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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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dcckungcn aus, die sich einem bei jedem Schritt darbieten. Es ist keine Felsenritze,
wo nicht das herrlichste Leben hervorstrebt, selbst nnter dem tiefen Schloßgemäuer,
welches jetzt ganz wegsam gemacht ist. Wir stiegen erst zum halb umgefallenen
Thurm herunter, wo eine Quelle die Felswand herunter unter Epheuranken rieselt
und dann noch tiefer, wo die höchsten Bäume dem Licht entgegenstreben und wo
man noch schöne Lauben findet. Wie wünschte ich euch da um mich. Papa kam
noch einige Schritte zurück, um mir einen gewaltigen Kirschbaum zu zeigen, der
unten schmale dünne Zweige hatte und in der Spitze die schönsten Kirschen trug.
Hier gab uns die untergehende Sonne ein herrliches Licht.

Mit einmal hörten wir Musik und ein allgemein freudiges Rufen, der Kur¬
fürst wäre da; wir eilten auch herauf und stellten uns an der Straße in Reih
und Glied. Ein kernfester alter Mann, mit ehrwürdigen weiße" Haar, ging an
uns vorüber und grüßte jeden freundlich. Papa ward ihm von Herrn von Reizeu-
stcin vorgestellt; er redete ihn sehr freundlich an. Auch ich mußte mich vorstellen
lassen, welches mir doch einen gewaltigen Schreck gab. Der Kurfürst hat eine
gewaltige Freude an Heidelberg und an dem wieder aufblühenden Garten. Er
hielt sich gegen zwei Stunden dort auf und Papa hat ihn noch einmal gesprochen.
Er hat selbst eine gewisse Blödigkeit, wenn er jemand anredet; die verliert sich
aber, wenn sich einer zutraulich naht. Wir speisten nachher zu Abend im großen
Saal, ländlich und lustig, kalten Braten, Schinken, Kuchen, Milch und Obst. Wein
versteht sich von selbst. Recht lustig ging's her, denu es wurde noch gesungen und
so ging es uni zehn Uhr paarweise den Berg herunter. Mich führte ein Land¬
pfarrer, der sehr dick und lustig war, der hat uns auch gebeten, ihn zu besuchen.
Schön nimmt sich das Licht in allen Häusern aus, wenn man bergunter geht; man
glaubt sich mitten im Walde zu sein. Wunderbar, sagte mir gestern einer, müßte
jemand in Heidelberg wohnen, der nicht irgend eine Bergspitze sähe. Mobilien
haben wir noch nicht; was ich heute zum kaufen besehen habe, gefällt mir nicht
recht, also werde ich mir für die erste Not etwas mieten. Leiden will uns jeder
auch gerne und viel haben wir nicht nötig. Mir kommt es nur immer vor, als
ob ich in die Berge müsse, um unter den Bäumen zu sitzen; wir werden wohl
aus Neigung noch eine Weile herumschwnrmen. Wie hier selbst die Damen spazieren
und klettern können, das geht ins Große. Daß hier die Lebensmtttel sehr wohl¬
feil sind, hören wir aller Orten, aber was alles kostet, das vergesse ich so wieder,
wie ich es höre; wenn ich erst wieder Hausfrau bin, werde ich es wohl behalten.
Das Holz ist hier nicht theurer wie in Jena und man hat immer sein bestimmtes
Maß, ohne daß man selbst nachmessen darf, weil es unter Polizei steht.

