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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Leipziger Dramaturgie

die direktoriale Unterdrückung und Verderbnis empört war. "So haben die
großen historischen Szenen ihre kleinen prosaischen Kehrseiten."

Der andre Punkt, auf den wir aufmerksam machen möchten, ist die Rolle,
die damals der General Bernadotte gespielt hat. Er war vor kurzem Kriegs¬
minister gewesen, schien einen Augenblick die Nationalverteidigung zu verkörpern
und hatte wirkliche Volkstümlichkeit, wobei ihm, nach Vaudal (I, 281), sein
vorteilhaftes Äußere, seine Beredsamkeit, seine herzliche Art sich zu geben und
etwas Großartiges und Verschwenderisches in seiner Lebensweise zu statten
kamen. Als Gatte der Dcsiree Clary, der Schwägerin Joseph Bonapartes,
war er mit dieser Familie verwandt, und Bonaparte selbst suchte ihn zur Teil¬
nahme am Staatsstreich zu gewinnen. Aber Bernadotte hielt sich zurück: er
hatte gern selbst die Herrschaft an sich gerissen, war aber, nach Sorel (I, 471),
doch nicht imstande, die Rolle auszufüllen. Er blieb immer unruhig, immer
bereit, Bonaparte zu ersetzen, 1799 im Konsulat und 1814, wo Zar Alexander
der Erste ihn begünstigte, in der Kaiserkrone, mußte sich aber schließlich doch
mit dem schwedischen Throne begnügen. Sein Verhalten von 1799 bis 1814
zeigt, daß Napoleons Stellung, revolutionären Ursprungs, wie sie war, immer
gefährdet blieb und verschwiegner Ehrgeiz immer auf die Stunde lauerte, wo
es möglich sein würde, ihn zu ersetzen.




Leipziger Dramaturgie
l^. Maria 5tuart
(Schluß)

ivrtimer, über den unser großer Dichter selbst das schöne Lockenhaupt
bisweilen bedenklich geschüttelt haben dürfte, kann leidlich wahrscheinlich
gemacht werden, wenn er in den ersten Aufzügen durchaus als wohl¬
erzogner, vornehmer, junger Mann und nicht als rabbiater Natur¬
bursche dargestellt wird. Daß er religiöser Schwärmer und in die
I Königin von Schottland verliebt ist, darf in den ersten Aufzügen
nur insoweit zum Vorschein kommen, als der Dichter selbst ausdrückliche Finger¬
zeige dafür gibt; er muß nicht bloß korrekt, sondern auch zurückhaltend, bescheiden,
von feinem höfischem Schliff und für die erlesenste Blüte der Zuschauerinnen
möglichst einnehmend sein. Erst mit dein sechsten Auftritt des dritten Auszugs, wo
es heißt, sein ganzes Wesen drücke eine heftige, leidenschaftliche Stimmung aus,
vollzieht sich die unheimliche Wandlung, die jedoch nicht so dargestellt werden darf,
daß man einen Rasenden vor sich zu haben glaubt. Ich habe die Rolle sehr gut
von Jauner in seinen jungen Jahren gesehen, der einem nur ab und zu und mit
größter Zurückhaltung einen Blick in den sein Inneres erfüllenden Vulkan gewährte:
solche mit mäßiger Sparsamkeit gewährte Einblicke waren von ergreifender Wir¬
kung, und die Steigerung zu dem Paroxysmus der Leidenschaft, worin er "mit
irren Blicken und im Ausdruck des stillen Wahnsinns" ausruft:


Das Leben ist
Nur ein Moment, der Tod ist auch nur einer!
Man Schleife mich nach Tuburn usw.

war auf diese Weise mit viel Verständnis vorbereitet. Nach diesem Ausbruche


Leipziger Dramaturgie

die direktoriale Unterdrückung und Verderbnis empört war. „So haben die
großen historischen Szenen ihre kleinen prosaischen Kehrseiten."

Der andre Punkt, auf den wir aufmerksam machen möchten, ist die Rolle,
die damals der General Bernadotte gespielt hat. Er war vor kurzem Kriegs¬
minister gewesen, schien einen Augenblick die Nationalverteidigung zu verkörpern
und hatte wirkliche Volkstümlichkeit, wobei ihm, nach Vaudal (I, 281), sein
vorteilhaftes Äußere, seine Beredsamkeit, seine herzliche Art sich zu geben und
etwas Großartiges und Verschwenderisches in seiner Lebensweise zu statten
kamen. Als Gatte der Dcsiree Clary, der Schwägerin Joseph Bonapartes,
war er mit dieser Familie verwandt, und Bonaparte selbst suchte ihn zur Teil¬
nahme am Staatsstreich zu gewinnen. Aber Bernadotte hielt sich zurück: er
hatte gern selbst die Herrschaft an sich gerissen, war aber, nach Sorel (I, 471),
doch nicht imstande, die Rolle auszufüllen. Er blieb immer unruhig, immer
bereit, Bonaparte zu ersetzen, 1799 im Konsulat und 1814, wo Zar Alexander
der Erste ihn begünstigte, in der Kaiserkrone, mußte sich aber schließlich doch
mit dem schwedischen Throne begnügen. Sein Verhalten von 1799 bis 1814
zeigt, daß Napoleons Stellung, revolutionären Ursprungs, wie sie war, immer
gefährdet blieb und verschwiegner Ehrgeiz immer auf die Stunde lauerte, wo
es möglich sein würde, ihn zu ersetzen.




Leipziger Dramaturgie
l^. Maria 5tuart
(Schluß)

ivrtimer, über den unser großer Dichter selbst das schöne Lockenhaupt
bisweilen bedenklich geschüttelt haben dürfte, kann leidlich wahrscheinlich
gemacht werden, wenn er in den ersten Aufzügen durchaus als wohl¬
erzogner, vornehmer, junger Mann und nicht als rabbiater Natur¬
bursche dargestellt wird. Daß er religiöser Schwärmer und in die
I Königin von Schottland verliebt ist, darf in den ersten Aufzügen
nur insoweit zum Vorschein kommen, als der Dichter selbst ausdrückliche Finger¬
zeige dafür gibt; er muß nicht bloß korrekt, sondern auch zurückhaltend, bescheiden,
von feinem höfischem Schliff und für die erlesenste Blüte der Zuschauerinnen
möglichst einnehmend sein. Erst mit dein sechsten Auftritt des dritten Auszugs, wo
es heißt, sein ganzes Wesen drücke eine heftige, leidenschaftliche Stimmung aus,
vollzieht sich die unheimliche Wandlung, die jedoch nicht so dargestellt werden darf,
daß man einen Rasenden vor sich zu haben glaubt. Ich habe die Rolle sehr gut
von Jauner in seinen jungen Jahren gesehen, der einem nur ab und zu und mit
größter Zurückhaltung einen Blick in den sein Inneres erfüllenden Vulkan gewährte:
solche mit mäßiger Sparsamkeit gewährte Einblicke waren von ergreifender Wir¬
kung, und die Steigerung zu dem Paroxysmus der Leidenschaft, worin er „mit
irren Blicken und im Ausdruck des stillen Wahnsinns" ausruft:


Das Leben ist
Nur ein Moment, der Tod ist auch nur einer!
Man Schleife mich nach Tuburn usw.

war auf diese Weise mit viel Verständnis vorbereitet. Nach diesem Ausbruche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/540>, abgerufen am 24.07.2024.