Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.griechischen Dichter nuf keiner modernen Bühne einen so tief erschütternden Weh! Weh! Es liegt in grausger Klarheit alles da! Es war ein glücklicher Gedanke, im letzten Sommer zwei griechische Tra¬ Sophokles und Euripides kann man heutzutage leichter aufführen als griechischen Dichter nuf keiner modernen Bühne einen so tief erschütternden Weh! Weh! Es liegt in grausger Klarheit alles da! Es war ein glücklicher Gedanke, im letzten Sommer zwei griechische Tra¬ Sophokles und Euripides kann man heutzutage leichter aufführen als <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0162" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241376"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_665" prev="#ID_664"> griechischen Dichter nuf keiner modernen Bühne einen so tief erschütternden<lb/> Eindrnck ausüben wie ans dieser. Ich habe mehrmals den „König Ödipus"<lb/> in derselben Bühnenbearbeitung, und wenigstens was die Hauptrollen betrifft,<lb/> mit denselben Schauspielern im Pariser IliöMrö lrg,inM» gesehen; niemals<lb/> habe ich die ergreifende Wirkung des Stücks so vollkommen gefühlt, wie in<lb/> dem antiken Theater zu Orange. Auf deu engen Brettern einer heutigen<lb/> Bühne und in der schwülen Luft der meiste» Pariser Theater muß sich ein<lb/> griechisches Drama fremdartig ausnehmen. Wie anders wird es aber uuter<lb/> dem tiefblauen Himmel des Südens ertönen, wen» der vou Schuld belndue<lb/> und nach Sühne verlangende Ödipus die Hand gegen deu Himmel streckt<lb/> und die verhängnisvollen Worte ausspricht, die seinen grausigen Entschluß<lb/> ankündigen:</p><lb/> <quote> Weh! Weh! Es liegt in grausger Klarheit alles da!<lb/> Dn Himmelslicht, dich schau ich heut zum letztenmal!<lb/> Gezeugt zum Trotz der Götter, ward ich Mörder des,<lb/> Der mich gezeugt, nud der Natur zum Trotz vermählt!</quote><lb/> <p xml:id="ID_666"> Es war ein glücklicher Gedanke, im letzten Sommer zwei griechische Tra¬<lb/> gödien aufzuführen, die sich gegenseitig vervollständigen und uns dennoch zwei<lb/> verschiedne Auffassungen der antiken Tragik vor Allgen stellen: den Sopho-<lb/> kleischen „König Ödipus" und die Euripideischcu „Phvuizieriuueu." Obschott<lb/> das erste Stück in Orange keine Neuigkeit mehr ist, so hat es immer den¬<lb/> selben Erfolg. Und zwar verdankt es diesen nicht nur der ergreifenden Tragik<lb/> des Stoffes, sondern mich der ausgezeichneten Darstellungsknust Monnet-<lb/> Sullys, der sich sozusagen in die Rolle des alten Königs hineingelebt hat-<lb/> Monnet liebt seinen Helden, wie er das römische Theater liebt, dem er seine<lb/> Beförderung zum Offizier der Ehrenlegion verdankt. Und vielleicht wirkt die<lb/> Kunst des französischen Schauspielers uoch mehr, wenn man bedenkt, daß ihm<lb/> die Gefahr droht, wie sein Held zu erblinden, und daß er wahrscheinlich zum<lb/> letztenmal in Orange angehört worden ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_667" next="#ID_668"> Sophokles und Euripides kann man heutzutage leichter aufführen als<lb/> ihren großen Vorgänger Äschylus, denn seine grausigen Tragödien scheinen<lb/> ihre Bühnenfähigkeit zum größten Teil verloren zu haben. Ein Versuch, die<lb/> Erinuyeu in der kühne» Vearbeituug des vor wenig Jahren gestorbnen<lb/> Akademikers Leevnte de Liste in Orange aufzuführen, hat gezeigt, wie unsre<lb/> Zeit solchen bluttriefenden Tragödien frenid gegenüber steht. Kindesverstoßnng,<lb/> Ehebruch, Königs- nud Gatteumord, Muttermord, schauderhafte Verfluchung<lb/> des Sohnes durch die eigne Mutter, grausige Erscheinung und Umherschleichen<lb/> der Nachegöttiuucu in einem einzigen Stück, das schien auf dem Gebiete des<lb/> Entsetzlichen die heutzutage erlaubten Grenzen des Tragischen zu Überschreiten-<lb/> Sophokles aber sowie Euripides sind uns weniger fremd, denn sowohl in der<lb/> Naturwahrheit als auch in der Idealität der Auffassung steht die Charakter--<lb/> zeichuuug bei ihnen höher. Ihre Helden und Heldinnen sind unser» Herzen<lb/> und unsern Empfindungen näher gerückt als die des Äschylus. Bei ihnen<lb/> stehn die übermenschlichen Kräfte des Promethcnsdichters nicht mehr im Vorder¬<lb/> gründe: die zartern Regungen der kindliche» oder der mütterlichen Liebe, die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0162]
