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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

steht der Name Gottes; Gott hat diese Eigenschaften gegeben, damit wir das
Schöne, Wahre und Gute, deren Quelle er ist, und die zu ihm führen, erfassen. Ihr
müßt von diesen großen Dingen, die als Eigenschaften in euch schlummern, Besitz
ergreifen; ihr müßt die Eigenschaften aufgreifen, die eure Seele bilden. Erst wenn
sie ihre eignen Kräfte entwickelt hat, wird eure göttliche Seele mit vollem Bewußtsein
"Ich" sagen können." Und Monseigneur Dadolle verlangt bei der Erziehung der
Mädchen zuerst die Entwicklung dieser Eigenschaften, weil die Mädchen <ni'on,ore>8
i-aisonnadlss et rospoiwMos seien, und dann erst ihre Erziehung für die Mission
des Weibes als Gattin und Mutter. -- In der Anerkennung der Prinzipien sind
wir mit dem französischen Prälaten vollständig einig; aber mit dem Wege, den
er als allein richtigen eingeschlagen haben will, die Entwicklung durch den Unter¬
richt in der katholischen Philosophie in den Mädchenschulen herbeizuführen,
ist uns nicht gedient. Was bei dem männlichen Geschlechte versucht wird, um die
kantische höchste Entwicklung zur Vollkommenheit herbeizuführen, sollte bei dem weib¬
lich M. en Geschlecht in ähnlicher Weise angewandt werde".


Frei zum Dienst!*)

Die Geschichte eines jungen Mädchens von starkem Geist
Glauben und Charakter, das trotz eines Herzens voll kindlicher Liebe aus dem mutter¬
losen Vaterhaus im Kampfe scheidet, um sich im Diakonissenberuf ein tätiges Leben zu
schaffen. Man fühlt es an einer Menge von Einzelzügen, die nnr erlebt sein können, und
an der lebenswarmen Stimmung, in der die Erinnerung an eigne Kampfe stark uach-
bebt, daß in diesem Buche uicht von außen her berichtet wird. Die Tragik eines jungen
Lebens, das rein und edel aus unedler oder gleichgiltiger Umgebung herauswächst,
vou der es sich nicht ganz losmachen kann und darf, ergreift und erschüttert uns
umsomehr, als wir deu Irrtum miterleben, worin das Mädchen an der Meinung
hinstreift, die Familienbande, "die die Gelenke blutig scheuern," hielten die Meuscheu
uur in ihrer Entwicklung zurück, nagelten sie nnter lauter Kleinigkeiten und Ein¬
heiten fest. Ihr trotz alledem richtig fühlendes Herz erkennt mit der genialen
Schärfe des Blicks, die dem aufrichtigen Menschenkind zu eigen ist: "Wir sind eben
keine rechte Familie"; nud während sie einen Bruder in die Verbrecherlaufbnhn
hinabgleiten und jäh zerschellen sieht, kehrt sie zeitig genug zum Vater zurück, daß
sie seine letzten Lebenswochen mit der hingebenden Pflege verschönen kann, die sie
bis dahin den Kranken im Hospital gewidmet hatte. Und nun erst stellt sie sich
in andrer Weise ganz frei in den Dienst der leidenden Menschheit, indem sie sich
zur Ärztin ausbildet, eine der ersten, die in deutscheu Landen dieses Wagnis unter-
nahmen. Zugleich hal sich eine Jugendliebe, die früh durch eine elementare Kraft
zerrissen worden war, zur Freundschaft geläutert. Wir sehen am Schluß in ein
Leben, worin sich die Heldin frei zum Dienst stellt und allem Anschein "ach ihr
Glück findet, weil sie dienen darf, ohne daß ihr der Dienst von außen her auf¬
erlegt und in allen kleinste" Einzelheiten bestimmt worden wäre. Dieses starke Mädchen
beugt sich willig ihrer hohen Aufgabe, die, wie der Geistliche ihr beim Eintritt
sagte, Dienst und abermals Dienst und immerfort Dienst ist, und zwar bedingungs¬
los und peinlich gehorchender Dienst, aber sie kann sich nicht damit abfinden, daß
es nur ein Dienstverhältnis und kein andres in dem Kreise der Schwestern gibt.
Sie fühlt Kräfte in sich, die in den Arbeiten, die man ihr überträgt, uicht zur
Anwendung komme"; sie fühlt sich de" meisten andern Schwestern überlege", nicht
bloß an Bildung, sondern much an Einsicht in das, was in der Krankenpflege nötig
ist, und gerade daraus entwickelt sich ihr Konflikt. Die in Diakonissenkrcisen ge¬
bräuchliche Rede: eine Schwester soll ein Drittel Arzt, ein Drittel Pfarrer, ein
Drittel Magd sein, findet ans sie in einem unerwarteten Sinn Anwendung. Auch
machen auf sie die weibliche" Kranke" einen tiefen Eindruck, die zu spät ärztliche
Hilfe suchen, weil ihr Schamgefühl sie verhinderte, sich einen: Mann anzuvertrauen;
eine Fremde, die als Ärztin ausgebildet, ihre letzte Schulung in der Krankenpflege



