine Tochter der Prinzessin
Luise Ulrike von Preußen, einer Schwester Friedrichs des Großen, hatte sich in
Quedlinburg die Liebe ihrer Untertanen in hohem Grade erworben, und als sie
im Jahre 1803 Quedlinburg für immer verließ, um nach Stockholm zurückzukehren,
war der Abschied von ihr rührend und tränenreich gewesen. Sie ist im Jahre 1829
in Stockholm gestorben. Als ich mich im Jahre 1858 in Stockholm aufhielt, wurde
mir dort, nahe bei der Nordbrücke, ihr stattlicher Palast gezeigt, und nie bin ich
dort ohne das Gefühl eines gewissen heimatlichen Zusammenhangs mit diesem Hause
vorübergegangen. Merkwürdig, wie weit in die Welt hinaus solche heimatliche
Beziehungen reichen können. Zur Zeit der Chieagoer Weltausstellung im Jahre
1893 traf ein Bekannter von mir vor dem Eingange zum Uellowstonepark in
Wyoming, also im fernen Westen von Nordamerika, einen deutschen Mann, der
dort mit allerhand Naturmerkwürdigkeiten und Andenken aus dem berühmten
Nationalpark handelte und sich als einen Quedlinburger, namens Otto Schmidt, zu
erkennen gab. Das hatte zu einem Gespräch über Quedlinburg und auch über mich
und mein Ergehen geführt. Dieser Otto Schmidt, der Sohn eines ehrsamen Quedlin¬
burger Glasermeisters, war vor fast sechzig Jahren mit mir in unsrer Vaterstadt
in die Volksschule gegangen. Er sandte mir, feinem alten Schul- und Spielkame¬
raden, über das große Wasser hinüber herzliche Grüße

Natürlich spielte das stolze Kaiserschloß in Quedlinburg mit den sich daran
anknüpfenden geschichtlichen Erinnerungen, die in den Bürgerhäusern der Stadt
lebendig waren, anch bei der heranwachsenden Jngend eine große Rolle. Ebenso
vielleicht noch mehr die Zeit, in der die Stadt zum Bunde der Nansa geholt ut
sich durch die Mannhaftigkeit und den Unabhängigkeitssinn ihrer Bürger hervor
getan hatte. Namentlich aber war es die Fehde, oder wie sich die alten Chroniken
ausdrucken, der Krieg, deu die Quedlinburger Bürger im Bunde mit den Nachbar-
städten Halberstadt und Aschersleben im vierzehnten Jahrhundert gegen die von der
AbKsstn Jutta mit der Vogtei oder Schutzherrschaft über die'Stadt beliehenen
Grafen von Neinstein (Regenstein) geführt hatten. In diesem Kriege hatten die
tapfern Quedlinburger Bürger gegen den sein Schutzrecht arg mißbrauchender
Grafen Albert von Neinstein schließlich obgesiegt und den Grafen in dem sumpfigen
Terrain am Hackelteiche hinter der Bockshornschanze — die Quedlinburger sprechen
diesen Namen aus: Boxohrenschanze — auf dem Wege nach der ihm gehörenden
Gersdorfer Burg im Jahre 1336 gefangen, ihn in die Stadt geschleppt und dort
auf dem Rathause in einem aus starken eichnen Bohlen eigens dazu gezimmerten,
kleiderschrankartigen Kasten zwanzig Monate lang gefangen gehalten, ihm den
Prozeß gemacht und ihn zum Tode verurteilt. Dieses Todesurteil war vom Kaiser
bestätigt worden. Das Tuch war schon beschafft, auf dein der Graf gerichtet werden
sollte, und das Schafott im Felde vor der Stadt hergestellt, als am 20. März 1338,
wahrscheinlich dem zur Hinrichtung bestimmten Tage, der Graf in letzter Stunde
sich dazu verstand, in feierlichen Reversen die Rechte der Stadt und der Äbtissin


Grenzboten III 1903 21
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[0169] Ans der Jugendzeit allmählich das freie, weltliche Reichsstift Quedlinburg mit der vollen, mir dem Kaiser unterworfnen Souveränität nicht nur über die Stadt, sondern auch über das dazu gehörende, zu Zeiten recht beträchtliche Gebiet. So wurde aus dem Stift ein — zuletzt freilich nicht viel mehr als zwei Quadratmeilen umfassender — deutscher Kleinstaat mit einer höchst eigentümlichen Verfassung und Entwicklung. Das Stift gehörte, obwohl ursprünglich unzweifelhaft uiedersächsifch, zum ober- sächsischen Kreise. Seine Äbtissin war eine unmittelbare Reichsfürstin