Von unsrer Reise könnte ich noch manches erzählen, wenn es durch die neuen
Eindrücke nicht alles verwischt wäre. Aus Eisenach fuhren wir um eins ab, tranken
in Berta Kaffe und kamen um sechs in Loch an, wo man uns wenigstens ein
leidliches Nachtlager zugesichert hatte, aber was ähnliches findet man schwer auf
Erden von Armut, der "goldene Engel" hieß der Gasthof und der Wirt hatte
noch allerlei Handel daneben. Rein nichts war im Hause. Spinatkohl wollte
man kochen, aber danach lüftete uns nicht. Wir ließen Mehl, Eier und Milch
holen und Julchen backte einen Eierkuchen in einem großen Suppeutiegel. Kaum
Teller waren da, doch ein leidliches Zimmer und ein Bette; die Leute gaben ihre
eigenen Betten her und doch reine Betttücher. Wir schliefen leidlich. Die Armut
im Hessischen ist unbegrenzt. In den Dörfern und Städtchen umringen einen die
Bettler. Eine Station weiter hatten wir recht gutes Nachtlager gehabt. Dies
war in einem katholischen Städtchen, wo wir um Mittag ankamen. Wir waren
hungrig, aber in der Küche erfuhr ich, es sei Fasttag und gäbe überall kein Fleisch.
Die dicke Erbsensuppe, die im großen Kessel war, gefiel mir nicht, also baten wir
um weiche Eier und Wurst. Die Nacht fanden wir gutes Quartier in Fulda und
gutes Essen. Hier ruhten wir uns recht aus und "ahmen Besuche an vou Meißner,
Weiße und noch von einem jungen sehr lebendigen Leipziger, der Weidenbach heißt.
Auch besuchte uns Hvrbauer, der uns gar sehr gefiel und der sich sehr nach Gries-


Line Übersiedlung vor hundert Jahren

dcckungcn aus, die sich einem bei jedem Schritt darbieten. Es ist keine Felsenritze,
wo nicht das herrlichste Leben hervorstrebt, selbst nnter dem tiefen Schloßgemäuer,
welches jetzt ganz wegsam gemacht ist. Wir stiegen erst zum halb umgefallenen
Thurm herunter, wo eine Quelle die Felswand herunter unter Epheuranken rieselt
und dann noch tiefer, wo die höchsten Bäume dem Licht entgegenstreben und wo
man noch schöne Lauben findet. Wie wünschte ich euch da um mich. Papa kam
noch einige Schritte zurück, um mir einen gewaltigen Kirschbaum zu zeigen, der
unten schmale dünne Zweige hatte und in der Spitze die schönsten Kirschen trug.
Hier gab uns die untergehende Sonne ein herrliches Licht.

Mit einmal hörten wir Musik und ein allgemein freudiges Rufen, der Kur¬
fürst wäre da; wir eilten auch herauf und stellten uns an der Straße in Reih
und Glied. Ein kernfester alter Mann, mit ehrwürdigen weiße» Haar, ging an
uns vorüber und grüßte jeden freundlich. Papa ward ihm von Herrn von Reizeu-
stcin vorgestellt; er redete ihn sehr freundlich an. Auch ich mußte mich vorstellen
lassen, welches mir doch einen gewaltigen Schreck gab. Der Kurfürst hat eine
gewaltige Freude an Heidelberg und an dem wieder aufblühenden Garten. Er
hielt sich gegen zwei Stunden dort auf und Papa hat ihn noch einmal gesprochen.
Er hat selbst eine gewisse Blödigkeit, wenn er jemand anredet; die verliert sich
aber, wenn sich einer zutraulich naht. Wir speisten nachher zu Abend im großen
Saal, ländlich und lustig, kalten Braten, Schinken, Kuchen, Milch und Obst. Wein
versteht sich von selbst. Recht lustig ging's her, denu es wurde noch gesungen und
so ging es uni zehn Uhr paarweise den Berg herunter. Mich führte ein Land¬
pfarrer, der sehr dick und lustig war, der hat uns auch gebeten, ihn zu besuchen.
Schön nimmt sich das Licht in allen Häusern aus, wenn man bergunter geht; man
glaubt sich mitten im Walde zu sein. Wunderbar, sagte mir gestern einer, müßte
jemand in Heidelberg wohnen, der nicht irgend eine Bergspitze sähe. Mobilien
haben wir noch nicht; was ich heute zum kaufen besehen habe, gefällt mir nicht
recht, also werde ich mir für die erste Not etwas mieten. Leiden will uns jeder
auch gerne und viel haben wir nicht nötig. Mir kommt es nur immer vor, als
ob ich in die Berge müsse, um unter den Bäumen zu sitzen; wir werden wohl
aus Neigung noch eine Weile herumschwnrmen. Wie hier selbst die Damen spazieren
und klettern können, das geht ins Große. Daß hier die Lebensmtttel sehr wohl¬
feil sind, hören wir aller Orten, aber was alles kostet, das vergesse ich so wieder,
wie ich es höre; wenn ich erst wieder Hausfrau bin, werde ich es wohl behalten.
Das Holz ist hier nicht theurer wie in Jena und man hat immer sein bestimmtes
Maß, ohne daß man selbst nachmessen darf, weil es unter Polizei steht.