Eine Diakonisfcnqeschichte von Luise Algenstüdt (L. Aimshnge). Leipzig, Kommissions¬
verlag von Ernst Brett, 1903. III.--IV. Auflage.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

steht der Name Gottes; Gott hat diese Eigenschaften gegeben, damit wir das
Schöne, Wahre und Gute, deren Quelle er ist, und die zu ihm führen, erfassen. Ihr
müßt von diesen großen Dingen, die als Eigenschaften in euch schlummern, Besitz
ergreifen; ihr müßt die Eigenschaften aufgreifen, die eure Seele bilden. Erst wenn
sie ihre eignen Kräfte entwickelt hat, wird eure göttliche Seele mit vollem Bewußtsein
»Ich« sagen können." Und Monseigneur Dadolle verlangt bei der Erziehung der
Mädchen zuerst die Entwicklung dieser Eigenschaften, weil die Mädchen <ni'on,ore>8
i-aisonnadlss et rospoiwMos seien, und dann erst ihre Erziehung für die Mission
des Weibes als Gattin und Mutter. — In der Anerkennung der Prinzipien sind
wir mit dem französischen Prälaten vollständig einig; aber mit dem Wege, den
er als allein richtigen eingeschlagen haben will, die Entwicklung durch den Unter¬
richt in der katholischen Philosophie in den Mädchenschulen herbeizuführen,
ist uns nicht gedient. Was bei dem männlichen Geschlechte versucht wird, um die
kantische höchste Entwicklung zur Vollkommenheit herbeizuführen, sollte bei dem weib¬
lich M. en Geschlecht in ähnlicher Weise angewandt werde».


Frei zum Dienst!*)

