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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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gegen die Protestanten der italienischen Alpcntäler und weiter hinauf bis zu
den Liedern, die das traurige, blutige Osterfest von 1655 besangen:


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Milton hat in einem berühmten Sonett auch das Waldenser-Märtyrertum
besungen. Wer je einen Blick in den Liederschatz der Waldenser geworfen hat,
der versteht, woher soviel Größe im Dulden und soviel Zähigkeit des Wider¬
standes kam, wie ihn die Protestanten der savoyischen und piemontesischen Alpen
leisteten. Die Geschichte ihrer Verfolgungen leuchtet vor unsrer Seele wie die
Geschichte der ersten christlichen Gemeinden, und dort wie hier scheinen die Ver¬
folgungen nicht nur eine kräftigende Macht, sondern auch eine läuternde Flamme
gewesen zu sein. Unter der freiheitlichen Sturmflut des Zeitalters Viktor
Emanuels, die beinahe sogar den Vatikan selbst hinweggefegt hätte, war das
Wohlwollen von Dynastie und Regierung gegen die Waldenser etwas Selbst¬
verständliches, und wenn auch unter dem gutmütigen Nachfolger Umberto dem
Ersten der Vatikan besonders in der Umgebung der Königin Margherita an
Einfluß gewann, so konnte das doch keinen Einfluß mehr auf die Behandlung
der evangelischen Kirche in Italien ausüben. Ja unter Umberto wäre in der
Person des Kassationsgerichtsprüfidenten und Senators Canoniw ein Protestant
Minister geworden, wenn der Kandidat nicht die an ihn ergehende dringende
Aufforderung abgelehnt hätte. Man mag jedoch ein Merkmal der eigentüm¬
lichen, überaus schwer zu beurteilenden kirchlichen Situation darin erkennen,
daß trotz der guten Gewähr, die Umberto als Mensch für die treue Bewahrung
des albertinischen Statuts bot, einige Monate nach seiner Thronbesteigung
eine Deputation der Waldenscrkirche beim König eine Audienz nachsuchte.
Diese Deputation bestand aus dem Präsidenten der Tavola -- des waldensischen
Kirchenrats --, dem Moderator? Dr. tlnzol. Charbvnnier und den beiden Pro¬
zessoren Nieeolini und Olivet. Auf ihre Fragen antwortete der König, die
Waldenser hätten nicht die geringste Einschränkung der ihnen dreißig Jahre
vorher gewährten Kultusfreiheit zu befürchten; seine persönliche Redlichkeit wie
uicht minder die öffentliche Gerechtigkeit verlangten sie in unverletzlicher Weise.
Wenig Monate darauf, als infolge des Passanantischen Attentats aus allen
Landesteilen glückwünschende Abordnungen in Rom eintrafen, legte Umberto
6und andern in Italien vorhandnen evangelischen Gemeinschaften gegenüber
Zeugnis von seiner Toleranz ab. Er empfing Vertreter aller möglichen pro¬
testantischen Religionsgesellschaften aus Neapel, Rom und Florenz, unterhielt
s'es mit allen über das Wirken ihrer Gemeinden und bekundete dabei ein Wohl¬
wollen, das zunächst in den einheimischen klerikalen Kreisen Bedenken erregte
"ud innerhalb weniger Tage zu der Legende führte, König Umberto hege un¬
mittelbare Sympathien für das evangelische Bekenntnis- Als Bekräftigung


gegen die Protestanten der italienischen Alpcntäler und weiter hinauf bis zu
den Liedern, die das traurige, blutige Osterfest von 1655 besangen:


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Milton hat in einem berühmten Sonett auch das Waldenser-Märtyrertum
besungen. Wer je einen Blick in den Liederschatz der Waldenser geworfen hat,
der versteht, woher soviel Größe im Dulden und soviel Zähigkeit des Wider¬
standes kam, wie ihn die Protestanten der savoyischen und piemontesischen Alpen
leisteten. Die Geschichte ihrer Verfolgungen leuchtet vor unsrer Seele wie die
Geschichte der ersten christlichen Gemeinden, und dort wie hier scheinen die Ver¬
folgungen nicht nur eine kräftigende Macht, sondern auch eine läuternde Flamme
gewesen zu sein. Unter der freiheitlichen Sturmflut des Zeitalters Viktor
Emanuels, die beinahe sogar den Vatikan selbst hinweggefegt hätte, war das
Wohlwollen von Dynastie und Regierung gegen die Waldenser etwas Selbst¬
verständliches, und wenn auch unter dem gutmütigen Nachfolger Umberto dem
Ersten der Vatikan besonders in der Umgebung der Königin Margherita an
Einfluß gewann, so konnte das doch keinen Einfluß mehr auf die Behandlung
der evangelischen Kirche in Italien ausüben. Ja unter Umberto wäre in der
Person des Kassationsgerichtsprüfidenten und Senators Canoniw ein Protestant
Minister geworden, wenn der Kandidat nicht die an ihn ergehende dringende
Aufforderung abgelehnt hätte. Man mag jedoch ein Merkmal der eigentüm¬
lichen, überaus schwer zu beurteilenden kirchlichen Situation darin erkennen,
daß trotz der guten Gewähr, die Umberto als Mensch für die treue Bewahrung
des albertinischen Statuts bot, einige Monate nach seiner Thronbesteigung
eine Deputation der Waldenscrkirche beim König eine Audienz nachsuchte.
Diese Deputation bestand aus dem Präsidenten der Tavola — des waldensischen
Kirchenrats —, dem Moderator? Dr. tlnzol. Charbvnnier und den beiden Pro¬
zessoren Nieeolini und Olivet. Auf ihre Fragen antwortete der König, die
Waldenser hätten nicht die geringste Einschränkung der ihnen dreißig Jahre
vorher gewährten Kultusfreiheit zu befürchten; seine persönliche Redlichkeit wie
uicht minder die öffentliche Gerechtigkeit verlangten sie in unverletzlicher Weise.
Wenig Monate darauf, als infolge des Passanantischen Attentats aus allen
Landesteilen glückwünschende Abordnungen in Rom eintrafen, legte Umberto
6und andern in Italien vorhandnen evangelischen Gemeinschaften gegenüber
Zeugnis von seiner Toleranz ab. Er empfing Vertreter aller möglichen pro¬
testantischen Religionsgesellschaften aus Neapel, Rom und Florenz, unterhielt
s'es mit allen über das Wirken ihrer Gemeinden und bekundete dabei ein Wohl¬
wollen, das zunächst in den einheimischen klerikalen Kreisen Bedenken erregte
"ud innerhalb weniger Tage zu der Legende führte, König Umberto hege un¬
mittelbare Sympathien für das evangelische Bekenntnis- Als Bekräftigung


