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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Nationalität und Uultur

alle Volkssprachen, die erst in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters zu
literarischer Ausbildung kamen und noch bis tief in die Neuzeit hinein weder
im Völkerverkehr noch in der Wissenschaft das Lateinische zu verdrängen ver¬
mochten; das deutsch-römische Reich wollte gar kein Nationalstaat sein und war
auch keiner, sondern die Frieden gebietende und Frieden erzwingende Macht,
die Erbin des römischen Weltreichs, das in andrer Beziehung, als die höchste
Kulturmacht, von der römischen Kirche fortgesetzt wurde, und die ritterliche
Sitte vereinigte die reisigen Schildträger des ganzen Abendlandes zu einer
großen, nach denselben Gesetzen, in denselben Anschauungen lebenden Ge¬
nossenschaft, das Gegenstück des römischen Klerus. Nur in solcher Zeit waren
die Kreuzzüge möglich, Unternehmungen der größten internationalen Kultur¬
mächte des Mittelalters, der Kirche und des Rittertums.

Und wie stand es im Altertum? Es kannte nur Stadtstaaten oder Welt¬
reiche, leine nationalen Staaten. Eine national-politische Einheit auch nur
in der Form der Föderation haben die Griechen nur einmal ernsthaft zu
gründen versucht, im athenischen Reich des Perikles, aber niemals wirklich
gegründet, sie zerfielen immer in zahllose ?")^etg', weil für sie die Begriffe
Freiheit und Demokratie zusammenfielen und der einzelne Bürger seinen Anteil
an der Souveränität des Demos nur durch persönliche Teilnahme an den
Volksbeschlüssen, nicht durch Vertretung, ausüben konnte. Deshalb konnten
sie ihre nationale Unabhängigkeit nur so lange behaupten, als sich keine starke
Macht neben ihnen erhob. Auch Rom war nur eine ?,/o^s, ein Stadtstaat,
der sich allmählich die andern Stadtstaaten Italiens und endlich der Mittel-
meerlünder unterwarf. An dem Versuch, diese Stadtverfassung über ganz
Italien auszudehnen, d. h. allen freien Männern der Halbinsel das Bürger¬
recht der Stadt Rom zu geben, ohne die Möglichkeit, es wirklich auszuüben,
es sei den" in Rom, ging die Republik zu Grunde. Erst die Monarchie, die
dem Unfug souveräner Volksversammlungen, wo bestechliche und ungebildete
großstädtische Pöbelhaufen über die Angelegenheiten eines Weltreichs beschließen
sollten, eil? Ende machte, gab Italien und den Mittelmeerländern eine ver¬
nünftige und brauchbare Organisation, aber die Grundlagen des Reichs, die
?ro/>.,.c,' und im Norden der Alpen der Gau, wurden nicht zerstört; das römische
Reich war gewissermaßen eine ungeheure Föderativrepublik von Stadt¬
gemeinden, an deren Spitze mit unumschränkter Gewalt der Kaiser als Chef
der Provinzialverwaltung und des Heeres stand.

Was die Griechen trotz aller Zersplitterung und aller Stadtfehden zu¬
sammenhielt, das war das stolze Bewußtsein einer überlegnen Bildung, für
das Kultur und Hcllenentum in einen Begriff zusammenfielen. und nur daraus,
uicht aus ihrer politischen Macht, nicht aus ihrer hellenischen Nationalität
leiteten sie auch das Recht ab, die "Barbaren" zu beherrschen, ein Recht,
das Aristoteles als etwas Selbstverständliches für sie in Anspruch nimmt. Nur
deshalb, nicht durch politischen Zwang, nicht durch politische Zugehörigkeit
wurde seit Alexander dem Großen das Griechische zur Weltsprache, eroberte
die griechische Bildung die Mittelmeerlünder und den weiten Osten, unterwcirf
sich endlich das römische Herrenvolk.


Nationalität und Uultur

alle Volkssprachen, die erst in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters zu
literarischer Ausbildung kamen und noch bis tief in die Neuzeit hinein weder
im Völkerverkehr noch in der Wissenschaft das Lateinische zu verdrängen ver¬
mochten; das deutsch-römische Reich wollte gar kein Nationalstaat sein und war
auch keiner, sondern die Frieden gebietende und Frieden erzwingende Macht,
die Erbin des römischen Weltreichs, das in andrer Beziehung, als die höchste
Kulturmacht, von der römischen Kirche fortgesetzt wurde, und die ritterliche
Sitte vereinigte die reisigen Schildträger des ganzen Abendlandes zu einer
großen, nach denselben Gesetzen, in denselben Anschauungen lebenden Ge¬
nossenschaft, das Gegenstück des römischen Klerus. Nur in solcher Zeit waren
die Kreuzzüge möglich, Unternehmungen der größten internationalen Kultur¬
mächte des Mittelalters, der Kirche und des Rittertums.

Und wie stand es im Altertum? Es kannte nur Stadtstaaten oder Welt¬
reiche, leine nationalen Staaten. Eine national-politische Einheit auch nur
in der Form der Föderation haben die Griechen nur einmal ernsthaft zu
gründen versucht, im athenischen Reich des Perikles, aber niemals wirklich
gegründet, sie zerfielen immer in zahllose ?«)^etg', weil für sie die Begriffe
Freiheit und Demokratie zusammenfielen und der einzelne Bürger seinen Anteil
an der Souveränität des Demos nur durch persönliche Teilnahme an den
Volksbeschlüssen, nicht durch Vertretung, ausüben konnte. Deshalb konnten
sie ihre nationale Unabhängigkeit nur so lange behaupten, als sich keine starke
Macht neben ihnen erhob. Auch Rom war nur eine ?,/o^s, ein Stadtstaat,
der sich allmählich die andern Stadtstaaten Italiens und endlich der Mittel-
meerlünder unterwarf. An dem Versuch, diese Stadtverfassung über ganz
Italien auszudehnen, d. h. allen freien Männern der Halbinsel das Bürger¬
recht der Stadt Rom zu geben, ohne die Möglichkeit, es wirklich auszuüben,
es sei den« in Rom, ging die Republik zu Grunde. Erst die Monarchie, die
dem Unfug souveräner Volksversammlungen, wo bestechliche und ungebildete
großstädtische Pöbelhaufen über die Angelegenheiten eines Weltreichs beschließen
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Reich war gewissermaßen eine ungeheure Föderativrepublik von Stadt¬
gemeinden, an deren Spitze mit unumschränkter Gewalt der Kaiser als Chef
der Provinzialverwaltung und des Heeres stand.

Was die Griechen trotz aller Zersplitterung und aller Stadtfehden zu¬
sammenhielt, das war das stolze Bewußtsein einer überlegnen Bildung, für
das Kultur und Hcllenentum in einen Begriff zusammenfielen. und nur daraus,
uicht aus ihrer politischen Macht, nicht aus ihrer hellenischen Nationalität
leiteten sie auch das Recht ab, die „Barbaren" zu beherrschen, ein Recht,
das Aristoteles als etwas Selbstverständliches für sie in Anspruch nimmt. Nur
deshalb, nicht durch politischen Zwang, nicht durch politische Zugehörigkeit
wurde seit Alexander dem Großen das Griechische zur Weltsprache, eroberte
die griechische Bildung die Mittelmeerlünder und den weiten Osten, unterwcirf
sich endlich das römische Herrenvolk.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/68>, abgerufen am 23.07.2024.