Die Geschichte eines jungen Mädchens von starkem Geist
Glauben und Charakter, das trotz eines Herzens voll kindlicher Liebe aus dem mutter¬
losen Vaterhaus im Kampfe scheidet, um sich im Diakonissenberuf ein tätiges Leben zu
schaffen. Man fühlt es an einer Menge von Einzelzügen, die nnr erlebt sein können, und
an der lebenswarmen Stimmung, in der die Erinnerung an eigne Kampfe stark uach-
bebt, daß in diesem Buche uicht von außen her berichtet wird. Die Tragik eines jungen
Lebens, das rein und edel aus unedler oder gleichgiltiger Umgebung herauswächst,
vou der es sich nicht ganz losmachen kann und darf, ergreift und erschüttert uns
umsomehr, als wir deu Irrtum miterleben, worin das Mädchen an der Meinung
hinstreift, die Familienbande, „die die Gelenke blutig scheuern," hielten die Meuscheu
uur in ihrer Entwicklung zurück, nagelten sie nnter lauter Kleinigkeiten und Ein¬
heiten fest. Ihr trotz alledem richtig fühlendes Herz erkennt mit der genialen
Schärfe des Blicks, die dem aufrichtigen Menschenkind zu eigen ist: „Wir sind eben
keine rechte Familie"; nud während sie einen Bruder in die Verbrecherlaufbnhn
hinabgleiten und jäh zerschellen sieht, kehrt sie zeitig genug zum Vater zurück, daß
sie seine letzten Lebenswochen mit der hingebenden Pflege verschönen kann, die sie
bis dahin den Kranken im Hospital gewidmet hatte. Und nun erst stellt sie sich
in andrer Weise ganz frei in den Dienst der leidenden Menschheit, indem sie sich
zur Ärztin ausbildet, eine der ersten, die in deutscheu Landen dieses Wagnis unter-
nahmen. Zugleich hal sich eine Jugendliebe, die früh durch eine elementare Kraft
zerrissen worden war, zur Freundschaft geläutert. Wir sehen am Schluß in ein
Leben, worin sich die Heldin frei zum Dienst stellt und allem Anschein »ach ihr
Glück findet, weil sie dienen darf, ohne daß ihr der Dienst von außen her auf¬
erlegt und in allen kleinste» Einzelheiten bestimmt worden wäre. Dieses starke Mädchen
beugt sich willig ihrer hohen Aufgabe, die, wie der Geistliche ihr beim Eintritt
sagte, Dienst und abermals Dienst und immerfort Dienst ist, und zwar bedingungs¬
los und peinlich gehorchender Dienst, aber sie kann sich nicht damit abfinden, daß
es nur ein Dienstverhältnis und kein andres in dem Kreise der Schwestern gibt.
Sie fühlt Kräfte in sich, die in den Arbeiten, die man ihr überträgt, uicht zur
Anwendung komme»; sie fühlt sich de» meisten andern Schwestern überlege», nicht
bloß an Bildung, sondern much an Einsicht in das, was in der Krankenpflege nötig
ist, und gerade daraus entwickelt sich ihr Konflikt. Die in Diakonissenkrcisen ge¬
bräuchliche Rede: eine Schwester soll ein Drittel Arzt, ein Drittel Pfarrer, ein
Drittel Magd sein, findet ans sie in einem unerwarteten Sinn Anwendung. Auch
machen auf sie die weibliche» Kranke» einen tiefen Eindruck, die zu spät ärztliche
Hilfe suchen, weil ihr Schamgefühl sie verhinderte, sich einen: Mann anzuvertrauen;
eine Fremde, die als Ärztin ausgebildet, ihre letzte Schulung in der Krankenpflege



