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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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(Line Übersiedlung vor hundert Jahren

hands erkundigte. Auch brachte er mir einen so freundlichen Brief von der Schillern,
daß ich mich fast schäme, ihn noch nicht beantwortet zu haben. Die liebe Schillern
begreift es indeß gewiß, daß ich jetzt nichts kann, als was ich für euch hinschmiere.
Schöne, gar herrliche Gegenden haben wir allenthalben gesehen und meistens gute Wege.

Fulda hat uns nicht angezogen, es ist auch ein kalter Ort, doch hat man
schöne Forellen dort! Die Nacht nach dieser waren wir in Gellighnus, wo es
uns auch recht gut gefiel; nur war der Weg in die Stadt hinunter fürchterlich
tief, welches dem armen Vogel so schlimm bekam, daß er ganz krank ankam; er
konnte das eine Bein nicht rühren. Wir wuschen ihn mit Wein und ließen ihn,
während wir aßen, im Zimmer herumfliegen. In Hanau frühstückten wir und
um halb zwölf waren wir in der schönen Stadt Frankfurt. Von Hanau nach
Frankfurt sichren wir den herrlichsten, fruchtbarsten Weg, den man sehen kann,
immer im Galopp; schöneres Korn habe ich in meinem Leben nicht gesehen, selbst
in der Marsch nicht; der Roggen ist fast zum Schneiden reif. Im Englischen Hof
stiegen wir in Frankfurt ab, dies ist ein Ungeheuer von einem Gasthof. Wir be¬
kamen, als ob wir es bestellt hätten, ein Zimmer mit Jakobi's in einer Reihe, die
sich sehr zu uns, fast noch mehr zu deu Perücken freuten. Wir hatten mehr Lust,
uns zu waschen und rein umzukleiden, als mit zur Schlossern zu gehn; wir aßen
also an der großen, prächtig besetzten Wirtstafel mit 28 Personen; mein Herz
ward besonders durch den schön gekochten frischen Lachs gerührt! Den Nachtisch
gaben wir auf, weil uns das Ding zu langweilig war, und trafen sie bei der
Schlosser'" noch am Nachtisch. Hier brachten wir den Nachmittag sehr vergnügt
zu, sahen Fritz Schlosser, seine Mutter (die mich sehr anzog) und seine Schwester,
auch ein liebes Mädel, und besuchten die Frau Rat Göthe, eine äußerst merk¬
würdige Frau. Im zweiuudsiebzigsten Jahr, rot geschminkt, die Stirn voll dunkel¬
brauner Locken, kurze Ärmel bis eine Hand breit über den Ellbogen, aber weit ge¬
fehlt, daß man Lust hat, ihr das übel zu nehmen. Bei der vollen Lebhaftigkeit
in Rede und Gang ist es einem, als ob es ganz so sein müsse. Die frohe offne
Laune, mit der sie über sich selbst und alles, was ihr vorkommt, spricht, macht
einen ihr Alter völlig vergessen. Es ist ganz wunderbar, wie Göthe seiner Mutter
gleicht. Sie kam ganz in Entzücken über Papa seinen Besuch und hat uns in der
Stunde, die wir da waren, so viel erzählt, daß manche den Inhalt dieses Gesprächs
in einen ganzen Nachmittag gebracht hätten und einem doch nicht wenig gegeben
hätten. Sie hat eine eigene Gabe, alles was auf Erden zu genießen ist, zu ge¬
nießen und das Unangenehme von sich weg zu schieben. Von dem jungen raschen
Wolf (so nennt sie ihren Sohn) hat sie uns viel erzählt, von dem kranken schien
sie nichts zu wissen. Zu Abend blieben wir nicht bei der Schlossern, weil ich un¬
leidlich müde war, und den folgenden Tag um elf fuhren wir weiter. Bis Darm-
stadt hatten wir eine mühselige Fahrt; unser eines Pferd, das blind war, schlug
immer hinten ans, so stark, daß wir vor Angst nicht im Wagen aushielten, sondern
lang zu Fuß gingen. Endlich beredete uns der Postillon einzusteigen und setzte
sich auf den Gaul, da ging es leidlich. Jenseits Darmstadt fängt die Bergstraße
und unser Paradies an. Ohne Aufhören sieht man neue Gegenstände. Wer so
etwas mir einigermaßen beschreiben könnte! Die Nacht schliefen wir in Heppenheim,
wo die Sonne hinter einem Berg unterging und hinter dem andern emporstieg;
das war ein Jubel! Leibliches Wetter haben wir den ganzen Weg gehabt und
den letzten Tag herrliches, zum Jubeln herrliches.

