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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Maria von Nagdala

Nach den neuesten Berichten ans England bestehn jetzt in Großbritannien
und Irland mehr als siebzig Gasthäuser unter gemeinnütziger Verwaltung.
Voll ihnen kommen vierunddreißig ans die schon 1896 gegründete Volks-
erfrischungsgesellschaft des Bischofs von Ehester, die nationalen Charakter trügt.
Die übrigen stehn meist unter den für einzelne Städte oder Bezirke ge¬
gründeten Vertrauensgesellschnften, die durch Lord Grey ins Leben gerufen
worden sind. Es gibt schon siebenunddreißig solcher Vertrauensgesellschaften,
von denen einzelne zwar noch kein Gasthaus besitzen, andre erst einige Häuser
gegründet haben; eine Gesellschaft hat es schon auf sieben Häuser gebracht.

Trotzdem daß an dem Grundsatz festgehalten wird, den Betrieb nicht darauf
zuzuschneiden, daß an vermischenden Getränken möglichst viel, sondern möglichst
wenig genossen wird, haben die Wirtschaften doch ant verdient. Nach den
mitgeteilten Bilanzen für 1901 kann man neben der fünfprozentigen Ver¬
zinsung des Anlagekapitals und nach den üblichen Abschreibungen noch einen
bedeutenden Gewinn verzeichnen. Er wird zu gemeinnützigen Zwecken für die
Gemeinden, in deren Bezirk die Wirtschaft besteht, benutzt und wird nament¬
lich für solche Einrichtungen verwandt, die wie Lesezimmer, Kegelbahn und
dergleichen dazu dienen, den ständigen Kneipenbesuch der Ortsbewohner mehr
und mehr entbehrlich zu machen.

Wer möchte nicht, wenn er von diesen englischen Neformgasthäusern liest,
auch manchem deutschen Orte ähnliche Wirtshalisvcrhültnisse wünschen? Nament¬
lich wäre vielen unsrer Kleinstädte und Dorfgemeinden, wo Fabrikarbeiter oder
Bergleute der Hauptteil der Bevölkerung sind, sicherlich damit gedient.


W. P lessing


Maria von Magdala

aria, der Stern von Magdcila, des bösesten und geizigsten
Mannes von Magdala Ehefrau, ist ihrem Gatten entlaufen und
hat ihr glück- und liebehlmgriges Herz nach Jerusalem getragen.
Sie war fünfzehn Jahre alt, als sie nach dem Willen des
harten Vaters dem um vierzig Jahre ältern Manne ihre Hand
reichen mußte. Drei qualvolle Jahre hatte sie es in der unnatürlichen Ver¬
bindung ausgehalten, dann vermochte sie die Last nicht länger zu tragen. Und
doch war es nicht, wie sie sich Wohl einredete, die Erbitterung über die ihr un¬
getane Schmach allein gewesen, was sie von zuhause weggetrieben hatte, auch
andres hatte dazu mitgewirkt. Sie hatte nach dein Baum hinübergeschant, von
dem es heißt, daß gut von ihm zu essen wäre und lieblich anzusehen, daß es ein
lustiger Beinen wäre, weil er klug machte. Frei wollte sie leben, den Hunger
der Sinne stillen, alle Freuden der Jugend genießen und uicht nach morgen
fragen, nicht fragen, ob sie morgen vielleicht hassen werde, was sie heute geliebt
hatte. Nicht erst in Jerusalem, schon in mancher Stunde ihres traurigen Ehe¬
lebens -- anders können wir ihren schnellen Niedergang nicht begreifen --- hatte
sie sehnsüchtig von einem wunderbaren Glück geträumt und die Arme danach aus-


Maria von Nagdala

Nach den neuesten Berichten ans England bestehn jetzt in Großbritannien
und Irland mehr als siebzig Gasthäuser unter gemeinnütziger Verwaltung.
Voll ihnen kommen vierunddreißig ans die schon 1896 gegründete Volks-
erfrischungsgesellschaft des Bischofs von Ehester, die nationalen Charakter trügt.
Die übrigen stehn meist unter den für einzelne Städte oder Bezirke ge¬
gründeten Vertrauensgesellschnften, die durch Lord Grey ins Leben gerufen
worden sind. Es gibt schon siebenunddreißig solcher Vertrauensgesellschaften,
von denen einzelne zwar noch kein Gasthaus besitzen, andre erst einige Häuser
gegründet haben; eine Gesellschaft hat es schon auf sieben Häuser gebracht.

Trotzdem daß an dem Grundsatz festgehalten wird, den Betrieb nicht darauf
zuzuschneiden, daß an vermischenden Getränken möglichst viel, sondern möglichst
wenig genossen wird, haben die Wirtschaften doch ant verdient. Nach den
mitgeteilten Bilanzen für 1901 kann man neben der fünfprozentigen Ver¬
zinsung des Anlagekapitals und nach den üblichen Abschreibungen noch einen
bedeutenden Gewinn verzeichnen. Er wird zu gemeinnützigen Zwecken für die
Gemeinden, in deren Bezirk die Wirtschaft besteht, benutzt und wird nament¬
lich für solche Einrichtungen verwandt, die wie Lesezimmer, Kegelbahn und
dergleichen dazu dienen, den ständigen Kneipenbesuch der Ortsbewohner mehr
und mehr entbehrlich zu machen.

