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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

''Glaubensbekenntnisses" (1844) nicht energisch genug darauf hinweisen konnte, daß
seine unerwartete, rücksichtslose Wandlung ein Fortschreiten und eine Entwicklung
!el, kein "Übertritt und buhlerischer Fahnentausch" und ebensowenig ein leicht¬
fertiges "Haschen nach etwas so Heiligem, wie die Liebe und die Achtung eines
Volkes es sind."

Ungebührliche Nachsicht aber erfahrt nach meiner Auffassung Heinrich Heine,
Hessen antinationale, zersetzende Zerstörungspoesie weniger den wirklich geistreichen
Spötter als den eiteln und rohen Pasquillanten oder niedern Zyniker verrät.
Heines sonstige lyrische Vorzüge in allen Ehren, aber als politischer Satiriker ist
^' im höchsten Falle nur "ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will"
und -- doch manchmal das Gute schafft. Denn von einer positiven Kritik zeigt
er nichts. Ganz anders ist der letzte der großen lyrischen Vertreter der politischen
Dichtung, Emanuel Geibel, bei dem der Verfasser ein überraschend reiches real¬
istisches Verständnis nachweist. Er stehe durchaus auf nationalem und christlichem
^°den, königstreu und monarchisch gesinnt.

, In dem umfassenden Überblick, den der Verfasser sodann bietet, hält er sich
unt Recht entsprechend kürzer und strebt weit mehr danach, anzudeuten als aus¬
zudeuten. Diese Zusammenstellungen sind um so willkommener, als er hier nicht
leiten aus schwer zugänglichen Gedichtsammlungen schöpfen mußte. Im ganzen gibt
er Verfasser eher zu viel als zu wenig. Die Wahl oder die Beschränkung war
S°wiß oft nicht leicht.

. Dennoch sind manche Proben doch viel zu unbedeutend und tragen kaum die
e>cheidenste Farbenschattiernng bei. Hier hätte manchmal ein kräftigeres Zugreifen
^nutzt und Raum für wertvolle Kundgebungen geschafft, die bis jetzt noch keine
erücksichtigung erfahren haben. Dazu rechne ich vor allen Dingen eine Reihe ge¬
istreicher Dichtungen des am 14. September (nicht Oktober) 1817 zu Husum ge-
rmen Nordfriesen Theodor Storni, dessen Patriotische Lyrik auch heutigentags
^wer noch oft nicht die Wertschätzung findet, die sie mit Fug und Recht verdient.
^ Dichter selbst hatte auch guten Grund, ans diese Verse, die ihm wie Erz zu
rohnen schienen, stolz zu sein. Man höre nur sein siegesgewisscs "Oktoberlied"
^amtliche Werke. Braunschweig, 1901. VIII, 191):

Wie ^" prächtiges Gedicht "Ostern" (1848. VIII, 237), worin er erzählt,
d-.^ ^ " Klänge der Osterglocken am Meeresdeich daheim gestanden habe, während
"cuc Lenz prophetisch über das Land gezogen sei.

Der Flut entsteigt der frische Meeresdust;
Vom Himmel strömt die goldne Sonnensülle;
Der Frühlingswind geht klingend durch die Luft
Und sprengt im Flug des Schlummers letzte Hülle.
O wehe fort, bis jede Knospe bricht,
Daß endlich uns ein ganzer Sommer werde;
Entfalte dich, du gottgebornes Licht,
Und wanke nicht, du feste Heimaterde!

Seht"?^ Zuversicht vereinigt sich aber zu dem triumphierenden Zurufe in der
^uWxophe:

Auch an den fortreißenden, begeisternden Aufruf, den er 1863 veröffentlichte,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

''Glaubensbekenntnisses" (1844) nicht energisch genug darauf hinweisen konnte, daß
seine unerwartete, rücksichtslose Wandlung ein Fortschreiten und eine Entwicklung
!el, kein „Übertritt und buhlerischer Fahnentausch" und ebensowenig ein leicht¬
fertiges „Haschen nach etwas so Heiligem, wie die Liebe und die Achtung eines
Volkes es sind."

Ungebührliche Nachsicht aber erfahrt nach meiner Auffassung Heinrich Heine,
Hessen antinationale, zersetzende Zerstörungspoesie weniger den wirklich geistreichen
Spötter als den eiteln und rohen Pasquillanten oder niedern Zyniker verrät.
Heines sonstige lyrische Vorzüge in allen Ehren, aber als politischer Satiriker ist
^' im höchsten Falle nur „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will"
und — doch manchmal das Gute schafft. Denn von einer positiven Kritik zeigt
er nichts. Ganz anders ist der letzte der großen lyrischen Vertreter der politischen
Dichtung, Emanuel Geibel, bei dem der Verfasser ein überraschend reiches real¬
istisches Verständnis nachweist. Er stehe durchaus auf nationalem und christlichem
^°den, königstreu und monarchisch gesinnt.

, In dem umfassenden Überblick, den der Verfasser sodann bietet, hält er sich
unt Recht entsprechend kürzer und strebt weit mehr danach, anzudeuten als aus¬
zudeuten. Diese Zusammenstellungen sind um so willkommener, als er hier nicht
leiten aus schwer zugänglichen Gedichtsammlungen schöpfen mußte. Im ganzen gibt
er Verfasser eher zu viel als zu wenig. Die Wahl oder die Beschränkung war
S°wiß oft nicht leicht.