Von unsrer Reise könnte ich noch manches erzählen, wenn es durch die neuen
Eindrücke nicht alles verwischt wäre. Aus Eisenach fuhren wir um eins ab, tranken
in Berta Kaffe und kamen um sechs in Loch an, wo man uns wenigstens ein
leidliches Nachtlager zugesichert hatte, aber was ähnliches findet man schwer auf
Erden von Armut, der „goldene Engel" hieß der Gasthof und der Wirt hatte
noch allerlei Handel daneben. Rein nichts war im Hause. Spinatkohl wollte
man kochen, aber danach lüftete uns nicht. Wir ließen Mehl, Eier und Milch
holen und Julchen backte einen Eierkuchen in einem großen Suppeutiegel. Kaum
Teller waren da, doch ein leidliches Zimmer und ein Bette; die Leute gaben ihre
eigenen Betten her und doch reine Betttücher. Wir schliefen leidlich. Die Armut
im Hessischen ist unbegrenzt. In den Dörfern und Städtchen umringen einen die
Bettler. Eine Station weiter hatten wir recht gutes Nachtlager gehabt. Dies
war in einem katholischen Städtchen, wo wir um Mittag ankamen. Wir waren
hungrig, aber in der Küche erfuhr ich, es sei Fasttag und gäbe überall kein Fleisch.
Die dicke Erbsensuppe, die im großen Kessel war, gefiel mir nicht, also baten wir
um weiche Eier und Wurst. Die Nacht fanden wir gutes Quartier in Fulda und
gutes Essen. Hier ruhten wir uns recht aus und «ahmen Besuche an vou Meißner,
Weiße und noch von einem jungen sehr lebendigen Leipziger, der Weidenbach heißt.
Auch besuchte uns Hvrbauer, der uns gar sehr gefiel und der sich sehr nach Gries-