und hatte Sitz und Stimme auf dem Reichstage. Es hat bis zum Jahre 1803 bestanden. Früher stand es unter kursächsischer, seit 1698 unter kurbrandenburgischer nud sodnnn unter preußischer Schutzherrschaft, bis es infolge des Friedens von Luneville (1801) und des Reichsdeputationshauptschlnsses (1803) seiue reichsunmittelbare Selbständigkeit verlor und unter die unmittelbare Herrschaft Preußens kam. Mein Vater hatte die letzte Äbtissin Sophie Albertine, eine königlich schwedische Prin¬ zessin aus dem Hause Wasa, uoch gekannt. Diese, eine Tochter der Prinzessin Luise Ulrike von Preußen, einer Schwester Friedrichs des Großen, hatte sich in Quedlinburg die Liebe ihrer Untertanen in hohem Grade erworben, und als sie im Jahre 1803 Quedlinburg für immer verließ, um nach Stockholm zurückzukehren, war der Abschied von ihr rührend und tränenreich gewesen. Sie ist im Jahre 1829 in Stockholm gestorben. Als ich mich im Jahre 1858 in Stockholm aufhielt, wurde mir dort, nahe bei der Nordbrücke, ihr stattlicher Palast gezeigt, und nie bin ich dort ohne das Gefühl eines gewissen heimatlichen Zusammenhangs mit diesem Hause vorübergegangen. Merkwürdig, wie weit in die Welt hinaus solche heimatliche Beziehungen reichen können. Zur Zeit der Chieagoer Weltausstellung im Jahre 1893 traf ein Bekannter von mir vor dem Eingange zum Uellowstonepark in Wyoming, also im fernen Westen von Nordamerika, einen deutschen Mann, der dort mit allerhand Naturmerkwürdigkeiten und Andenken aus dem berühmten Nationalpark handelte und sich als einen Quedlinburger, namens Otto Schmidt, zu erkennen gab. Das hatte zu einem Gespräch über Quedlinburg und auch über mich und mein Ergehen geführt. Dieser Otto Schmidt, der Sohn eines ehrsamen Quedlin¬ burger Glasermeisters, war vor fast sechzig Jahren mit mir in unsrer Vaterstadt in die Volksschule gegangen. Er sandte mir, feinem alten Schul- und Spielkame¬ raden, über das große Wasser hinüber herzliche Grüße Natürlich spielte das stolze Kaiserschloß in Quedlinburg mit den sich daran anknüpfenden geschichtlichen Erinnerungen, die in den Bürgerhäusern der Stadt lebendig waren, anch bei der heranwachsenden Jngend eine große Rolle. Ebenso vielleicht noch mehr die Zeit, in der die Stadt zum Bunde der Nansa geholt ut sich durch die Mannhaftigkeit und den Unabhängigkeitssinn ihrer Bürger hervor getan hatte. Namentlich aber war es die Fehde, oder wie sich die alten Chroniken ausdrucken, der Krieg, deu die Quedlinburger Bürger im Bunde mit den Nachbar- städten Halberstadt und Aschersleben im vierzehnten Jahrhundert gegen die von der AbKsstn Jutta mit der Vogtei oder Schutzherrschaft über die'Stadt beliehenen Grafen von Neinstein (Regenstein) geführt hatten. In diesem Kriege hatten die tapfern Quedlinburger Bürger gegen den sein Schutzrecht arg mißbrauchender Grafen Albert von Neinstein schließlich obgesiegt und den Grafen in dem sumpfigen Terrain am Hackelteiche hinter der Bockshornschanze — die Quedlinburger sprechen diesen Namen aus: Boxohrenschanze — auf dem Wege nach der ihm gehörenden Gersdorfer Burg im Jahre 1336 gefangen, ihn in die Stadt geschleppt und dort auf dem Rathause in einem aus starken eichnen Bohlen eigens dazu gezimmerten, kleiderschrankartigen Kasten zwanzig Monate lang gefangen gehalten, ihm den Prozeß gemacht und ihn zum Tode verurteilt. Dieses Todesurteil war vom Kaiser bestätigt worden. Das Tuch war schon beschafft, auf dein der Graf gerichtet werden sollte, und das Schafott im Felde vor der Stadt hergestellt, als am 20. März 1338, wahrscheinlich dem zur Hinrichtung bestimmten Tage, der Graf in letzter Stunde sich dazu verstand, in feierlichen Reversen die Rechte der Stadt und der Äbtissin Grenzboten III 1903 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/169>, abgerufen am 24.11.2024.