Morgen ziehen wir ein; ich habe notdürftig Sachen zusammen, denn die unsern
sind noch nicht da. Wenn ihr gesehen, in welchen unruhigen Umgebungen und wie
oft unterbrochen ich dies geschrieben, so würdet ihr euch wundern und mir die
Hand küssen, daß ich geschrieben habe. Es gehört bet mir mit zur Muttertreue,
euch mitzuteilen. Bald schreibe ich mehr, zum nachlesen ist noch Zeit. Grüßt
alles, was uns lieb hat, herzlich von Vater und Mutter, und schreibt bald, es ist
so tröstlich. Papa grüßt wie eure treue Mutter E. V.


Grenzboten le 1903 67
(Line Übersiedlung vor hundert Jahren

hands erkundigte. Auch brachte er mir einen so freundlichen Brief von der Schillern,
daß ich mich fast schäme, ihn noch nicht beantwortet zu haben. Die liebe Schillern
begreift es indeß gewiß, daß ich jetzt nichts kann, als was ich für euch hinschmiere.
Schöne, gar herrliche Gegenden haben wir allenthalben gesehen und meistens gute Wege.

Fulda hat uns nicht angezogen, es ist auch ein kalter Ort, doch hat man
schöne Forellen dort! Die Nacht nach dieser waren wir in Gellighnus, wo es
uns auch recht gut gefiel; nur war der Weg in die Stadt hinunter fürchterlich
tief, welches dem armen Vogel so schlimm bekam, daß er ganz krank ankam; er
konnte das eine Bein nicht rühren. Wir wuschen ihn mit Wein und ließen ihn,
während wir aßen, im Zimmer herumfliegen. In Hanau frühstückten wir und
um halb zwölf waren wir in der schönen Stadt Frankfurt. Von Hanau nach
Frankfurt sichren wir den herrlichsten, fruchtbarsten Weg, den man sehen kann,
immer im Galopp; schöneres Korn habe ich in meinem Leben nicht gesehen, selbst
in der Marsch nicht; der Roggen ist fast zum Schneiden reif. Im Englischen Hof
stiegen wir in Frankfurt ab, dies ist ein Ungeheuer von einem Gasthof. Wir be¬
kamen, als ob wir es bestellt hätten, ein Zimmer mit Jakobi's in einer Reihe, die
sich sehr zu uns, fast noch mehr zu deu Perücken freuten. Wir hatten mehr Lust,
uns zu waschen und rein umzukleiden, als mit zur Schlossern zu gehn; wir aßen
also an der großen, prächtig besetzten Wirtstafel mit 28 Personen; mein Herz
ward besonders durch den schön gekochten frischen Lachs gerührt! Den Nachtisch
gaben wir auf, weil uns das Ding zu langweilig war, und trafen sie bei der
Schlosser'» noch am Nachtisch. Hier brachten wir den Nachmittag sehr vergnügt
zu, sahen Fritz Schlosser, seine Mutter (die mich sehr anzog) und seine Schwester,
auch ein liebes Mädel, und besuchten die Frau Rat Göthe, eine äußerst merk¬
würdige Frau. Im zweiuudsiebzigsten Jahr, rot geschminkt, die Stirn voll dunkel¬
brauner Locken, kurze Ärmel bis eine Hand breit über den Ellbogen, aber weit ge¬
fehlt, daß man Lust hat, ihr das übel zu nehmen. Bei der vollen Lebhaftigkeit
in Rede und Gang ist es einem, als ob es ganz so sein müsse. Die frohe offne
Laune, mit der sie über sich selbst und alles, was ihr vorkommt, spricht, macht
einen ihr Alter völlig vergessen. Es ist ganz wunderbar, wie Göthe seiner Mutter
gleicht. Sie kam ganz in Entzücken über Papa seinen Besuch und hat uns in der
Stunde, die wir da waren, so viel erzählt, daß manche den Inhalt dieses Gesprächs
in einen ganzen Nachmittag gebracht hätten und einem doch nicht wenig gegeben
hätten. Sie hat eine eigene Gabe, alles was auf Erden zu genießen ist, zu ge¬
nießen und das Unangenehme von sich weg zu schieben. Von dem jungen raschen
Wolf (so nennt sie ihren Sohn) hat sie uns viel erzählt, von dem kranken schien
sie nichts zu wissen. Zu Abend blieben wir nicht bei der Schlossern, weil ich un¬
leidlich müde war, und den folgenden Tag um elf fuhren wir weiter. Bis Darm-
stadt hatten wir eine mühselige Fahrt; unser eines Pferd, das blind war, schlug
immer hinten ans, so stark, daß wir vor Angst nicht im Wagen aushielten, sondern
lang zu Fuß gingen. Endlich beredete uns der Postillon einzusteigen und setzte
sich auf den Gaul, da ging es leidlich. Jenseits Darmstadt fängt die Bergstraße
und unser Paradies an. Ohne Aufhören sieht man neue Gegenstände. Wer so
etwas mir einigermaßen beschreiben könnte! Die Nacht schliefen wir in Heppenheim,
wo die Sonne hinter einem Berg unterging und hinter dem andern emporstieg;
das war ein Jubel! Leibliches Wetter haben wir den ganzen Weg gehabt und
den letzten Tag herrliches, zum Jubeln herrliches.