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[0676] Line Übersiedlung vor hundert Jahren dcckungcn aus, die sich einem bei jedem Schritt darbieten. Es ist keine Felsenritze, wo nicht das herrlichste Leben hervorstrebt, selbst nnter dem tiefen Schloßgemäuer, welches jetzt ganz wegsam gemacht ist. Wir stiegen erst zum halb umgefallenen Thurm herunter, wo eine Quelle die Felswand herunter unter Epheuranken rieselt und dann noch tiefer, wo die höchsten Bäume dem Licht entgegenstreben und wo man noch schöne Lauben findet. Wie wünschte ich euch da um mich. Papa kam noch einige Schritte zurück, um mir einen gewaltigen Kirschbaum zu zeigen, der unten schmale dünne Zweige hatte und in der Spitze die schönsten Kirschen trug. Hier gab uns die untergehende Sonne ein herrliches Licht. Mit einmal hörten wir Musik und ein allgemein freudiges Rufen, der Kur¬ fürst wäre da; wir eilten auch herauf und stellten uns an der Straße in Reih und Glied. Ein kernfester alter Mann, mit ehrwürdigen weiße» Haar, ging an uns vorüber und grüßte jeden freundlich. Papa ward ihm von Herrn von Reizeu- stcin vorgestellt; er redete ihn sehr freundlich an. Auch ich mußte mich vorstellen lassen, welches mir doch einen gewaltigen Schreck gab. Der Kurfürst hat eine gewaltige Freude an Heidelberg und an dem wieder aufblühenden Garten. Er hielt sich gegen zwei Stunden dort auf und Papa hat ihn noch einmal gesprochen. Er hat selbst eine gewisse Blödigkeit, wenn er jemand anredet; die verliert sich aber, wenn sich einer zutraulich naht. Wir speisten nachher zu Abend im großen Saal, ländlich und lustig, kalten Braten, Schinken, Kuchen, Milch und Obst. Wein versteht sich von selbst. Recht lustig ging's her, denu es wurde noch gesungen und so ging es uni zehn Uhr paarweise den Berg herunter. Mich führte ein Land¬ pfarrer, der sehr dick und lustig war, der hat uns auch gebeten, ihn zu besuchen. Schön nimmt sich das Licht in allen Häusern aus, wenn man bergunter geht; man glaubt sich mitten im Walde zu sein. Wunderbar, sagte mir gestern einer, müßte jemand in Heidelberg wohnen, der nicht irgend eine Bergspitze sähe. Mobilien haben wir noch nicht; was ich heute zum kaufen besehen habe, gefällt mir nicht recht, also werde ich mir für die erste Not etwas mieten. Leiden will uns jeder auch gerne und viel haben wir nicht nötig. Mir kommt es nur immer vor, als ob ich in die Berge müsse, um unter den Bäumen zu sitzen; wir werden wohl aus Neigung noch eine Weile herumschwnrmen. Wie hier selbst die Damen spazieren und klettern können, das geht ins Große. Daß hier die Lebensmtttel sehr wohl¬ feil sind, hören wir aller Orten, aber was alles kostet, das vergesse ich so wieder, wie ich es höre; wenn ich erst wieder Hausfrau bin, werde ich es wohl behalten. Das Holz ist hier nicht theurer wie in Jena und man hat immer sein bestimmtes Maß, ohne daß man selbst nachmessen darf, weil es unter Polizei steht. Von unsrer Reise könnte ich noch manches erzählen, wenn es durch die neuen Eindrücke nicht alles verwischt wäre. Aus Eisenach fuhren wir um eins ab, tranken in Berta Kaffe und kamen um sechs in Loch an, wo man uns wenigstens ein leidliches Nachtlager zugesichert hatte, aber was ähnliches findet man schwer auf Erden von Armut, der „goldene Engel" hieß der Gasthof und der Wirt hatte noch allerlei Handel daneben. Rein nichts war im Hause. Spinatkohl wollte man kochen, aber danach lüftete uns nicht. Wir ließen Mehl, Eier und Milch holen und Julchen backte einen Eierkuchen in einem großen Suppeutiegel. Kaum Teller waren da, doch ein leidliches Zimmer und ein Bette; die Leute gaben ihre eigenen Betten her und doch reine Betttücher. Wir schliefen leidlich. Die Armut im Hessischen ist unbegrenzt. In den Dörfern und Städtchen umringen einen die Bettler. Eine Station weiter hatten wir recht gutes Nachtlager gehabt. Dies war in einem katholischen Städtchen, wo wir um Mittag ankamen. Wir waren hungrig, aber in der Küche erfuhr ich, es sei Fasttag und gäbe überall kein Fleisch. Die dicke Erbsensuppe, die im großen Kessel war, gefiel mir nicht, also baten wir um weiche Eier und Wurst. Die Nacht fanden wir gutes Quartier in Fulda und gutes Essen. Hier ruhten wir uns recht aus und «ahmen Besuche an vou Meißner, Weiße und noch von einem jungen sehr lebendigen Leipziger, der Weidenbach heißt. Auch besuchte uns Hvrbauer, der uns gar sehr gefiel und der sich sehr nach Gries-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/676>, abgerufen am 21.06.2024.