Eine Diakonisfcnqeschichte von Luise Algenstüdt (L. Aimshnge). Leipzig, Kommissions¬
verlag von Ernst Brett, 1903. III.—IV. Auflage.
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[0063] Maßgebliches und Unmaßgebliches steht der Name Gottes; Gott hat diese Eigenschaften gegeben, damit wir das Schöne, Wahre und Gute, deren Quelle er ist, und die zu ihm führen, erfassen. Ihr müßt von diesen großen Dingen, die als Eigenschaften in euch schlummern, Besitz ergreifen; ihr müßt die Eigenschaften aufgreifen, die eure Seele bilden. Erst wenn sie ihre eignen Kräfte entwickelt hat, wird eure göttliche Seele mit vollem Bewußtsein »Ich« sagen können." Und Monseigneur Dadolle verlangt bei der Erziehung der Mädchen zuerst die Entwicklung dieser Eigenschaften, weil die Mädchen <ni'on,ore>8 i-aisonnadlss et rospoiwMos seien, und dann erst ihre Erziehung für die Mission des Weibes als Gattin und Mutter. — In der Anerkennung der Prinzipien sind wir mit dem französischen Prälaten vollständig einig; aber mit dem Wege, den er als allein richtigen eingeschlagen haben will, die Entwicklung durch den Unter¬ richt in der katholischen Philosophie in den Mädchenschulen herbeizuführen, ist uns nicht gedient. Was bei dem männlichen Geschlechte versucht wird, um die kantische höchste Entwicklung zur Vollkommenheit herbeizuführen, sollte bei dem weib¬ lich M. en Geschlecht in ähnlicher Weise angewandt werde». Frei zum Dienst!*) Die Geschichte eines jungen Mädchens von starkem Geist Glauben und Charakter, das trotz eines Herzens voll kindlicher Liebe aus dem mutter¬ losen Vaterhaus im Kampfe scheidet, um sich im Diakonissenberuf ein tätiges Leben zu schaffen. Man fühlt es an einer Menge von Einzelzügen, die nnr erlebt sein können, und an der lebenswarmen Stimmung, in der die Erinnerung an eigne Kampfe stark uach- bebt, daß in diesem Buche uicht von außen her berichtet wird. Die Tragik eines jungen Lebens, das rein und edel aus unedler oder gleichgiltiger Umgebung herauswächst, vou der es sich nicht ganz losmachen kann und darf, ergreift und erschüttert uns umsomehr, als wir deu Irrtum miterleben, worin das Mädchen an der Meinung hinstreift, die Familienbande, „die die Gelenke blutig scheuern," hielten die Meuscheu uur in ihrer Entwicklung zurück, nagelten sie nnter lauter Kleinigkeiten und Ein¬ heiten fest. Ihr trotz alledem richtig fühlendes Herz erkennt mit der genialen Schärfe des Blicks, die dem aufrichtigen Menschenkind zu eigen ist: „Wir sind eben keine rechte Familie"; nud während sie einen Bruder in die Verbrecherlaufbnhn hinabgleiten und jäh zerschellen sieht, kehrt sie zeitig genug zum Vater zurück, daß sie seine letzten Lebenswochen mit der hingebenden Pflege verschönen kann, die sie bis dahin den Kranken im Hospital gewidmet hatte. Und nun erst stellt sie sich in andrer Weise ganz frei in den Dienst der leidenden Menschheit, indem sie sich zur Ärztin ausbildet, eine der ersten, die in deutscheu Landen dieses Wagnis unter- nahmen. Zugleich hal sich eine Jugendliebe, die früh durch eine elementare Kraft zerrissen worden war, zur Freundschaft geläutert. Wir sehen am Schluß in ein Leben, worin sich die Heldin frei zum Dienst stellt und allem Anschein »ach ihr Glück findet, weil sie dienen darf, ohne daß ihr der Dienst von außen her auf¬ erlegt und in allen kleinste» Einzelheiten bestimmt worden wäre. Dieses starke Mädchen beugt sich willig ihrer hohen Aufgabe, die, wie der Geistliche ihr beim Eintritt sagte, Dienst und abermals Dienst und immerfort Dienst ist, und zwar bedingungs¬ los und peinlich gehorchender Dienst, aber sie kann sich nicht damit abfinden, daß es nur ein Dienstverhältnis und kein andres in dem Kreise der Schwestern gibt. Sie fühlt Kräfte in sich, die in den Arbeiten, die man ihr überträgt, uicht zur Anwendung komme»; sie fühlt sich de» meisten andern Schwestern überlege», nicht bloß an Bildung, sondern much an Einsicht in das, was in der Krankenpflege nötig ist, und gerade daraus entwickelt sich ihr Konflikt. Die in Diakonissenkrcisen ge¬ bräuchliche Rede: eine Schwester soll ein Drittel Arzt, ein Drittel Pfarrer, ein Drittel Magd sein, findet ans sie in einem unerwarteten Sinn Anwendung. Auch machen auf sie die weibliche» Kranke» einen tiefen Eindruck, die zu spät ärztliche Hilfe suchen, weil ihr Schamgefühl sie verhinderte, sich einen: Mann anzuvertrauen; eine Fremde, die als Ärztin ausgebildet, ihre letzte Schulung in der Krankenpflege Eine Diakonisfcnqeschichte von Luise Algenstüdt (L. Aimshnge). Leipzig, Kommissions¬ verlag von Ernst Brett, 1903. III.—IV. Auflage.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/63>, abgerufen am 23.07.2024.