griechischen Dichter nuf keiner modernen Bühne einen so tief erschütternden
Eindrnck ausüben wie ans dieser. Ich habe mehrmals den „König Ödipus"
in derselben Bühnenbearbeitung, und wenigstens was die Hauptrollen betrifft,
mit denselben Schauspielern im Pariser IliöMrö lrg,inM» gesehen; niemals
habe ich die ergreifende Wirkung des Stücks so vollkommen gefühlt, wie in
dem antiken Theater zu Orange. Auf deu engen Brettern einer heutigen
Bühne und in der schwülen Luft der meiste» Pariser Theater muß sich ein
griechisches Drama fremdartig ausnehmen. Wie anders wird es aber uuter
dem tiefblauen Himmel des Südens ertönen, wen» der vou Schuld belndue
und nach Sühne verlangende Ödipus die Hand gegen deu Himmel streckt
und die verhängnisvollen Worte ausspricht, die seinen grausigen Entschluß
ankündigen:
Weh! Weh! Es liegt in grausger Klarheit alles da!
Dn Himmelslicht, dich schau ich heut zum letztenmal!
Gezeugt zum Trotz der Götter, ward ich Mörder des,
Der mich gezeugt, nud der Natur zum Trotz vermählt!
Es war ein glücklicher Gedanke, im letzten Sommer zwei griechische Tra¬
gödien aufzuführen, die sich gegenseitig vervollständigen und uns dennoch zwei
verschiedne Auffassungen der antiken Tragik vor Allgen stellen: den Sopho-
kleischen „König Ödipus" und die Euripideischcu „Phvuizieriuueu." Obschott
das erste Stück in Orange keine Neuigkeit mehr ist, so hat es immer den¬
selben Erfolg. Und zwar verdankt es diesen nicht nur der ergreifenden Tragik
des Stoffes, sondern mich der ausgezeichneten Darstellungsknust Monnet-
Sullys, der sich sozusagen in die Rolle des alten Königs hineingelebt hat-
Monnet liebt seinen Helden, wie er das römische Theater liebt, dem er seine
Beförderung zum Offizier der Ehrenlegion verdankt. Und vielleicht wirkt die
Kunst des französischen Schauspielers uoch mehr, wenn man bedenkt, daß ihm
die Gefahr droht, wie sein Held zu erblinden, und daß er wahrscheinlich zum
letztenmal in Orange angehört worden ist.
Sophokles und Euripides kann man heutzutage leichter aufführen als
ihren großen Vorgänger Äschylus, denn seine grausigen Tragödien scheinen
ihre Bühnenfähigkeit zum größten Teil verloren zu haben. Ein Versuch, die
Erinuyeu in der kühne» Vearbeituug des vor wenig Jahren gestorbnen
Akademikers Leevnte de Liste in Orange aufzuführen, hat gezeigt, wie unsre
Zeit solchen bluttriefenden Tragödien frenid gegenüber steht. Kindesverstoßnng,
Ehebruch, Königs- nud Gatteumord, Muttermord, schauderhafte Verfluchung
des Sohnes durch die eigne Mutter, grausige Erscheinung und Umherschleichen
der Nachegöttiuucu in einem einzigen Stück, das schien auf dem Gebiete des
Entsetzlichen die heutzutage erlaubten Grenzen des Tragischen zu Überschreiten-
Sophokles aber sowie Euripides sind uns weniger fremd, denn sowohl in der
Naturwahrheit als auch in der Idealität der Auffassung steht die Charakter--
zeichuuug bei ihnen höher. Ihre Helden und Heldinnen sind unser» Herzen
und unsern Empfindungen näher gerückt als die des Äschylus. Bei ihnen
stehn die übermenschlichen Kräfte des Promethcnsdichters nicht mehr im Vorder¬
gründe: die zartern Regungen der kindliche» oder der mütterlichen Liebe, die
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