Wer möchte nicht, wenn er von diesen englischen Neformgasthäusern liest,
auch manchem deutschen Orte ähnliche Wirtshalisvcrhültnisse wünschen? Nament¬
lich wäre vielen unsrer Kleinstädte und Dorfgemeinden, wo Fabrikarbeiter oder
Bergleute der Hauptteil der Bevölkerung sind, sicherlich damit gedient.


W. P lessing


Maria von Magdala

aria, der Stern von Magdcila, des bösesten und geizigsten
Mannes von Magdala Ehefrau, ist ihrem Gatten entlaufen und
hat ihr glück- und liebehlmgriges Herz nach Jerusalem getragen.
Sie war fünfzehn Jahre alt, als sie nach dem Willen des
harten Vaters dem um vierzig Jahre ältern Manne ihre Hand
reichen mußte. Drei qualvolle Jahre hatte sie es in der unnatürlichen Ver¬
bindung ausgehalten, dann vermochte sie die Last nicht länger zu tragen. Und
doch war es nicht, wie sie sich Wohl einredete, die Erbitterung über die ihr un¬
getane Schmach allein gewesen, was sie von zuhause weggetrieben hatte, auch
andres hatte dazu mitgewirkt. Sie hatte nach dein Baum hinübergeschant, von
dem es heißt, daß gut von ihm zu essen wäre und lieblich anzusehen, daß es ein
lustiger Beinen wäre, weil er klug machte. Frei wollte sie leben, den Hunger
der Sinne stillen, alle Freuden der Jugend genießen und uicht nach morgen
fragen, nicht fragen, ob sie morgen vielleicht hassen werde, was sie heute geliebt
hatte. Nicht erst in Jerusalem, schon in mancher Stunde ihres traurigen Ehe¬
lebens — anders können wir ihren schnellen Niedergang nicht begreifen -— hatte
sie sehnsüchtig von einem wunderbaren Glück geträumt und die Arme danach aus-


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[0463] Maria von Nagdala Nach den neuesten Berichten ans England bestehn jetzt in Großbritannien und Irland mehr als siebzig Gasthäuser unter gemeinnütziger Verwaltung. Voll ihnen kommen vierunddreißig ans die schon 1896 gegründete Volks- erfrischungsgesellschaft des Bischofs von Ehester, die nationalen Charakter trügt. Die übrigen stehn meist unter den für einzelne Städte oder Bezirke ge¬ gründeten Vertrauensgesellschnften, die durch Lord Grey ins Leben gerufen worden sind. Es gibt schon siebenunddreißig solcher Vertrauensgesellschaften, von denen einzelne zwar noch kein Gasthaus besitzen, andre erst einige Häuser gegründet haben; eine Gesellschaft hat es schon auf sieben Häuser gebracht. Trotzdem daß an dem Grundsatz festgehalten wird, den Betrieb nicht darauf zuzuschneiden, daß an vermischenden Getränken möglichst viel, sondern möglichst wenig genossen wird, haben die Wirtschaften doch ant verdient. Nach den mitgeteilten Bilanzen für 1901 kann man neben der fünfprozentigen Ver¬ zinsung des Anlagekapitals und nach den üblichen Abschreibungen noch einen bedeutenden Gewinn verzeichnen. Er wird zu gemeinnützigen Zwecken für die Gemeinden, in deren Bezirk die Wirtschaft besteht, benutzt und wird nament¬ lich für solche Einrichtungen verwandt, die wie Lesezimmer, Kegelbahn und dergleichen dazu dienen, den ständigen Kneipenbesuch der Ortsbewohner mehr und mehr entbehrlich zu machen. Wer möchte nicht, wenn er von diesen englischen Neformgasthäusern liest, auch manchem deutschen Orte ähnliche Wirtshalisvcrhültnisse wünschen? Nament¬ lich wäre vielen unsrer Kleinstädte und Dorfgemeinden, wo Fabrikarbeiter oder Bergleute der Hauptteil der Bevölkerung sind, sicherlich damit gedient. W. P lessing Maria von Magdala aria, der Stern von Magdcila, des bösesten und geizigsten Mannes von Magdala Ehefrau, ist ihrem Gatten entlaufen und hat ihr glück- und liebehlmgriges Herz nach Jerusalem getragen. Sie war fünfzehn Jahre alt, als sie nach dem Willen des harten Vaters dem um vierzig Jahre ältern Manne ihre Hand reichen mußte. Drei qualvolle Jahre hatte sie es in der unnatürlichen Ver¬ bindung ausgehalten, dann vermochte sie die Last nicht länger zu tragen. Und doch war es nicht, wie sie sich Wohl einredete, die Erbitterung über die ihr un¬ getane Schmach allein gewesen, was sie von zuhause weggetrieben hatte, auch andres hatte dazu mitgewirkt. Sie hatte nach dein Baum hinübergeschant, von dem es heißt, daß gut von ihm zu essen wäre und lieblich anzusehen, daß es ein lustiger Beinen wäre, weil er klug machte. Frei wollte sie leben, den Hunger der Sinne stillen, alle Freuden der Jugend genießen und uicht nach morgen fragen, nicht fragen, ob sie morgen vielleicht hassen werde, was sie heute geliebt hatte. Nicht erst in Jerusalem, schon in mancher Stunde ihres traurigen Ehe¬ lebens — anders können wir ihren schnellen Niedergang nicht begreifen -— hatte sie sehnsüchtig von einem wunderbaren Glück geträumt und die Arme danach aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/463>, abgerufen am 22.07.2024.