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[0577] gegen die Protestanten der italienischen Alpcntäler und weiter hinauf bis zu den Liedern, die das traurige, blutige Osterfest von 1655 besangen: LoiAllsw', loi Is «ANK ä'^bot vrio snoorv 3ur los supMoo«, Vois Zlsotmris sQvoro parmi vo« LsoriLvv« Uort Mirs 1c> thir^Jo se. 1'aut.ol. Oloirs Ah I'Mvravl jnstios ass jmiüvos, ^«-er lo» ^siix tsruiss se 1^ puis8Auto man VlläoriQis su wu «sin? Milton hat in einem berühmten Sonett auch das Waldenser-Märtyrertum besungen. Wer je einen Blick in den Liederschatz der Waldenser geworfen hat, der versteht, woher soviel Größe im Dulden und soviel Zähigkeit des Wider¬ standes kam, wie ihn die Protestanten der savoyischen und piemontesischen Alpen leisteten. Die Geschichte ihrer Verfolgungen leuchtet vor unsrer Seele wie die Geschichte der ersten christlichen Gemeinden, und dort wie hier scheinen die Ver¬ folgungen nicht nur eine kräftigende Macht, sondern auch eine läuternde Flamme gewesen zu sein. Unter der freiheitlichen Sturmflut des Zeitalters Viktor Emanuels, die beinahe sogar den Vatikan selbst hinweggefegt hätte, war das Wohlwollen von Dynastie und Regierung gegen die Waldenser etwas Selbst¬ verständliches, und wenn auch unter dem gutmütigen Nachfolger Umberto dem Ersten der Vatikan besonders in der Umgebung der Königin Margherita an Einfluß gewann, so konnte das doch keinen Einfluß mehr auf die Behandlung der evangelischen Kirche in Italien ausüben. Ja unter Umberto wäre in der Person des Kassationsgerichtsprüfidenten und Senators Canoniw ein Protestant Minister geworden, wenn der Kandidat nicht die an ihn ergehende dringende Aufforderung abgelehnt hätte. Man mag jedoch ein Merkmal der eigentüm¬ lichen, überaus schwer zu beurteilenden kirchlichen Situation darin erkennen, daß trotz der guten Gewähr, die Umberto als Mensch für die treue Bewahrung des albertinischen Statuts bot, einige Monate nach seiner Thronbesteigung eine Deputation der Waldenscrkirche beim König eine Audienz nachsuchte. Diese Deputation bestand aus dem Präsidenten der Tavola — des waldensischen Kirchenrats —, dem Moderator? Dr. tlnzol. Charbvnnier und den beiden Pro¬ zessoren Nieeolini und Olivet. Auf ihre Fragen antwortete der König, die Waldenser hätten nicht die geringste Einschränkung der ihnen dreißig Jahre vorher gewährten Kultusfreiheit zu befürchten; seine persönliche Redlichkeit wie uicht minder die öffentliche Gerechtigkeit verlangten sie in unverletzlicher Weise. Wenig Monate darauf, als infolge des Passanantischen Attentats aus allen Landesteilen glückwünschende Abordnungen in Rom eintrafen, legte Umberto 6und andern in Italien vorhandnen evangelischen Gemeinschaften gegenüber Zeugnis von seiner Toleranz ab. Er empfing Vertreter aller möglichen pro¬ testantischen Religionsgesellschaften aus Neapel, Rom und Florenz, unterhielt s'es mit allen über das Wirken ihrer Gemeinden und bekundete dabei ein Wohl¬ wollen, das zunächst in den einheimischen klerikalen Kreisen Bedenken erregte "ud innerhalb weniger Tage zu der Legende führte, König Umberto hege un¬ mittelbare Sympathien für das evangelische Bekenntnis- Als Bekräftigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/577>, abgerufen am 23.07.2024.