Morgen ziehen wir ein; ich habe notdürftig Sachen zusammen, denn die unsern
sind noch nicht da. Wenn ihr gesehen, in welchen unruhigen Umgebungen und wie
oft unterbrochen ich dies geschrieben, so würdet ihr euch wundern und mir die
Hand küssen, daß ich geschrieben habe. Es gehört bet mir mit zur Muttertreue,
euch mitzuteilen. Bald schreibe ich mehr, zum nachlesen ist noch Zeit. Grüßt
alles, was uns lieb hat, herzlich von Vater und Mutter, und schreibt bald, es ist
so tröstlich. Papa grüßt wie eure treue Mutter E. V.


Grenzboten le 1903 67
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[0677] (Line Übersiedlung vor hundert Jahren hands erkundigte. Auch brachte er mir einen so freundlichen Brief von der Schillern, daß ich mich fast schäme, ihn noch nicht beantwortet zu haben. Die liebe Schillern begreift es indeß gewiß, daß ich jetzt nichts kann, als was ich für euch hinschmiere. Schöne, gar herrliche Gegenden haben wir allenthalben gesehen und meistens gute Wege. Fulda hat uns nicht angezogen, es ist auch ein kalter Ort, doch hat man schöne Forellen dort! Die Nacht nach dieser waren wir in Gellighnus, wo es uns auch recht gut gefiel; nur war der Weg in die Stadt hinunter fürchterlich tief, welches dem armen Vogel so schlimm bekam, daß er ganz krank ankam; er konnte das eine Bein nicht rühren. Wir wuschen ihn mit Wein und ließen ihn, während wir aßen, im Zimmer herumfliegen. In Hanau frühstückten wir und um halb zwölf waren wir in der schönen Stadt Frankfurt. Von Hanau nach Frankfurt sichren wir den herrlichsten, fruchtbarsten Weg, den man sehen kann, immer im Galopp; schöneres Korn habe ich in meinem Leben nicht gesehen, selbst in der Marsch nicht; der Roggen ist fast zum Schneiden reif. Im Englischen Hof stiegen wir in Frankfurt ab, dies ist ein Ungeheuer von einem Gasthof. Wir be¬ kamen, als ob wir es bestellt hätten, ein Zimmer mit Jakobi's in einer Reihe, die sich sehr zu uns, fast noch mehr zu deu Perücken freuten. Wir hatten mehr Lust, uns zu waschen und rein umzukleiden, als mit zur Schlossern zu gehn; wir aßen also an der großen, prächtig besetzten Wirtstafel mit 28 Personen; mein Herz ward besonders durch den schön gekochten frischen Lachs gerührt! Den Nachtisch gaben wir auf, weil uns das Ding zu langweilig war, und trafen sie bei der Schlosser'» noch am Nachtisch. Hier brachten wir den Nachmittag sehr vergnügt zu, sahen Fritz Schlosser, seine Mutter (die mich sehr anzog) und seine Schwester, auch ein liebes