. Dennoch sind manche Proben doch viel zu unbedeutend und tragen kaum die
e>cheidenste Farbenschattiernng bei. Hier hätte manchmal ein kräftigeres Zugreifen
^nutzt und Raum für wertvolle Kundgebungen geschafft, die bis jetzt noch keine
erücksichtigung erfahren haben. Dazu rechne ich vor allen Dingen eine Reihe ge¬
istreicher Dichtungen des am 14. September (nicht Oktober) 1817 zu Husum ge-
rmen Nordfriesen Theodor Storni, dessen Patriotische Lyrik auch heutigentags
^wer noch oft nicht die Wertschätzung findet, die sie mit Fug und Recht verdient.
^ Dichter selbst hatte auch guten Grund, ans diese Verse, die ihm wie Erz zu
rohnen schienen, stolz zu sein. Man höre nur sein siegesgewisscs „Oktoberlied"
^amtliche Werke. Braunschweig, 1901. VIII, 191):

Wie ^" prächtiges Gedicht „Ostern" (1848. VIII, 237), worin er erzählt,
d-.^ ^ " Klänge der Osterglocken am Meeresdeich daheim gestanden habe, während
»cuc Lenz prophetisch über das Land gezogen sei.

Der Flut entsteigt der frische Meeresdust;
Vom Himmel strömt die goldne Sonnensülle;
Der Frühlingswind geht klingend durch die Luft
Und sprengt im Flug des Schlummers letzte Hülle.
O wehe fort, bis jede Knospe bricht,
Daß endlich uns ein ganzer Sommer werde;
Entfalte dich, du gottgebornes Licht,
Und wanke nicht, du feste Heimaterde!

Seht»?^ Zuversicht vereinigt sich aber zu dem triumphierenden Zurufe in der
^uWxophe:

Auch an den fortreißenden, begeisternden Aufruf, den er 1863 veröffentlichte,


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[0499] Maßgebliches und Unmaßgebliches ''Glaubensbekenntnisses" (1844) nicht energisch genug darauf hinweisen konnte, daß seine unerwartete, rücksichtslose Wandlung ein Fortschreiten und eine Entwicklung !el, kein „Übertritt und buhlerischer Fahnentausch" und ebensowenig ein leicht¬ fertiges „Haschen nach etwas so Heiligem, wie die Liebe und die Achtung eines Volkes es sind." Ungebührliche Nachsicht aber erfahrt nach meiner Auffassung Heinrich Heine, Hessen antinationale, zersetzende Zerstörungspoesie weniger den wirklich geistreichen Spötter als den eiteln und rohen Pasquillanten oder niedern Zyniker verrät. Heines sonstige lyrische Vorzüge in allen Ehren, aber als politischer Satiriker ist ^' im höchsten Falle nur „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will" und — doch manchmal das Gute schafft. Denn von einer positiven Kritik zeigt er nichts. Ganz anders ist der letzte der großen lyrischen Vertreter der politischen Dichtung, Emanuel Geibel, bei dem der Verfasser ein überraschend reiches real¬ istisches Verständnis nachweist. Er stehe durchaus auf nationalem und christlichem ^°den, königstreu und monarchisch gesinnt. , In dem umfassenden Überblick, den der Verfasser sodann bietet, hält er sich unt Recht entsprechend kürzer und strebt weit mehr danach, anzudeuten als aus¬ zudeuten. Diese Zusammenstellungen sind um so willkommener, als er hier nicht leiten aus schwer zugänglichen Gedichtsammlungen schöpfen mußte. Im ganzen gibt er Verfasser eher zu viel als zu wenig. Die Wahl oder die Beschränkung war S°wiß oft nicht leicht. . Dennoch sind manche Proben doch viel zu unbedeutend und tragen kaum die e>cheidenste Farbenschattiernng bei. Hier hätte manchmal ein kräftigeres Zugreifen ^nutzt und Raum für wertvolle Kundgebungen geschafft, die bis jetzt noch keine erücksichtigung erfahren haben. Dazu rechne ich vor allen Dingen eine Reihe ge¬ istreicher Dichtungen des am 14. September (nicht Oktober) 1817 zu Husum ge- rmen Nordfriesen Theodor Storni, dessen Patriotische Lyrik auch heutigentags ^wer noch oft nicht die Wertschätzung findet, die sie mit Fug und Recht verdient. ^ Dichter selbst hatte auch guten Grund, ans diese Verse, die ihm wie Erz zu rohnen schienen, stolz zu sein. Man höre nur sein siegesgewisscs „Oktoberlied" ^amtliche Werke. Braunschweig, 1901. VIII, 191): Wie ^" prächtiges Gedicht „Ostern" (1848. VIII, 237), worin er erzählt, d-.^ ^ " Klänge der Osterglocken am Meeresdeich daheim gestanden habe, während »cuc Lenz prophetisch über das Land gezogen sei. Der Flut entsteigt der frische Meeresdust; Vom Himmel strömt die goldne Sonnensülle; Der Frühlingswind geht klingend durch die Luft Und sprengt im Flug des Schlummers letzte Hülle. O wehe fort, bis jede Knospe bricht, Daß endlich uns ein ganzer Sommer werde; Entfalte dich, du gottgebornes Licht, Und wanke nicht, du feste Heimaterde! Seht»?^ Zuversicht vereinigt sich aber zu dem triumphierenden Zurufe in der ^uWxophe: Auch an den fortreißenden, begeisternden Aufruf, den er 1863 veröffentlichte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/499>, abgerufen am 22.07.2024.