Mädel, und besuchten die Frau Rat Göthe, eine äußerst merk¬ würdige Frau. Im zweiuudsiebzigsten Jahr, rot geschminkt, die Stirn voll dunkel¬ brauner Locken, kurze Ärmel bis eine Hand breit über den Ellbogen, aber weit ge¬ fehlt, daß man Lust hat, ihr das übel zu nehmen. Bei der vollen Lebhaftigkeit in Rede und Gang ist es einem, als ob es ganz so sein müsse. Die frohe offne Laune, mit der sie über sich selbst und alles, was ihr vorkommt, spricht, macht einen ihr Alter völlig vergessen. Es ist ganz wunderbar, wie Göthe seiner Mutter gleicht. Sie kam ganz in Entzücken über Papa seinen Besuch und hat uns in der Stunde, die wir da waren, so viel erzählt, daß manche den Inhalt dieses Gesprächs in einen ganzen Nachmittag gebracht hätten und einem doch nicht wenig gegeben hätten. Sie hat eine eigene Gabe, alles was auf Erden zu genießen ist, zu ge¬ nießen und das Unangenehme von sich weg zu schieben. Von dem jungen raschen Wolf (so nennt sie ihren Sohn) hat sie uns viel erzählt, von dem kranken schien sie nichts zu wissen. Zu Abend blieben wir nicht bei der Schlossern, weil ich un¬ leidlich müde war, und den folgenden Tag um elf fuhren wir weiter. Bis Darm- stadt hatten wir eine mühselige Fahrt; unser eines Pferd, das blind war, schlug immer hinten ans, so stark, daß wir vor Angst nicht im Wagen aushielten, sondern lang zu Fuß gingen. Endlich beredete uns der Postillon einzusteigen und setzte sich auf den Gaul, da ging es leidlich. Jenseits Darmstadt fängt die Bergstraße und unser Paradies an. Ohne Aufhören sieht man neue Gegenstände. Wer so etwas mir einigermaßen beschreiben könnte! Die Nacht schliefen wir in Heppenheim, wo die Sonne hinter einem Berg unterging und hinter dem andern emporstieg; das war ein Jubel! Leibliches Wetter haben wir den ganzen Weg gehabt und den letzten Tag herrliches, zum Jubeln herrliches. Morgen ziehen wir ein; ich habe notdürftig Sachen zusammen, denn die unsern sind noch nicht da. Wenn ihr gesehen, in welchen unruhigen Umgebungen und wie oft unterbrochen ich dies geschrieben, so würdet ihr euch wundern und mir die Hand küssen, daß ich geschrieben habe. Es gehört bet mir mit zur Muttertreue, euch mitzuteilen. Bald schreibe ich mehr, zum nachlesen ist noch Zeit. Grüßt alles, was uns lieb hat, herzlich von Vater und Mutter, und schreibt bald, es ist so tröstlich. Papa grüßt wie eure treue Mutter E. V. Grenzboten le 1903 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/677>, abgerufen am 28.07.2024.